KREISGEMEINSCHAFT BRAUNSBERG (OSTPREUSSEN)

Franz Buchholz: Braunsberg im Wandel der Jahrhunderte (Festschrift vom Stadtjubiläum 1934)


IX. Bis zum Weltkrieg


Unglück und Not zwingen zur Selbstbesinnung, wecken oft schlummernde Kräfte zu ungeahnter Aktivität. Auch im preußischen Staate erwuchs aus den Ruinen des Zusammenbruchs neues verheißungsvolles Leben, entfalteten sich in den regeren Bevölkerungsschichten erstaunliche Energien.

Am 30. Juni 1808 taten sich Königsberger Patrioten zu einem sittlich-wissenschaftlichen Verein, dem sog. Tugendbund, zusammen, der die Förderung des Schulwesens, der Kunst und Wissenschaft, der körperlichen Kraft und Gewandtheit, der Sittlichkeit und religiösen Gesinnung bezweckte, im Endziele aber einer nationalen Erneuerung und einer Befreiung aus den Ketten des Tilsiter Schmachfriedens zustrebte. Noch im selben Jahre traten mehrere Braunsberger Honoratioren dem Tugendbunde bei, und am 8. April 1809 gründeten 199 36 Herren unter dem Vorsitz des Majors von Rochelle in der Passargestadt einen Zweigverein, der bald auf 63 Mitglieder anwuchs. Offiziere, Akademiker, Ratsherren, Kaufleute waren es hauptsächlich, die unter dem Wahlspruch „Gott, König und Vaterland!" in 6 Sektionen ihre gemeinnützige Wirksamkeit aufnahmen und zu monatlicher Generalversammlung und Geselligkeit zusammenkamen.

Scheiterte auch die geplante Errichtung einer Militärschule für angehende Fähnriche, so begann man doch im Juli mit gymnastischen und militärischen Hebungen, an denen sich bald 60 Jungen beteiligten. So turnte man in Braunsberg schon ein Jahr, bevor der Turnvater Jahn auf der Hasenheide damit anfing. Am 1. Mai wurde eine Industrieschule für Mädchen eröffnet, die schon nach Monatsfrist 106 Schülerinnen zählte und diese durch Damen in vielen weiblichen Handarbeiten unterrichten ließ. Aus ihr entwickelte sich Anfang 1811 eine Töchterschule mit wissenschaftlichem Unterricht, die Vorgängerin der 1846 entstehenden kath. und evg. höheren Mädchenschule und der seit Ostern 1922 städtischen Elisabethschule. In einer Zeichenschule bemühte sich besonders der Kassierer des Oestreichschen Handelshauses Höpffner, junge Handwerker und Soldaten auszubilden. Die Einrichtung einer Kunstschule und Sonntagsschule für Handwerker wurde erwogen, wenn auch nicht verwirklicht.

In diesen regen pädagogischen Unternehmungen des Tugendbundes wirkten sich die neuen Ideen und Methoden Pestalozzis und Zellers aus, deren begeisterter Apostel der 1771 in Breslau gebürtige Kornelius Burgund war, ein früherer Prämonstratensermönch, der aus dem Orden ausgetreten und 1801 zu pädagogischen Studien nach Berlin gegangen war und nach kurzer Tätigkeit als Seminardirektor in Lowicz seit 1808 dem Lehrkörper des Gymnasiums angehörte. Er war es auch, der am 1. Juni 1809 das „Braunsberger Wochenblatt", die erste Ortszeitung, ins Leben rief und leitete, das er zum „ermländischen Provinzialblatt" auszubauen hoffte. Dadurch wurde der Buchdrucker Feyerabend veranlaßt, sich in Braunsberg niederzulassen und eine eigene Presse zu eröffnen. Freilich stellte das Organ schon im nächsten Jahre sein Erscheinen ein, weil die Zeit für ein solches Unternehmen noch nicht reif war und der Herausgeber nicht den inneren Kontakt mit dem gewünschten Leserkreis finden konnte.

Wie weit sich die fortschrittliche, gemeinnützige Arbeit des Tugendhundes erstreckte, mag noch daraus ersehen werden, daß man die Anlage von Baumschulen zu Verschönerungen betrieb, dem Kartoffelbau besondere Aufmerksamkeit zuwandte, ein Bürger-Rettungs-Institut für Handwerkerkredit, eine Badeanstalt, öffentliche Aborte u. a. plante. Der königliche Auflösungsbefehl vom 31. Dezember 18N9, der durch das Mißtrauen der französischen Gewalthaber erzwungen worden war, machte dem Tugendbund und den meisten seiner Bestrebungen ein Ende.

Noch kurz vorher, am 16. Dezember 1809 ernteten die Braunsberger Mitglieder die verdiente Anerkennung. Nach dreijährigem Aufenthalt in Ostpreußen kehrten König Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise nach Berlin zurück und berührten an diesem Tage morgens um 9 Uhr unter dem Geläute aller Glocken Braunsberg. Die Garnison war in Parade auf dem altstädtischen Markt aufmarschiert; daher wurden die hohen Gäste in das Seeligersche Haus geladen. Hier ließen sie sich die Abordnungen des Bistums und der städtischen Körperschaften vorstellen und wurden durch Handarbeiten der Industrieschule erfreut. Königin Luise erhielt auf weißen Kissen einige Ridiculs (Arbeitstäschchen), 2 Kindermützen, 1 Paar seidene Kinderschuhe, ein Paar wollene Schuhe und 3 Tock Garn; sie erkundigte sich nach den Verfertigerinnen der Gegenstände, lobte sie und versprach, sie als dauerndes Andenken gern gebrauchen zu wollen. Durch den Geheimrat von Auerswald ließ sie später der Schule 10 Louisdor (150 RM) überweisen. Dem König wurde von einer Schülerin eine seidene Börse mit eingesticktem Eichenlaub und der Inschrift: „Die Töchter Braunsbergs dem Vater des Vaterlandes" überreicht. Mit dem Ausdruck des Dankes sprach der König seine Anerkennung über die Begründung solcher gemeinnützigen Anstalten aus.

Durch einschneidende neue Gesetze hatte auch die königliche Regierung ihren Reformwillen bewiesen. Die Städteordnung vom 10. November 1808 berief die Bürger zu freier, verantwortungsbewußter Arbeit zum Wohle der Gemeinden. Am 23. März 1809 morgens 9 Uhr versammelten sich die bisherigen von der Regierung ernannten Magistratspersonen und die nunmehr durch das Vertrauen der Mitbürger gewählten Stadtverordneten im großen Saale des Rathauses. Nachdem der kgl. Kommissar Hagen auf die Bedeutung der Selbstverwaltung hingewiesen hatte, bewegte sich der Zug unter Glockengeläute zur Pfarrkirche, wo nach dem Hochamt die Vereidigung des neuen Magistrates vorgenommen wurde. Der frühere Landrat von Willich wurde Bürgermeister, als Ratsherren standen ihm zur Seite die Bürger Schlattel, Bertram, Fischer, Schulz, Regenbrecht, Wasserzier, Vontheim, Langhanki, Grodd, Romahn, Kaninski und Chales. Nach einem Gebet für 201 das Königshaus und dem Tedeum lehrten die städtischen Körperschaften zum Rathaus zurück. Hier übertrug der Kommissar dem Magistrat die Polizeiverwaltung. Dann sprach im Namen der 38 Stadtverordneten ihr erster Vorsteher Kommerzienrat Oestreich, der die Städteordnung als das Heilmittel gegen den Verfall der Städte und den Keim künftigen Wohlstandes pries. „Eine richtige Anwendung derselben ist hierbei jedoch unerläßliche Bedingung: denn wir wollen es uns nicht verhehlen, daß hier neben dem Keime zu so vielem Guten, zugleich für Selbstsucht und ungezügelte Leidenschaft ein Zunder zum Parteikampf bereit liegt... Lassen Sie uns alle Persönlichkeiten (alles Persönliche) als ein tödliches Gift vermeiden. Dagegen leite uns bei allen Verhandlungen ein reiner Gemeingeist. Wir haben das Wohl einer braven Bürgerschaft zu besorgen, die es durch ihre Rechtlichkeit, Ordnungs- und Friedensliebe wohl wert ist, daß wir uns ihrem Dienst mit ausdauerndem Eifer widmen und so das in uns gesetzte Vertrauen rechtfertigen." Nach einem Hinweis auf die schweren Kriegsopfer der Stadt und einer Bitte an den Kommissar um Erleichterung ihres harten Schicksals schloß Oestreich seine gehaltvolle Rede, die er auf allgemeinen Wunsch dem Druck übergab, nicht aus Eitelkeit, wie er in seiner Widmung an den befreundeten Königsberger Präsidenten Friedrich Nikolovius ausführte, „denn wenn ich auch meine Fehler habe, so gehört, wie Sie wissen, die Begierde mich vor dem Publikum geltend zu machen, doch nicht zu den meinigen", sondern um den Erlös dem neuerrichteten Krankenhause zuzuwenden.

Dieses behandelte schon im ersten Jahre seines Bestehens 181 Patienten und gehörte zu den gemeinnützigen Einrichtungen, mit denen die neuerwachte bürgerliche Initiative dem Elend steuern wollte. Noch sei die Melioration der altstädtischen Wiesen aus den eisten Arbeiten der neuen Stadtverwaltung erwähnt.

Bewunderswert, wie der preußische Staat trotz seiner schweren Finanznot das an geistigen Kräften zu ersetzen wußte, was er an materiellen verloren hatte. In rechter Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung des Bildungswesens für den Wiederaufbau von Volk und Vaterland ließ die preußische Regierung auch dem darniederliegenden ermländischen Schulwesen ihre hilfsbereite Sorge angedeihen. Die alte Schulstadt Braunsberg war als Hauptstadt des Ermlandes der gegebene Platz für die neuen Lehranstalten. Zunächst wurde in dem früheren bischöflichen Schlosse ein staatliches Normal-Institut begründet, in dem Lehrer für die ermländischen Volksschulen im Geiste Pestalozzis herangebildet werden sollten. Als Kgl. Kommissar führte Oestreich die Oberaufsicht über diese Anstalt, deren Leitung Burgund übertragen wurde. Am 2. Juli 1811 erfolgte der festliche Eröffnungsakt, bei dem u. a. der Königsberger Oberschulrat Zeller über das Wesen der Normalinstitute sprach. Mit 25 Zöglingen begann die Schule ihre verdienstvolle Arbeit. Seit 1814 kgl. Erziehungsanstalt, seit 1825 Schullehrerseminar benannt, nahm sie eine gedeihliche Entwicklung. 1824 wurde ihr eine Übungsschule, 1850—78 eine Taubstummenschule angegliedert. Nachdem das alte unzureichende Schloß den wachsenden Bedürfnissen zum Opfer gefallen war, wurde an derselben Stelle mit Einbeziehung einiger denkmalswerter Bauteile ein Neubau aufgeführt, dessen Haupthaus i. J. 1874, die Seitenflügel i. J. 1876 bezogen werden konnten. Die staatliche Neugestaltung der Lehrerbildung setzte dem kath. Seminar, dessen pädagogische Ausstrahlungen weit über die Grenzen Ostpreußens reichten, am 13. März 1926 ein Ziel. Seither bietet das Gebäude der staatlichen Aufbauschule (Schloßschule) Unterkunft.

Noch im selben Jahre 1811 sah Oestreich seine wiederholten Eingaben an die Staatsbehörden wegen Reorganisation des Braunsberger Gymnasiums von Erfolg gekrönt. Die königliche Kabinettsordre vom 11. Dezember 1810 gab ihm die verheißungsvolle Antwort: „Ich werde auf die Erfüllung des Wunsches um so lieber Bedacht nehmen, da es Meiner Neigung gemäß ist, solche gemeinnützige Zwecke zu befördern und Meinen guten ermländischen Untertanen Beweise Meines Wohlwollens zu geben." Die materiellen Vorbedingungen wurden dadurch erfüllt, daß sechs ermländische Domherrnstellen mit Genehmigung des hl. Stuhles aufgehoben und deren Einkünfte dem nunmehr staatlichen Gymnasium überwiesen wurden. Zum ersten Direktor der reorganisierten Anstalt wurde der geistliche Professor Heinrich Schmülling aus Münster berufen, mit dem Amte eines Kurators für die Vermögens-Verwaltung Kommerzienrat Oestreich betraut. Sonntag, 29. Dezember 1811 fand die feierliche Eröffnung der Schule statt. Der kgl. Kommissar Delbrück hielt eine richtunggebende Ansprache über das Thema: „Im Geiste des echten Protestantismus liegt nichts, was der Achtung des echten Katholizismus widerstrebt." Dann zeichnete der neue Direktor in lateinischer Rede den durch Wissenschaft und Herzensbildung zu erziehenden Jüngling. Ein Preislied auf den König beschloß diesen Teil der Feier. Nun begab sich unter Glockengeläute ein langer Festzug zur Pfarrkirche: voran eine militärische Begleitung, dann die Pfarrschule, das 203 Normalinstitut, die Schüler des Gymnasiums mit ihren Fahnen und die Lehrer in ihrer Amtstracht, Frack mit schwarzseidenen Kniehosen, schwarzseidenen Strümpfen, Schnallenschuhen, seidenem Mäntelchen und dreieckigem Faltenhut. Nun folgte der kgl. Kommissar Delbrück inmitten des Kurators und Direktors und dann die anderen Ehrengäste, zum Abschluß wieder Militär. In der Kirche hielt Weihbischof von Hatten ein von voller Instrumental- und Vokalmusik begleitetes Hochamt mit folgendem Tedeum. Die zur Feierlichkeit geladenen 81 Gäste nahmen an dem Diner im Deutschen Hause teil, zu dem der alte Oestreich den Wein stiftete.

 

Johann-Heinrich Schmülling (1774  - 1851)

Lehrer am Paulinum (Gymnasium) in Münster, Direktor des königlich preußischen Gymnasiums in Braunsberg/ Ermland, Professor der Philosophie am Lyceum „Hosianum“ in Braunsberg und Professor für neutestamentliche Exegese an der Akademie in Münster, Regens des Priesterseminars in Münster, Ehrendoktor der Theologie und der Philosophie durch die Universität in Münster. Schmülling reformierte das Braunsberger Gymnasium.
 

Im Januar 1812 wurde der Unterricht mit 94 Schülern in 5 Klassen aufgenommen. Außer dem Direktor wirkten zunächst 5 ordentliche Lehrkräfte, von denen nur einer ein Ermländer war. Die Anstalt, von einem ausgezeichneten Pädagogen geleitet, erfreute sich bald verdienter Schätzung und weitreichenden Zuzugs, so daß schon i. J. 1824 315 Schüler gezählt wurden. Auch der Neudecker Landschaftsdirektor Louis von Benekendorf-Hindenburg vertraute seinen Sohn Robert, den Vater unseres Reichspräsidenten Generalfeldmarschalls von Hindenburg, i. J. 1829 dem Braunsberger Gymnasium an, bis Robert i. J. 1832 als Fahnenjunker in das Posener Infanterie-Regiment Nr. 18 eintrat. Oestreich betreute in hingebender ehrenamtlicher Tätigkeit bis 1827 nicht nur die äußeren Verwaltungsgeschäfte, sondern auch seit 1817 eine Hilfskasse für bedürftige Gymnasiasten, für die er eifrig warb, und die Kapitalien der testamentarisch gestifteten Seeligerschen Erziehungsanstalt, die 1829 für 8 Gymnasiasten beider Konfessionen eröffnet wurde. Der berühmte Mathematiker Karl Theodor Weierstraß wirkte von 1848—55 als Lehrer an der Anstalt, bis die gelehrte Welt auf seine geniale Funktionenforschung aufmerksam wurde und er einem ehrenvollen Rufe nach Berlin folgte. 1822 wurde ein Direktor- und Lehrerwohnhaus auf der Nordostecke des Schulhofes errichtet, 1861/62 die Gymnasialkirche, 1868 die Aula und 1871 die Turnhalle erbaut. Die schon vor dem Weltkriege beantragte Angliederung einer Realabteilung wurde i. J. 1922 für die Mittelstufe bewilligt. Die steigende Schülerfrequenz, die zu Ostern 1928 unter Studiendirektor Dr. Jüttner die Höchstzahl von 447 erreichte, erwirkte i. J. 1930 die Erhebung der Schule zur großen Doppelanstalt und i. J. 1932 den Neubau eines modernen Erweiterungsflügels, der Ostern 1934 bezogen werden konnte.

Karl Theodor Weierstraß (1815 - 1897), deutscher Mathematiker, in Braunsberg von 1848 - 1855

Weierstraß schuf für Funktionstheorie und elliptische Funktionen neue Grundlagen, löste das Umkehrproblem für die Abelsche Integrale, lieferte Beiträge zur Variationsrechnung, gab ein Beispiel einer stetigen, nicht differenzierbaren Funktion. Hier ein Bild, wie W. etwa ausgesehen haben mag. als er in Brunsberg war.

 

Wilhelm Killing (1847 - 1923), deutscher Mathematiker

Nach dem Studium in Münster (1865/66) und in Berlin (1867/68) promovierte er 1872 bei Karl Theodor Weierstraß mit einer Dissertation mit dem Titel Der Flächenbüschel zweiter Ordnung über die Anwendung der Elementarteiler einer Matrix auf Oberflächen. Von 1868 bis 1892 unterrichtete Killing an Schulen in Berlin, Brilon und Braunsberg; 1892 wurde er Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Mit 39 Jahren trat Killing dem Dritten Orden der Franziskaner bei. Killing publizierte über nicht-Euklidische Geometrie in n Dimensionen (1883), diee Erweiterung des Begriffs Raum, mit der Klassifikation der einfachen Lie-Algebren (1886) und über Lie-Gruppen. In seiner Forschung über Nicht-Euklidische Geometrie erfand Killing gegen 1870 unabhängig von Sophus Lie die Lie-Algebra. Er führte die Cartan-Subalgebra, die Cartan-Matrix und die Idee des Wurzelsystems ein. Auf Killing geht auch die Bezeichnung charakteristische Gleichung einer Matrix zurück.

 

Napoleons russischer Feldzug brachte dem Ermland i. J. 1812 schwere Lasten. Obwohl das Jahr 1811 eine Mißernte geliefert hatte, mußten für das durch Ostpreußen marschierende Riesenheer gewaltige Proviantmengen beigeschafft werden. Am 11. April hielt der Verpflegungsdirektor des Braunsberger Kreises von Willich eine Beratung mit den Gemeindevertretern, um zunächst durch freiwillige Beiträge die Magazine zu füllen. Da das Ergebnis naturgemäß ein ganz ungenügendes war, wurden Zwangslieferungen befohlen, für die auch in Braunsberg ein Magazin für Mehl, Hafer, Heu und Stroh eingerichtet wurde. 5 Feldbäckereien für je 500 Brote wurden erbaut. Seit Anfang Mai fluteten nun in fast unaufhörlicher Folge Teil des ersten Korps des Marschalls Davoust durch die Stadt. Ein buntes Gemisch der verschiedensten Völker, unter ihnen auch Deutsche. Nicht wie Verbündete, sondern als rücksichtslose Eroberer traten ihre Führer und vielfach auch die Mannschaften auf. Die Tagesration für den Unteroffizier und Gemeinen betrug 900 Gr. Brot, 300 Gr. Rindfleisch, 60 Gr. Reis oder 120 Gr. Hülsenfrüchte, 1/60 Klgr. Salz, 1 Liter Bier, 1/16 Liter Branntwein; für Offiziere das Mehrfache, z. B. Divisionsgeneräle das Achtfache. Für die Pferde wurden 2 Rationen bestimmt, eine größere (2 3/4 Metzen Hafer, 13 Pfund Heu, 8 Pfd. Stroh) für die schwere Reiterei, wie Kürassiere, Dragoner, Karabineurs, Artillerie, die kleinere (4 Pf. Heu weniger) für leichte Kavallerie, wie Husaren, Jäger, Bagage u. a. Da aber die vollen Portionen oft nicht beigeschafft werden konnten, wurden die Quartiergeber herangezogen; und wenn die Truppen über diese Sonderleistungen auch Quittungen ausstellen sollten, so unterblieb es doch meist. Oft genug ließen die fremden Gäste in ihrem Logis allerlei mitgehen. In Auhof lagerten an einem Tage 88 Mann und 160 Pferde, die Felder wurden abgeweidet, 6 Pferde und 10 Zentner Heu mitgenommen. Noch Anfang August bezogen 4000 Mann des Victorschen Korps für drei Tage in der Stadt Quartiere. Napoleon selbst passierte am 12 Juni nachmittags gegen 3 Uhr unter dem Geläute aller Glocken die Stadt, hielt am Rathaus, blieb aber im Wagen und setzte nach einigen Minuten seine Fahrt nach Königsberg fort — seinem Schicksal entgegen.

Nach der furchtbaren Katastrophe der grande armée in Moskaus Flammenmeer und Rußlands Schneewüste erreichten Ende November die ersten der flüchtigen Franzosen das Weichbild der Stadt. Hören wir den Bericht des Augenzeugen Direktor Schmülling: „Aber was sahen wir für eine Kolonne anrücken? Erst einige Generäle im Wagen, und dann 14 Tage hindurch das wandernde Elend selbst. Fast gar keine Waffen, die Arme untereinandergeschlagen und mühsam sich fortschleppend 205 oder halb erfroren auf Schlitten kamen sie herangezogen, keine Bedeckung als die am Biwakfeuer durchlöcherten und zerfetzten Kittel. . . Wir erwarteten mit Angst das Korps von Macdonald; denn die Lage von Braunsberg eignet sich zu gut für eine militärische Disposition. Am 6. Januar rückte nun das Korps hier ein. In hastiger Flucht kam alles heran und hindurch gezogen. Da sich einige Tage vorher ein Trupp polnischer Kavallerie unter unserm (Gymnasiums)-Korridor gelagert hatte, die aber bald wieder abgezogen waren, so wollte ich mit Erlaubnis des Landrats von Willich den Schulplatz verschließen lassen, damit leine ungebetenen Gaste herkämen; aber ich konnte nicht durch das Gedränge von Kanonen, Infanteristen und Kavalleristen. Ich ging wieder zu Hause; da drängte es aber so stark am Tore, daß ich mußte öffnen lassen, — 100 Pferde wurden herausgebracht, ungefähr 10 Mann quartierten sich in den unteren Stuben ein. Ein großes Feuer wurde gerade vor der Gymnasiumtüre angelegt. Doch als ich die Küche einräumte und bei den Pferden Lichte versprach, so ward es für diese Nacht erlöscht; aber die folgenden Nächte mußte es lodern. Wenn wir nur Bier und Branntwein hergaben, so waren sie zufrieden, aber da man am letzten Tage auch für Geld nichts bekommen konnte, so drohte man dem Monsieur directeur die Türe einzuschlagen und einen Besuch abzustatten. Ich suchte für die folgende Nacht etwas Vorrat herbeizuschaffen; und da war ich gleich wieder un brave homme (ein guter Mensch); doch mußte ich sehr oft den Reim Russien et Prussien (Russe und Preuße) hören. Des Nachts war Braunsberg fürchterlich anzusehen. Hoch strahlten am ganzen Horizont und rund um uns her die Wachefeuer. Nahe im Walde zeigten sich die Wachtfeuer der Kosaken. Jeden Augenblick war die Stadt in Gefahr, in einen Aschehaufen verwandelt zu sehen; Säcke zum Einpacken des wohl verwahrten Gymnasiumsschatzes lagen stets bereit. Wie froh ward ich, als den 8. um 11 Uhr in der Nacht der Marschall de logis mir sagte, daß sie abziehen würden. Bald darauf ward die Brandglocke gelautet, doch bald hörten wir, daß das Feuer nur einen Zaun ergriffen habe und wieder gelöscht sei. Unter Qualm und Flammen zogen sie in finsterer Nacht ab und zündeten nahe vor dem Tore Heu und Stroh an, was sie nicht mitnehmen konnten. Die beiden Brücken zwischen der Altstadt und Vorstadt wurden in Brand gesteckt. Bald darauf rückten die Kosaken über die gefrorene Passarge und kamen durch das Obertor in die Altstadt, nachher am Tage durch das Schloßtor. Die Kinder riefen ihnen Hurrah! entgegen, und die ganze Stadt genoß wieder eine Ruhe, die wir lange entbehrt hatten . . ." Die kühne Freiheitstat Yorcks entfachte jene vaterländische Bewegung, der sich auch der zaghafte König nicht verschließen konnte. Am 3. Februar erließ dieser von Breslau aus einen Aufruf zur Bildung freiwilliger Jägerkorps. Am 7. Februar beschlossen die ostpreußischen Stände in Königsberg die Bewaffnung einer Landwehr und eines Landsturms. Am 17. März forderte der zündende Aufruf des Königs „An mein Volk" zum letzten Entscheidungskampf auf.

Schon am 14. März entließ das Gymnasium seine älteren Schüler, die sich begeistert zu den Waffen drängten. Oberlehrer Dr. Gerlach gab den patriotischen Gefühlen der Abschiedsstunde beredten Ausdruck. „Von allen Leiten des preußischen Staats wetteifern die Einwohner durch Anstrengungen jeder Art ihren Sinn an den Tag zu legen; in allen erwacht die Begeisterung für König und Vaterland, der kein Opfer zu schwer ist. Was in diesem Geiste begonnen wird, muß gut enden. Dafür bürgt die gleiche Gesinnung aller, dafür die großen Anstalten, die getroffen werden, dafür der Mut und die Ausdauer des russischen Heeres, das siegreich schon in Deutschland steht, dafür die Entkräftung und das geschwächte Zutrauen des französischen Volles; dafür bürgt vor allem der stets wache Geist im Lauf der Dinge, der jeden steigen läßt, bis sein Maß voll ist."

Für die Landwehr hatte die Stadt nach der beschlossenen Verhältniszahl (1/45) 116 Mann zu stellen. Da keine freiwilligen Meldungen erfolgten, entschied das Los. 90 Infanteristen aus der Stadt und 9 aus den städtischen Dörfern wurden im April aus kommunalen Mitteln mit grauen Mänteln, Kamisolen (Waffenröcken), Patronentaschen u. a. nach eingeschickten Mustern ausgerüstet; aus wohlhabenderen Familien wurden 5 Kavalleristen aus der Stadt und 1 vom Lande bestimmt, die sich selbst mit ihrem Pferd equipieren sollten. Es war übrigens den Ausgelosten gestattet, Ersatzmänner zu stellen; so übernahm einer die Stellvertretung gegen eine monatliche Vergütung von 2 Talern für sich und 1 Taler für seinen Vater. Wir finden die Braunsberger Landwehrleute im Lager vor Danzig, von ihrer Vaterstadt mit Leinwand, Scharpie, Hemden, Socken» schließlich sogar mit Lebensmitteln versorgt, bis die von General Rapp zäh verteidigte Seestadt zu Neujahr 1814 kapitulieren mußte.

Landschaftsrat von Schau-Korbsdorf hatte als Präsident der 4. Spezialkommission die Organisierung der Landwehr wie des Landsturms des Braunsberger Kreises unter sich. Für den 207 Landsturm waren in Braunsberg 638 Mann unter 50 Jahren dienstpflichtig, die in einer Eskadron, einer Schützenkompagnie und 4 Infanteriekompagnien in militärischen Übungen, Märschen, Wachtdienst und Patrouillen notdürftig ausgebildet wurden. Selbst 16jährige Gymnasiasten reihten sich mit Begeisterung in diese mehr durch guten Willen als durch soldatische Leistungen ausgezeichnete Phalanx ein, deren Arbeitsrock der rote Kragen zur Uniform stempelte, die mit Stolz die Landsturmmütze und den Schießprügel oder die Pike trugen. Gelegentlich nahm der Oberkommandant von Schau eine Besichtigung ab, und bei der Durchreise der Zarin Elisabeth am 16. Januar 1814 durften sie tüchtig Hurra schreien und den hohen Gast einholen und geleiten.

Die Opfer der Befreiungskriege brachten dem preußischen Vaterlande ein halbes Jahrhundert friedlicher Entwicklung, und das war um so notwendiger, als die schwere Kriegszeit sich trotz des Endsieges noch jahrzehntelang lähmend auf die Volkswirtschaft auswirkte. Die Verschuldung des Staates, der Gemeinden und Privatleute war sehr bedeutend, es fehlte an Kapital und Kredit, daher mangelte es an Aufträgen und lohnendem Verdienst, Handel und Wandel stockten, Konkurse vertrieben namentlich viele Rittergutsbesitzer von ihrer ererbten Scholle. So kamen auch die Güter Rodelshöfen und Rosenort der früher so wohlhabenden Familie von Hanmann i. J. 1816 unter Sequester. Infolge der Gesetze über die Bauernbefreiung wurde in den 2Ner Jahren die Erbuntertänigkeit der Bauern in den Stadtdörfern Huntenberg, Stangendorf und Willenberg aufgehoben; dabei verpflichteten sich die Hofbesitzer zur Zahlung einer Ablösungsrente an die Kämmereikasse und erlangten dadurch volles Eigentumsrecht und bildeten fortan selbständige Gemeinden.

Als Garnison beherbergte Braunsberg seit 1809 ein Füsilierbataillon wechselnder Regimenter, das weiter in Bürgerquartieren untergebracht war und im Exerzierschuppen auf der Teichstraße ausgebildet wurde. „Zum Zwecke geselliger Unterhaltung im Kreise gebildeter Teilnehmer" wurde aus Offizierskreisen und den Honoratioren der Stadt i. J. 1817 eine Ressource gegründet, die zunächst in Mietsräumen, seit 1839 in dem von Baurat Bertram auf dem alten Hospitalplatz errichteten Kasino ihre Zusammenkünfte hatte. Auf breiter bürgerlicher Grundlage griff die 1825 gestiftete Schützengilde eine alte wehrhafte Übung auf, wobei das Scheibenschießen mit der Büchse an die Stelle des früheren Vogelschießens mit der Armbrust trat.

Den unermüdlichen Bemühungen des edlen ermländischen Bischofs Joseph von Hohenzollern, dem Kommerzienrat Oestreich und Direktor Schmülling aufs eifrigste sekundierten, war es zu verdanken, daß durch königliche Kabinettsordre vom 19. Mai 1818 in Braunsberg eine staatliche Hochschule für den Klerus der Diözese Ermland gestiftet wurde. Lange war von den maßgebenden Regierungsstellen der Plan erwogen worden, die kath. Theologiestudenten Ostpreußens der Universität Breslau anzugliedern oder auch an der Königsbeiger Albertina einige Lehrstühle für katholische Theologie zu errichten. Indem schließlich die seelsorglichen und pädagogischen Auffassungen und Wünsche des Ermlandes Berücksichtigung fanden, wurde in der Passargestadt in neuer Form an eine jahrhundertealte Tradition angeknüpft, erhielt das reiche Bildungswesen des Ortes seine Krönung. Das Organisationsstatut des zum ehrenden Gedächtnis des ersten Gründers benannten Kgl. Lyzeum Hosianum schuf i. J. 1821 eine theologische und eine philosophische Fakultät, die planmäßig aus je vier Professuren bestehen sollten. Die Verfassung entsprach der der Volluniversitäten. Der Oberpräsident von Ostpreußen fühlte die Oberaufsicht. 11 Jahre lang betreute Kommerzienrat als Kurator auch diese Lehranstalt und nahm an ihrem Aufblühen wie vorher an ihrer Gründung tätigsten Anteil. I. J. 1817 wurde das an die ehemalige Bursa anstoßende Haus, i. J. 1863 der Kuckeinsche Speicher zu Lehrzwecken und Professorenwohnungen vom Staate zurückgekauft. Die Hochschule vertauschte i. J. 1912 ihren bisherigen Namen mit dem einer Akademie. Die 1820 begründete Bibliothek wird seit 1919 hauptamtlich verwaltet und enthält rund 100 000 Werke. Unter den wissenschaftlichen Sammlungen verdienen das 1880 von Prof. Wilhelm Weißbrodt errichtete Archäologische Museum (am Hitlerplatz) und der von Prof. Franz Niedenzu 1893 angelegte Botanische Garten besondere Erwähnung. Die in ihren wissenschaftlichen Auswirkungen weit über die Grenzen des Ermlandes hinausreichende kath. Hochschule wird seit 1925 auch von Theologiestudenten der Diözese Danzig, seit 1932 von solchen der Administratur Schneidemühl aufgesucht.

Während der französischen Okkupation hatte die evangelische Gemeinde ihre Kirche, das ehemalige neustädtische Rathaus, zum Heeresmagazin einräumen müssen. Daher waren durchgreifende Erneuerungsarbeiten notwendig, als das Gotteshaus wieder seiner Bestimmung zugeführt werden sollte. Während der 16 Wochen der Renovierung wurde die katholische Trinitatiskirche der evangelischen Gemeinde überlassen. Die zunehmende Seelenzahl 209 ließ allmählich die bisherige Kirche als zu eng erscheinen; denn bei der staatlichen Erhebung der Gemeinde zur eigenen Pfarrei i. J. 1818 umfaßte sie bereits rund 1500 Seelen ohne die Militärgemeinde. Durch das Wohlwollen des Königs Friedrich Wilhelm III. wurde ihr im Mai 1828 die bedeutende Summe von 53196 Talern zum Bau der Kirchen-, Pfarr- und Schulgebäude aus Staatsfonds bewilligt. Eine mächtige Feuersbrunst hatte im Januar 1824 an der Königsbeiger Straße sehr geeignete Bauplätze freigelegt, und so konnten hier i. J.1829/30 das Pfarrhaus und die dreiklassige Schule errichtet werden. Der Grundstein zu der neuen Kirche wurde am 30. Mai 1830 in feierlicher Weise gelegt. Ein langer Festzug bewegte sich von der bisherigen Kirche zu der Baustelle: voran sämtliche evangelische Schülerinnen und Schüler, dann die Stadtkapelle und die Meister und Gesellen der verschiedenen Handwerke, die bei dem Kirchenbau beschäftigt wurden, mit ihren blumengeschmückten Werkzeugen und Abzeichen, sodann der Kirchenvorstand, dessen Vorsteher, Kaufmann Barth, auf einem blauseidenen Kissen die Urkunde für den Grundstein trug. Nun folgten der Vertreter der Königsberger Regierung Konsistorialrat Dr. Kähler, der Ortspfarrer Bock nebst 8 Amtsbrüdern, die Militär- und Zivilbeamten des Kreises und der Stadt, das Baukomitee, dann die Gäste und Gemeindemitglieder. Den Abschluß bildete eine Abteilung des Garnison-Bataillons in Paradeuniform. Zwischen dem neuen Pfarr- und Schulhaus sah man das begonnene Kirchengemäuer, umrahmt von jungen Tannen; ein mit Grün und Blumen umwundenes Gerüst deutete die Formen der beiden künftigen Türme an. Vor dem Portal stand eine Rednerbühne, von der aus Konsistorialrat Kähler über den Sinn der Feierstunde sprach. Erst im November 1837 konnte die nach Schinkels Plänen erbaute stattliche Kirche ihrer Bestimmung übergeben werden.

Nordseite des Altstädtischen Marktes (Steinhaus, Mönchentor, Post und barocke Patrizierhäuser) um 1835.

(Stich vermutlich von E. Höpffner auf dem Kopf eines Briefbogens im Ermländischen Museum.)

Im Verhältnis zu der katholischen Pfarrgemeinde fehlte es nicht an Spannungen. So erregte der Prozeß gegen den Erzpriester Andreas Schröter und seine Kapläne wegen Proselytenmacherei und Einmengung in Mischehen in den 20er Jahren weithin Aufsehen. Das Königliche Oberlandesgericht fällte im Mai 1826 das Urteil, daß Schröter „wegen dringenden Verdachtes, die evangelische Religionsgesellschaft durch entehrende Äußerungen beleidigt, auch in öffentlichen Reden die Erregung von Haß und Erbitterung unter der evangelische und katholische Religionspartei versucht zu haben, von seinem Posten als Erzpriester und Pfarrer auf eine andere Stelle zu versetzen und mit achtwöchentlichem Gefängnis zu bestrafen sei", während seine drei Kapläne zu je 5 Talern Untersuchungskosten verurteilt wurden. Die eingelegte Berufung führte im Mai 1827 zu der Erkenntnis zweiter Instanz, wonach sämtliche Angeklagten freigesprochen wurden und zum Ausdruck gebracht wurde, „daß zur Einleitung der betr. Untersuchung eigentlich kein Grund vorhanden gewesen sei."

Am 21. Oktober 1833 segnete Kommerzienrat Oestreich, „der Kaufmann von Braunsberg", nach vollendetem 83. Lebensjahre das Zeitliche. Auf dem Johannisfriedhof fand er seine letzte Ruhestätte. Über seinem Grabe erhebt sich eine mannshohe, oben abgestumpfe Pyramide aus Sandstein, deren lateinische Inschrift besagt, daß der hier Beerdigte, durch Geist, Tüchtigkeit und öffentliche Verdienste hervorragend, eine Zierde Braunsbergs, des Ermlandes und Preußens gewesen sei und sich ein Andenken gesichert habe dauernder als dieser Stein. Am Abend des 31. Oktober wurde auf dem Rathause eine Trauerfeier gehalten, bei der Gymnasialdirektor Gerlach zwischen ernsten Gesängen die Gedächtnisrede auf den Toten hielt. Die kgl. Regierung aber widmete seinem Andenken im Amtsblatte einen ehrenden Nekrolog, worin Oestreichs Leben und Wirken als ehrendes Beispiel zur Nacheiferung gerühmt wurde. „Er war ein Mann, auf den nicht bloß seine Vaterstadt stolz sein durfte, sondern den auch die Provinz zu ihren Zierden rechnete."
Das allmähliche Wachstum der Stadt Braunsberg mögen folgenden Zahlen dartun:

Jahr Einwohner   

1782- 4370
1843- 8355
1849- 8954
1852- 9608
1861-10164
1875-10796
1802 - 5111

1810 - 4520

1816 - 5046

1822 - 6069

1828 - 7260

1837- 7746

1880-11542
1890-10851

1900-12497

1910-13599

1916-12305

1920-14332

1933- 15353

Dabei blieb die Bevölkerung nicht von schweren Epidemien verschont. So forderte die Geißel der Cholera in der Zeit vom 19. September bis 15. November 1831 allein in der kath. Gemeinde 306 Opfer, i. J. 1866 264 und 1873 innerhalb 5 Wochen über 300. Von der Cholera des Herbstes 1848 lesen wir in einem Briefe, daß innerhalb 4 Wochen 270 Personen in der Stadt verstorben, daß der besonders gesuchte Arzt Dr. Jacobson eine Zeitlang 100 Besuche täglich zu machen hatte, von der des September 1852, daß in diesem Monat jeder 15 Einwohner verstarb. Jacobson wurde für seine menschenfreundliche 211 und erfolgreiche ärztliche Tätigkeit in den Cholerajahren von 1831—52 zum Ehrenbürger der Stadt ernannt. Auch der technische Lehrer Höpffner vom Gymnasium machte sich während dieser schweren Feiten durch seine gefahrverachtende, opferwillige Hilfe, mit der er namentlich den Armen und Waisen beisprang, besonders verdient und wurde vom Könige mit dem Allgemeinen Ehrenzeichen dekoriert. Auch sonst fehlte es nicht an Helden todesverachtender Nächstenliebe; so zeichnete die Stadt den Kaplan Anton Marquardt für seine furchtlose, allgemein anerkannte Caritas im Cholerajahre 1848 mit dem Ehrenbürgerrechte aus und erwirkte i. J. 1852 von der bischöflichen Behörde seine Versetzung von einer Landpfarre auf die Braunsberger Erzpriesterei.

 

Den wachsenden Erfordernissen der fortschreitenden Zeit trug seit Anfang 1840 das von Otto Model herausgegebene Braunsberger Wochenblatt Rechnung, das am 1. April 1841 von C. A. Heyne in das Braunsberger Kreisblatt umgewandelt wurde, seit 1859 zweimal, seit 1869 dreimal wöchentlich, seit 1907 täglich erschien, auch unter den städtischen Akademikern manchen geschätzten Mitarbeiter fand und eine Fülle lokal- und kulturgeschichtlich interessanter Nachrichten birgt. Seit Juli 1933 als Braunsberger Zeitung vom Amtlichen Kreisblatt getrennt, hat die älteste Ortszeitung unter dem Druck der Wirtschaftlichen Verhältnisse Ende 1932 ihr Erscheinen eingestellt.

 

Das nach Einweihung der neuen evangelischen Kirche freigewordene ehemalige neustädtische Rathaus wurde bald einem anderen Zwecke zugeführt: es wurde Stadttheater. Die stolze klassische Weiheaufschrift an der Straßenfront: Apolloni et Musis! (Apollo und den Musen) deutete auf die neue Bestimmung des Hauses hin, das fortan mehr oder minder guten Wandertruppen vorübergehenden Aufenthalt gewährte, bis es i. J. 1901 dem Neubau der Konditorei Tolksdorf (heute Bank der Ostpreußischen Landschaft) Platz machte.


Der Ausbruch der Pariser Februarrevolution d. J. 1848 riß auch Deutschland in den Strudel der Freiheitsbewegung hinein, und selbst in der stillen Passargestadt schlugen die neuen Ideen ihre Kreise. In den leidenschaftlichen Breslauer Märztagen hatte Friedlich Wilhelm IV. u. a. Volksbewaffnung und parlamentarische Wahlen zugestanden. Am 22. März wurde auch in Braunsberg eine Bürgergarde aus 800 Mann gebildet, deren Kern die Schützengilde war. Sie erhielt auf Antrag vom Kommandierenden General Grafen zu Dohna 400 Perkussionsgewehre aus dem Zeughause der städtischen Garnison zugewiesen und versah den Wacht- und Patrouillendienst zur Aufrechterhaltung der Ruhe, zumal seitdem am 26. April das Füsilier-Bataillon des 3. Infanterie-Regiments verlegt worden war. Bauinspektor Bertram war der Kommandeur der Bürgerwehr, die durch die Turmglocken alarmiert weiden sollte und eine eigene Standarte führte.

 

Am 1. Mai sollte die Wahl der Wahlmänner erfolgen. Unter dem agitatorischen Einfluß radikaler Führer schaffte sich die Unzufriedenheit der Arbeiter und Knechte über ihre bedrängte Lage, die geringen Löhne und die teuren Mieten und Lebensmittelpreise, die Konkurrenz auswärtiger Arbeiter u. a. gewaltsam Luft. Am Sonntag, dem 30. April rotteten sich Arbeitergruppen von etwa 200 Mann auf dem Vorstädtischen Markt zusammen, nahmen trotz der gütlichen Mahnungen des Kommandeurs der Bürgergarde eine drohende Haltung ein und begannen die als Klubhaus der Reichen verhaßte Ressource (Museumsgebäude) zu stürmen und zu demolieren. Indessen wurde die Bürgerwehr von der Wache herbeigeholt, viele freiwillige Bewaffnete schlossen sich ihr an, und nach einem kurzen und energischen Bajonettangriff „lagen die Tumultanten furchtbar zerstoßen und zerschlagen zu Boden, 19 Rädelsführer wurden auf die Wache geschleppt, die übrigen zerstoben." Die Untersuchung ergab eine vorbereitete Aktion und fühlte zur Festnahme weiterer 11 Delinquenten. Einer der Hauptschuldigen erhängte sich nach zwei Tagen im Gefängnis, die anderen wurden mit harten Zuchthausstrafen (6—1 1/2 Jahre) belegt.


Schon nach wenigen Wochen wurde von Rastenburg das 1. Jäger-Bataillon nach Braunsberg verlegt, das hier bis zum 1. April 1884 lag und in diesen, durch drei siegreiche Kriege ausgezeichneten Jahrzehnten in besonders engem, harmonischem Verhältnis mit der Bürgerschaft verwuchs. Davon zeugen noch heute die gotische Pyramide auf dem Hitlerplatz zum ehrenden Gedächtnis der 1870/71 gefallenen Jäger und zwei Denksteine im Stadtwald.


Aus den ersten parlamentarischen Wahlen des Mai 1848 gingen am 8. für die Berliner preußische verfassunggebende Nationalversammlung u. a. der Braunsberger Professor am Lyzeum Dr. Anton Eichhorn, der spätere Hosius-Biograph und erste Präsident des Ermländischen Historischen Vereins, als sein Stellvertreter Oberlehrer Joseph Lingnau vom Gymnasium hervor, am 10. für die Frankfurter deutsche Nationalversammlung der Lyzeumsdozent Karl Cornelius. Der namhafteste der späteren ermländischen Abgeordneten war der Braunsberger Kirchenhistoriker und spätere Dompropst Dr. Franz Dittrich (+ 1915), der 1893 in den preußischen Landtag gewählt, in 213 Schul- und Kultusfragen bald eine einflußreiche Stellung gewann.


Ein gewisses Gefühl des Selbstbewußtseins und der Eigenverantwortung entband als Auswirkung der Revolution auch im Ermland neue geistige Kräfte. So trat 1851 in Braunsberg der Adalbertus-Verein ins Leben, der planmäßig den Notständen der kath. Diaspora in Ostpreußen steuern wollte. Im Spätsommer 1856 begann von hier aus der Ermländische Hauskalender seine jährliche Wanderung durch die Heimat, und im Oktober desselben Jahres konstituierte sich aus Braunsberger und Frauenburger Gelehrtenkreisen der Historische Verein für Ermland, der wegen seiner gründlichen Forscherarbeit und seiner Veröffentlichungen schnell die verdiente Anerkennung fand. Ein Ermländischer Kunstverein, der i. J. 1869 ebenfalls in Braunsberg hoffnungsvoll auf den Plan trat, brachte es nur zu kurzer Wirksamkeit. Die Verbundenheit zwischen ermländischem Blut und Boden fand durch diese Unternehmungen, die in Braunsberg ihren geistigen Mittelpunkt hatten, eine liebevolle Pflege.


Inzwischen hatte die Stadt den Anschluß an das neue Verkehrsnetz der Eisenbahnen gewonnen. Am 19. Oktober 1852 konnte die älteste Bahnlinie Ostpreußens Marienburg-Braunsberg und mit ihr die Telegraphenleitung in Betrieb genommen weiden. Braunsberg war bis zum 1. August 1853 Endstation der Ostbahn. Wichtige Baubüros, eine Maschinenwerkstätte, eine große Zahl Streckenarbeiter brachten damals der Stadt wenn auch eine Teuerung der Lebensmittel, so doch rege Aktivität und steigende Verdienstmöglichkeiten. Deshalb fürchteten Schwarzseher, Braunsberg würde nach der Vollendung der Strecke nach Königsberg zum „Dorf" herabsinken, d. h. sein Handel von dem der benachbarten Großstadt aufgesogen werden. Die Eröffnung der Strecke nach der alten Krönungsstadt Königsberg sollte aber mit besonderem Glanz vor sich gehen. Der König selbst hatte sein Erscheinen zugesagt.


Friedlich Wilhelm IV. hatte bereits mehrfach die Stadt passiert, so am 9. September 1840, als er mit seiner Gemahlin Elisabeth zur Huldigung nach Königsberg reiste. Das Spalier der Bürger freundlich grüßend, hielt er vor dem Hause des Kaufmanns Kuckein (Langgasse 32), nahm eine Erfrischung zu sich und empfing von einem Atlaskissen mehrere Proben ermländischer Seide. Damals wurden im Ermland energische Versuche gemacht, Maulbeerbäume anzupflanzen und Seidenzucht zu betreiben. Besonders der Lehrer Tolksdorf in Heinrikau war der Meister dieser Kunst, der daher dem durchreisenden König die beste Seidenprobe vorlegen konnte. Von Braunsberger Bürgern befaßten sich der Seminardirektor Dr. Anton Arendt und der Spediteur Ehlert damit, die ebenfalls vor den Majestäten mit Mustern ihrer Zucht aufwarteten. Kalte Winter erwiesen freilich nach wenigen Jahren alle Bemühungen, diese Industrie nach Ostpreußen zu verpflanzen, als vergeblich.


Ein Festkomitee unter Vorsitz des Landrats von Schwarzhoff traf die Vorbereitungen für den Königsbesuch am 1. August 1853. Kreisbauinspektor Bertram hatte mit ungewöhnlichem Kunstsinn einen Güterschuppen am Bahnhof in königliche Gemächer umgewandelt. In dem Schmuck der Fahnen und Ehrenpforten auf dem Bahnhof erregte folgende sinnvolle Transparentaufschrift besondere Aufmerksamkeit:

 

Fern zu des Ostens Gestaden entsendet auf eisernen Schienen

König Dein schaffendes Wort kühn das beflügelte Rad.

Stolz auf den älteren Ruhm der Treue, der Vaterlandsliebe,

Schaut hier ein kräftiges Volk dankend zum Herrscher empor.

Näher bist Du uns gerückt; denn die Räume, die Zeit sind geschwunden,

Näher sind Fürst sich und Volk! Gott schütze Preußen in Dir!


Nachdem vormittags von auswärts eine Reihe von Gästen, darunter auch Bischof Dr. Geritz von Frauenburg, eingetroffen waren, langte der König in seinem Salonwagen vor 1 Uhr auf der Station an. Tausendstimmiger Jubel und die Vaterlandshymne der Militärmusik begrüßte ihn, dann lichteten der zuständige Minister von der Heydt und Regierungsbaurat Wiebe die Bedeutung des Festtages würdigende Dankesworte an ihn. Hierauf nahm der König vor dem Empfangsgebäude die Parade des Jägerbataillons ab, danach den Vorbeimarsch der Schützengilde, die ihm für die zu Anfang des Jahres geschenkte Fahne ihren Dank aussprach. Nun folgte die Vorstellung der um den Bahnbau verdienten Beamten und der Festteilnehmer und schließlich in der Festhalte ein Frühstück, bei dem Landrat von Schwarzhoff den Toast auf den König ausbrachte, der seinerseits gerührt mit einem dreimaligen Hoch auf die Provinz, die Festgeber und die Verwirklichung der Hoffnungen, die sich an die Vollendung des Bahnbaues knüpften, erwiderte. Um 3 Uhr setzte sich der Extrazug unter stürmischen Huldigungen nach Königsberg in Bewegung.


Seither verlor Braunsberg als Durchgangsort des Verkehrs an Bedeutung, und mancher vornehme Gast, der zuvor in dem Deutschen Haus (Langgasse 70) und Schwarzen Adler seine Reise in der Postkutsche unterbrochen hatte, sah nunmehr vom 2l5 schnaubenden Dampfroß aus die Passargestadt vorüberfliegen. Ein Ausnahmefall war es, wenn Zar Alexander II. mit seiner Gattin und einem Gefolge von 90 Personen in der Nacht vom 22. bis 23. Mai 1865 in Braunsberg Logis bezog. Schlaf- und Speisewagen gab es noch nicht, und in der friedlichen Passargestadt mochte es sich ruhiger schlafen als in der Großstadt Königsberg. Das Kaiserpaar und die Großfürsten nächtigten auf dem Bahnhof; aus vier Beamtenwohnungen war ein Quartier mit 20 Zimmern hergerichtet, Mauern durchbrochen, Möbel aus dem Königsberger Schloß, Teppiche u. a. zur fürstlichen Ausstattung beschafft worden. Da aber für die hohe Begleitung der Schwarze Adler mit 8 und der neue Rheinische Hof mit 19 Zimmern nicht ausreichten, wurde eine größere Zahl möblierter Zimmer benötigt. Kommerzienrat Kuckein beherbergte Herzog von Mecklenburg, Postmeister Kersten den Oberhofmarschall Grafen Schuwaloff und Staatssekretär Müller, sein Sohn Rittergutsbesitzer Theodor Kuckein den Fürsten Dolgorucki usw. Nach Ankunft des aus 12 Wagen bestehenden Extrazuges nahmen die hohen Herrschaften ein Souper ein. Als sie am nächsten Morgen bis Dünaburg weiterreisten, sprachen sie sich sehr anerkennend über ihre Unterkunft aus.


Um dem verehrten Herrscherhause bei der Durchreise ihre Huldigung darzubringen, nahmen wiederholt städtische Körperschaften, Vereine und Schulen auf dem festlich geschmückten Bahnhof Aufstellung. So am 10. September 1879, als Kaiser Wilhelm I. und der Kronprinz vormittags auf der Fahrt nach Königsberg die Stadt passierten. Den Aufenthalt von 6 Minuten benutzte der greise Monarch zur freundlichen Begrüßung der führenden Persönlichkeiten. Zur Schützengilde, die seine Lieblingsblumen, Kornblumen, in den Lauf gesteckt hatten, äußerte er: „Sie haben friedliche Munition aufgesteckt."


Der Anschluß der Passargestadt an den modernen Schienenstrang und die Verbreitung der Dampfschiffahrt bedeuteten das Absterben der Braunsberger Handelsschiffahrt. Noch in den vierziger Jahren besaß das Handelshaus Kuckein mehrere Segelschiffe, andere die Firmen Stampe, Oestreich und Kutschkow und Drews, von denen zwar nicht die Dreimasterbarken, wohl aber die zweimastigen Briggschiffe den Braunsberger Hafen anlaufen konnten; sie führten damals außer ermländischen Getreide- und Flachsfrachten auch Holzladungen von Memel bis nach England und Irland. Jetzt nahm die Bahn der Schiffahrt, die vom Wasserstand und Eis der Passarge abhängig war, die Frachten zu den innerdeutschen Plätzen ab, mehr noch, als das Bahnnetz das Innere der Provinz erfaßte; bald verdrängte auch die mechanisierte Großschiffahrt die kleinen Flußfahrzeuge. Für die Flachserzeugung versprachen sich die Behörden freilich durch die Bahn eine Belebung. Man schätzte i. J .1856 das jährliche Wachstum des Flachses im Ermland auf fast 1 Million Taler; der größte Teil davon wurde ungereinigt von Aufkäufern in den Bauernhäusern abgeholt und kam dann zu den Braunsberger Großhändlern, die durch ihre Speicherarbeiter und Flachsbinder das Rohmaterial zurichten, sortieren und lagern ließen, um es zu verkaufen und zu verschiffen. Nun glaubte die Behörde, gestützt durch Gutachten des landwirtschaftlichen Zentralvereins, der nachlassenden ermländischen Flachserzeugung dadurch einen neuen Auftrieb zu geben, daß sie den Bauern riet, durch sorgfältiges Schwingen, Reinigen und Hecheln die Güte des Flachses zu heben und ihn dann auf einem besonderen Markt direkt an auswärtige Spinnereibesitzer abzusetzen, die mit der Bahn leicht anreisen könnten. Durch Prämien sollten außerdem die besten Erzeugnisse ausgezeichnet werden. Obwohl diese Maßnahmen den Braunsberger Großhandel in seiner Existenz bedrohten, wurde für den 27.-29. Februar 1856 der erste ermländische Flachsmarkt in Braunsberg anberaumt, den die Bauern mit hohen Erwartungen begrüßten. Am ersten Tage fuhren gegen 500 Wagen 15000 Bunde Flachs an. Der Umsatz und Preis brachte aber den Produzenten schwere Enttäuschungen. Wenn auch die besten 15 Flachssorten mit Geldprämien, später mit Silberbechern ausgezeichnet wurden, — diesmal erhielt Bes. Andreas Marquardt aus Grunenberg für seine Spitzenleistung 25 Taler, — so waren doch nur wenige schlesische Fabrikanten erschienen, der ganze Umsatz belief sich auf 60 000 Taler, die Preise waren gedrückt. Trotzdem behauptete sich der Braunsberger Flachsmarkt, der später am 3. Dezember stattfand, bis in die 90er Jahre, verlor aber mit der mangelnden Rentabilität des Flachsanbaus und seinem Rückgang seit den 70er Jahren mehr und mehr an Bedeutung.


Die Eröffnung der Ostbahn gab den Anstoß zur Gründung des Polytechnischen Vereins (1853), der seine Mitglieder mit den neuesten Errungenschaften der Naturwissenschaften und Technik bekannt machen wollte. Sein erster Vorsitzender Prof. Dr. Feld und sein vorletzter Prof. Switalski waren die erfolgreichsten Leiter dieses verdienstvollen populärwissenschaftlichen Vereins, dessen Vorträge durch Pressereferate auch weiten Kreisen der heimatlichen Bevölkerung zugänglich gemacht wurden.


Im November 1854 konnte die kleine jüdische Gemeinde ihre Synagoge einweihen. 2l7

Die ruhmreichen Kriege der Jahre 1864, 1866 und 1870/71 weckten auch in Braunsberg patriotischen Widerhall, um so mehr, als die Bevölkerung an den Geschicken ihrer mitkämpfenden Jäger wie ihrer eigenen Söhne herzlichen Anteil nahm. Als am 3. März 1871 die Freudenkunde von der Ratifikation des Friedens die Stadt durcheilte, da ließ man die Fahnen wehen, hängte Transparente aus und tauchte abends selbst die kleinsten Gäßchen in den Lichterglanz der Illumination. Ratsherr Sinogowitz aber ließ als Schützenhauptmann seine Mannen zum Zapfenstreich antreten; bengalische Flammen flackerten grün und rot durch das Dunkel der Nacht, und übermütiges Schießen und Knallen störten die gemessene Ruhe des sonst so stillen Stadt.

Die aufrichtige Freude an dem neuen Kaiserreich erfuhr bald durch den Kulturkampf bei der kath. Bevölkerung eine schmerzliche Trübung. Gerade in Braunsberg entzündete sich dieser kirchenpolitische Kampf am ersten und am schärfsten. Mehrere Braunsberger Geistliche, so der Philosophie-Professor Dr. Michelis, der Gymnasial-Religionslehrer Dr. Wollmann und der Seminardirektor Dr. Treibel weigerten sich, die vom Vatikanischen Konzil im Juli 1870 definierte päpstliche Unfehlbarkeit anzuerkennen, und wurden deshalb vom Bischof Dr. Philippus Krementz exkommuniziert. Da der Staat sich schützend vor seine Beamten stellte, war der Konflikt gegeben.

Bischof Krementz sah sich genötigt, Dr. Wollmann die Erlaubnis zur Erteilung des Religionsunterrichtes zu entziehen, meldete dem Kultusminister von Mühler diese Maßregelung und erbot sich, mit seiner Zustimmung einen anderen Priester auf seine eigenen Kosten mit der Erteilung des Religionsunterrichts zu betrauen. (5.4.1871). Der Minister lehnte das Angebot ab, da die Verhängung kirchlicher Zensuren auf ein Staatsamt ohne Einfluß sei. Zugleich wurde dem Direktor Weisung gegeben, daß eine Dispensation von den Religionsstunden nicht zulässig sei. Es stünde den Eltern frei, ihre Kinder auf ein anderes Gymnasium zu schicken. Als Dr. Wollmann demgemäß den Religionsunterricht fortsetzte, wandten sich viele Eltern nach vergeblichen Eingaben an die Behörden zuletzt unmittelbar an Kaiser Wilhelm I., indem sie baten, ihre Kinder nicht ihres Glaubens wegen von dem Besuche einer stiftungsmäßig kath. Lehranstalt auszuschließen, sondern für die Erteilung eines kath. Religionsunterrichtes Sorge tragen zu wollen (19. 8. 1871). Auch die in Fulda versammelten preußischen Bischöfe baten in einer Immediateingabe um Aufhebung des Gewissenszwanges, der an den Schülern des Braunsberger Gymnasiums geübt werde. Da diesen Bittgesuchen nicht Rechnung getragen wurde, sank die Zahl der kath. Schüler im Herbst 1871 von 251 auf 88; die meisten der Abgegangenen suchten eine andere Anstalt, insbesondere Rößel, auf.

Die Braunsberger Vorgänge erregten in der ganzen kath. Welt Aufsehen. Selbst aus Italien, England, Irland und dem amerikanischen Pennsylvanien liefen Sympathiekundgebungen ein. In den katholischen Teilen Deutschlands wurden Sammlungen für die ausgewanderten Gymnasiasten veranstaltet. Im Dezember 1871 ging eine von 439 Familienvätern Braunsbergs und seiner Umgebung unterschriebene Petition an das preußische Abgeordnetenhaus ab, worin Abhilfe verlangt wurde. Bevor am 1. März 1872 dieses Gesuch in der Unterrichtskommission verhandelt wurde, hatte der neue Kultusminister Dr. Fall am Tage zuvor bestimmt, daß in den öffentlichen höheren Schulen eine Befreiung vom Religionsunterrichte zulässig sei, sofern ein genügender Ersatz dafür nachgewiesen sei. Im übrigen lehnte die Mehrheit der Kommission wie des Plenums trotz eingehender Begründung der Braunsberger Petition eine Einmischung in diese innerkirchlichen Dinge ab. Auf Grund der ministeriellen Verfügung übernahm Privatdozent Dr. Krause im Einverständnis mit dem Bischof alsbald den fakultativen Religionsunterricht am Gymnasium, an dem sogleich die meisten der kath. Schüler, die nunmehr auch von auswärts zurückkehrten, teilnahmen. Die Gymnasialkirche überwies der Minister im Februar 1874 den sogenannten Altkatholiken. Erst als zu Ostern 1876 Dr. Wollmann auf eine Oberlehrerstelle nach Köln versetzt und zum Herbst der Rektor der Wormditter Selekta Anton Matern mit der freigewordenen Religionslehrerstelle betraut wurde, fanden die Wirren am Gymnasium ihr Ende. Das bischöfliche Konvikt, das i. J. 1843 hauptsächlich für solche Schüler gestiftet worden war, die sich dem theologischen Studium widmen wollten, und dessen Neubau in den Jahren 1870—72 aufgeführt wurde, durfte laut Verordnung des Königsberger Piovinzial-Schulkollegiums seit 1873 keine neuen Zöglinge mehr aufnehmen, war damit auf den Aussterbeetat gesetzt und wurde erst im Oktober 1886 feierlich wiedereröffnet. Im Weltkriege für Lazarettzwecke verwendet, wurde es 1925 seinem ursprünglichen Zwecke wieder dienstbar gemacht und seither von Pallotinern aus dem Mutterhause Limburg a. L. geleitet.

Ähnlich wie am Gymnasium gestaltete sich die kirchenpolitische Entwicklung auch am kath. Lehrerseminar. Da Direktor Dr. Treibel trotz seiner Suspension den Religionsunterricht 219 weiter erteilte, eine Anwendung des Falkschen Dispens-Erlasses zunächst abgelehnt wurde, weil das Seminar keine höhere Schule sei und außerdem aus pädagogischen Gründen, petitionierten 3475 ermländische Familienväter an das Abgeordnetenhaus und erwirkten, daß im Februar 1873 die Befreiung vom Religionsunterricht auch auf das Seminar ausgedehnt wurde. Darauf schied die überwiegende Mehrheit der Seminaristen aus Treibels Religionsunterricht aus. Treibel wurde im Oktober 1876 versetzt.

 

Friedrich Michelis (1815 - 1886),

deutscher Philosoph und altkatholischer Theologe, Professor der Philosophie in Paderborn und Braunsberg.

 

Michelis, der 1870 wegen seiner Ablehnung des Unfehlbarkeitsdogmas exkommuniziert worden war und deshalb seine Professur in Braunsberg (Ostpreußen) aufgeben mußte, war einer der redegewandtesten Agitatoren gegen die römischen Herrschaftsansprüche und für die altkatholische Sache.
Der Vatikan exkommunizierte kurzerhand alle Unfehlbarkeitsgegner, ganz gleich, ob sie aus grundsätzlichen dogmatischen oder biblischen Gründen das Dogma ablehnten, oder ob sie Gegner der Ohrenbeichte, des Zölibats, der lateinischen Gottesdienstsprache, des kirchlichen Gebühren- und Ablaßwesens oder bestimmter religiöser Praktiken waren und schrieb damit den Bruch endgültig fest.

Am Lyzeum Hosianum verweigerten die Professoren Michelis und Menzel ihre Unterwerfung unter die Vatikanischen Konzilsbeschlüsse. Da sie gegen den Einspruch des Bischofs vom Staat in ihrem Amt belassen wurden, kamen ihre Vorlesungen für die Theologiestudenten nicht mehr zustande. Im September 1873 verfügte die Regierung die Einbehaltung der für das bischöfliche Priesterseminar ausgesetzten Mittel und verbot den Studierenden des staatlichen Lyzeums die Zugehörigkeit zum Priesterseminar. Daraufhin mußten die Studenten Privatwohnungen in der Stadt beziehen. Auch eine gemeinsame Bespeisung im Seminar und Andachtsübungen daselbst wurden im November untersagt. Nur die Kleriker des letzten Pastoralen Ausbildungsjahres durften im Seminar verbleiben, bis es im Dezember 1876 auch für diese auf staatlichen Befehl geschlossen wurde. Die bischöfliche Behörde sandte fortan ihre Kleriker nach dem bayrischen Eichstätt, bis nach Abbau der Kulturkampfgesetze im Oktober 1886 das verwaiste Steinhaus wieder von 24 Alumnen bezogen werden konnte.

Die kirchenpolitischen Kämpfe waren im Dezember 1871 der Anlaß zur Gründung der Ermländischen Volksblätter, die unter der gewandten Redaktion des ermländischen Kalendermannes Domvikars Julius Pohl rasch eine führende Bedeutung in der Provinzpresse gewannen. Seit Ende 1874 konnte die umbenannte Ermländische Zeitung in einer eigenen Druckerei erscheinen.

Katharinenschwestern unterrichteten wie in den anderen ermländischen Städten auch in Braunsberg an der katholischen Mädchenschule, für die sie außerdem die Klassenräume hergaben. Ein Erlaß des Ministers Fall vom Juni 1872 verbot die Zulassung von Klosterschwestern als Lehrerinnen an öffentlichen Volksschulen. Infolge der entstehenden erheblichen Mehrkosten sah das Gesetz jedoch eine gewisse Frist zur Durchführung vor. In Braunsberg wurden erst im Oktober 1877 die Schwestern mit dem Ausdrucke des Dankes für ihre langjährigen, erfolgreichen Dienste verabschiedet, das von ihnen neuerbaute Schulhaus an die Stadt vermietet. Auch das 1866 begründete Waisenhaus mußten die Katharinerinnen i. J. 1877 für mehrere Jahre aufgeben.

Bald aber wuchs der Wirkungskreis der Kongregation, die sich auch im Lazarettdienst der Kriege 1866 und 1870/71 bewährt hatte, ins Ungeahnte. Von ihrem Braunsberger Mutterhause aus übernahm sie nicht nur neue Kranken- und Siechenhäuser, Erziehungs- und Waisenanstalten, Haushaltungsschulen, Kindergärten und Schwesternstationen in der ganzen Diözese, seit 1908 griff ihre karitative Arbeit auch in die Großstadt Berlin über. Nach vorübergehender Auslandsbetätigung in Finnland (1877—82), St. Petersburg (1877—80) und England (1896—1915) ist ihr seit 1897 unter den deutschen Volksgenossen Brasiliens ein besonders dankbares Feld der Erziehung und Krankenpflege eröffnet worden. 230 Schwestern gehören jenem südbrasilianischen Zweige der Braunsberger Kongregation an, während es in Deutschland 600 sind. Bei dieser zentralen Bedeutung Braunsbergs für die ermländische kirchliche Wohlfahrtspflege war es naheliegend, daß die Stadt bei der Gründung des ermländischen Caritasverbandes i. J. 1906 auch zu dessen Vorort bestimmt wurde.

Von karitativen Anstalten der kath. Pfarrgemeinde seien anschließend hier erwähnt das St. Marienkrankenhaus, das einem Legat des Pfarrers Kampfsbach in Tolksdorf i. J. 1863 seinen Ursprung verdankt, allmählich ausgebaut wurde und 1913/14 durch einen Neubau erweitert wurde, so daß es eine Belegstärke von 120 Betten hat. Neben dem aus alten Stiftungen vereinigten St. Andreashospital bietet ein 1882 begründetes Siechenhaus jetzt Raum für 80 alte Leute. Das St. Elisabethstift wurde unter Erzpriester Reichelt 1915/16 für schulentlassene Fürsorgezöglinge errichtet, 1922 aber in ein Heim für kath. Magdalenen umgewandelt. Kindergärten in der Altstadt (1898 begründet) und in der Neustadt (1917), sowie ein vom jetzigen Erzpriester Prälat Schulz errichteter Kinderhort (1932) im Theresienheim, der früheren „Liedertafel", betreuen zahlreiche Kinder der Gemeinde. Ein Vereinshaus bietet seit 1872 den katholischen Vereinen Unterkunft.

Dem Geiste der inneren Mission entsprossen mehrere Wohlfahrtsanstalten der evangelischen Gemeinde. 1862 wurde ein Hospital für Alte, 1874 ein Waisenhaus, zum Lutherjubiläum i. J. 1883 das Martinsstift für Sieche und die Lutherkapelle errichtet. 1899 erbaute Superintendent Schawaller mit einem Kostenaufwand von 70 000 Mark ein neues Kranken- und Siechenhaus und 1906/07 mit Provinzialmitteln das Magdalenenstift für 70—80 weibliche Fürsorgezöglinge. Ein 221 Säuglingsheim im Neubau des Mädchen-Waisenhauses (1925) ist das letzte große Liebeswerk der evangelischen Gemeinde unter ihrem jetzigen Superintendenten Graemer. Das alte Schützenhaus ist i. J. 1894 angekauft und in ein Gemeindehaus umgewandelt worden.

Im ehemaligen Kreishaus am Bahnhof hat der Kreis i. J. 1908 ein Altenheim, im früheren Lazarettgebäude die Stadt i. J. 1926 ein Rentnerheim eingerichtet.

Am 24. April 1886 verstarb im Alter von fast 82 Jahren ein origineller Wohltäter der Stadt, der Seminardirektor a. D. Dr. Anton Arendt. 1804 in Wormditt geboren, hatte er in Braunsberg das Gymnasium und Lyzeum absolviert, als Kaplan dieser Stadt sich durch seine hingebende Seelsorge an Cholerakranken i. J. 1831 und seinen Unterricht an der Mädchenschule ausgezeichnet und war im Herbst 1833 zum Direktor des Lehrerseminars befördert worden, das er bis zu seiner Pensionierung i. J. 1868 leitete. Arendt schaffte sich durch eine Reihe trefflicher Lehrbücher, namentlich sein Lesebuch für die katholischen Volksschulen, einen anerkannten Ruf. Durch peinliche Sparsamkeit und kluge Verwaltung schuf er sich ein beträchtliches Vermögen, zu dessen Universalerben er die Stadt Braunsberg, in der er seit 1820 gelebt hatte, oder falls sie die Erbschaft ablehnen sollte, seine Vaterstadt Wormditt einsetzte. An liegenden Gründen (Häusern, Scheunen und Land in beiden Städten, aber auch Ländereien in Joinville in Brasilien) hinterließ er einen Wert von 14 000 Talern, an Wertpapieren und Schuldforderungen 20000 Tl. Dieses Erbe sollte der Grundstock einer wohltätigen Stiftung sein. Von den 1640 Tl. Jahreszinsen sollten 640 Tl. in der ersten Etatsperiode von 25 Jahren zu besonderen Unterstützungen und gemeinnützigen Zwecken für Kranke, Arme, Studierende, Waisen, Schwestern u. a. verausgabt, die restlichen 1000 Tl. auf Zinseszins angelegt werden, so daß das Gesamtkapital nach einem Vierteljahrhundert auf 61900 Tl. gestiegen sein sollte. Die 2. Etatsperiode sollte 20 Jahre umfassen; während dieser Zeit sollten jährlich 756 Tl. verausgabt, die Mehrzinsen von 2 000 Tl. aber wieder kapitalisiert werden, so daß das Gesamtvermögen i. J. 1921 die Höhe von 109000 Tl. erreicht haben sollte. Nach weiteren Perioden von 20 Jahren sollten zu Beginn der 6. Periode 467 900 Tl. und 18 996 Tl. Zinsen zur Verfügung stehen; dann sollte die Stiftung ihre volle Höhe erlangt haben und sämtliche Zinsen zur Verteilung kommen, davon 12 946 Tl. für gemeinnützige Zwecke vorwiegend in Braunsberg. Der Weltkrieg und die Inflation haben Arendts sorgfältige Zinseszinsrechnung über den Haufen geworfen. Zur Zeit beträgt die Jahresrente für Braunsberg rund 1800 M. Auf dem mit seiner Beihilfe gekauften Katharinenfriedhof in der Malzstraße birgt eine genau nach seinen Angaben erbaute Grabkapelle seine Leiche, die einbalsamiert werden mußte.

Bischof Augustinus Bludau (1862 - 1930)

Er hatte ich Braunsberg Theologie studiert, setzte seine  theologischen Studien in Münster fort und kehrte 1891 nach seiner Promotion zum Dr. theol. in die Heimat zurück. Nach drei Jahren Kaplanszeit in Braunsberg wurde er 1894 Subregens des Priesterseminars und Präfekt am bischöflichen Knabenkonvikt, 1895 ao. und 1899 o. Professor für Neues Testament in Münster. 1908/09 wurde er Bischof von Ermland. B. ist bekannt als Exeget und Förderer der Caritas. Ohne sein Bischofsamt zu vernachlässigen, blieb er seiner liebgewonnenen wissenschaftlichen Tätigkeit treu. In den Nöten und Sorgen der Kriegszeit und der Nachkriegsjahre bewährte sich B. als Bischof.

Im April 1884 war das 1. Jägerbataillon unter lebhaftestem Bedauern der Bürgerschaft nach Allenstein verlegt worden, und die Verstimmung darüber war so groß, daß die Feier des 600jährigen Stadtjubiläums in Frage gestellt war. Die frische Initiative des Prof. Dr. Dittrich wußte dann doch die Heimatliebe der Einwohner so zu entfachen, daß am 2. Juli in schlichtem Rahmen eine würdige Feier in der Stadt und im Stadtwalde veranstaltet wurde. Zwar erhielt Braunsberg als Ersatz für die Jäger ein Bezirkskommando, aber Garnison wurde es erst wieder im Oktober 1893, als zunächst in gemieteten Bürgerhäusern. Mt Oktober 1898 in den von der Stadt neuerbauten Kasernen das Füsilier-Bataillon des 3. Ostpreußischen Grenadier-Regiments König Friedrich Wilhelm Nr. 3 seinen Einzug hielt. Vom Oktober 1912 bis 31. Juli 1914 garnisonierte hier das 3. Bataillon des 5. Westpreußischen Infanterie-Regiments Nr. 148. Während des Weltkrieges war das Kasernement mit verschiedenen Ersatzabteilungen und Rekrutendepots, das Lazarett mit einem Reservelazarett belegt. In der Nachkriegszeit wurde es zu Wohnungen eingerichtet. Seit dem letzten Winter bietet ein Block der ostpreußischen Bezirksführerschule des Arbeitsdienstes Unterkunft.

Seitdem dem Braunsberger Großhandel durch die moderne Verkehrsentwicklung das Rückgrat gebrochen war, beruhte das Wirtschaftsleben der Stadt hauptsächlich auf dem gewerblichen Mittelstand. I. J. 1860 zählte man 381 Meister 313 Gesellen und 185 Lehrlinge in 44 Berufsgruppen. 1888 schlossen sich 15 Innungen zu einem Innungsausschuß zusammen. Von industriellen Unternehmungen entstanden neben der alten Amtsmühle im 19. Jahrhundert eine Seifenfabrik, die seit 1824 im Familienbesitz Sonnenstuhl befindliche Lederfabrik, i. J. 1828 eine Spritfabrik und 1854 die Bergschlößchen-Bierbrauerei, beides Unternehmungen des betriebsamen Jakob von Roy, 1879 die Wendelsche Ofenfabrik, 1885 die Filiale der Zigarrenfabrik Loeser und Wolff, 1896 die Feinlederfabrik Beiger. 1884 beschafften Braunsberger Kaufleute einen Dampfer für den Verkehr nach Pillau und Königsberg. Immerhin wurden i. J. 1905 zu Schiff nach Braunsberg 4 536, von der Stadt 3 982 Tonnen Fracht befördert. 223

Den Eisenbahnverkehr ins Ermland ermöglichte die 1884 eröffnete Strecke Braunsberg—Mehlsack, die hier auf die neue Linie Allenstein—Königsberg traf. Die Haffuferbahn, die von Braunsberg und Elbing aus die malerische Haffküste und Kahlberg dem Verkehr erschloß, wurde als Unternehmung einer Aktiengesellschaft erst 1899 in Betrieb genommen. Zu der ältesten Kunststraße der Provinz Königsberg—Elbing, die die ermländische Hauptstadt schon i. J. 1826 berührte, kam die Chaussee nach Mehlsack in den Jahren 1845—53 hinzu, während die anderen von Braunsberg ausgehenden Kunststraßen später, die Zagerer erst i. J. 1932 vollendet wurden.
Staatliche Behörden entschädigten die Stadt für die geschwundene Handelsbedeutung. Schon 1821 war das Stadtgericht und das kgl. Domänenjustizamt zu Braunsberg zu einem kgl. Land- und Stadtgericht vereinigt. 1849 wurden die Kreise Braunsberg und Heiligenbeil zu dem Kreisgericht Braunsberg mit mehreren Gerichtsdeputationen und Kommissionen zusammengefaßt. Nach der Justizorganisation d. I. 1879 wurde in Braunsberg ein Land- und Amtsgericht geschaffen, für das alsbald ein geräumiger Neubau aufgeführt wurde. I. J. 1890-1891 wurde das preußische Landgestüt Braunsberg begründet, dessen Bezirk zur Zeit die Kreise Braunsberg, Heilsberg, Allenstein, Elbing, Pr. Holland, Mohrungen, Heiligenbeil, Pr. Eylau, Fischhausen, Königsberg und Wehlau umfaßt. Der Hengstbeftand beträgt 107 Hengste, davon 69 Warmblüter und 38 Kaltblüter, die auf 45 Deckstellen verteilt sind.

Schon frühzeitig i. J. 1867 erbaute die Stadt eine Gasanstalt, 1881 wurde das Schlachthaus eröffnet, das 1900 erweitert wurde. Unter der besonnenen Amtsführung des Bürgermeisters Heinrich Sydath (1890—1917), dessen Gedächtnis in einer neuen Straße fortlebt, wurde das städtische Wasserwerk errichtet, das im Februar 1897 in Betrieb genommen werden konnte. In seine Amtszeit fällt die durchgreifende, wohlgelungene Erneuerung der St. Katharinenkirche durch Erzpriester Anton Matern, durch die das ehrwürdige mittelalterliche Gotteshaus in verjüngter Schönheit erprangte (1891—97). 1910/11 wurde die Kanalisation der Stadt durchgeführt. Der Abschluß dieses über 500 000 M. kostenden Werkes war der Anlaß zu einer Ehrung der Stadt. Regierungspräsident Dr. Graf von Keyserlingk gab in einer Festsitzung der städtischen Körperschaften am 25. Januar 1912 unter anerkennenden Worten bekannt, daß dem Bürgermeister Sydath das Recht zum Anlegen einer goldenen Amtskette, dem Stadtverordnetenvorsteher Justizrat Mehlhausen der Rote Adlerorden 4. Klasse verliehen sei. Als Sydath zum Oktober 1917 in den Ruhestand trat, wurde er zum Ehrenbürger der Stadt ernannt. Im Alter von 83 Jahren starb er 1931 in Neukölln bei Berlin.

Heinrich Sydath (1848 - 1931)
Bürgermeister der Stadt Braunsberg (1890 - 1917)

Zum Bild: Heinrich Sydath gehört neben Simon Wichmann (1581 - 1638, Bürgermeister während der Schwedenherrschaft im 30jährigen Krieg) und Kommerzienrat Johann Oestreich (1750 - 1833, Kgl. Kommissar und Begründer des neuen reformierten Bildungswesens) zu den Männern, die die Geschichte der Stadt Braunsberg entscheidend geprägt haben. Unter seiner besonnenen Amtsführung wurde u. a. das städtische Wasserwerk erbaut und die St. Katharinenkirche neugotisch ausgestattet. Höhepunkt in der 27-jährigen Amtszeit Sydaths war die Einweihung des städtischen Kanalisationssystems. In einer Festsitzung der städtischen Körperschaften am 25. Januar 1912 teilte der Regierungspräsident Dr. Graf von Keyserlingk dem Braunsberger Bürgermeister Sydath mit, daß der König ihm das Recht verliehen habe, eine goldene Amtskette zu tragen. Während des Ersten Weltkrieges hat Bürgermeister Sydath durch besonnenes Handeln größere Not von der Bevölkerung seiner Stadt abgewendet.

Braunsbergs jahrhundertealter Ruf als Schulstadt hat sich bis in die Gegenwart behauptet. Zu den früheren Lehrstätten kam i. J. 1887 als eine der ersten landwirtschaftlichen Schulen der Provinz die Braunsberger hinzu, die i. J. 1912 ein eigenes Heim erhielt. Seit 1926 ist ihr eine Hauswirtschaftliche Abteilung für Mädchen angegliedert. Eine besonders blühende Entwicklung nahm die kath. höhere Mädchenschule, die i. J. 1909 22 Klassen umfaßte und in vier Zweige zerfiel: zwei Seminare für höhere Lehrerinnen und Volksschullehrerinnen, eine dreiklassige Präparandie, eine zehnklassige höhere Mädchenschule und eine achtstufige dreiklassige Übungsschule. Die verdiente Leiterin Elisabeth Schröter hatte die Freude, daß diese wichtigste ermländische Bildungsstätte für die weibliche Jugend i. J. 1909 vom Minister anerkannt wurde und als Lyzeum und Oberlyzeum i. J. 1917 den Namen Elisabeth-Schule erhielt. Während der kritischen Inflationsjahre i. J. 1922 mit der evangelischen höheren Mädchenschule vereinigt und auf den städtischen Haushalt übernommen, wurde die Elisabeth-Schule, deren Aufgabenkreis mit der Reform der Lehrerinnenbildung eingeschränkt worden war, als öffentliche höhere Lehranstalt am 1. April 1925 anerkannt. Die das frühere katholische Lehrerseminar in seinen Klassenräumen ablösende Schloßschule ist 1922 als deutsche Oberschule in Aufbauform begründet und führt in sechs Jahren zur Reifeprüfung. Die 1906 eingerichtete Berufsschule umfaßt eine gewerbliche, eine kaufmännische und eine hauswirtschaftliche Abteilung und eine Haushaltungsschule. Eine Kraftfahrzeug-Mechanikerschule mit halbjährigen Kursen wurde 1928 vom Mechaniker-Innungsverband Ostpreußens eingerichtet. Als neueste Bildungsstätte ist die Bezirksschule für den Arbeitsdienst am 18. Januar 1934 feierlich eröffnet worden.

Katholische St. Katharinenpfarrkirche

Evangelische Pfarrkirche

Braunsbergs jahrhundertealter Ruf als Schulstadt hat sich bis in die Gegenwart behauptet. Zu den früheren Lehrstätten kam i. J. 1887 als eine der ersten landwirtschaftlichen Schulen der Provinz die Braunsberger hinzu, die i. J. 1912 ein eigenes Heim erhielt. Seit 1926 ist ihr eine Hauswirtschaftliche Abteilung für Mädchen angegliedert. Eine besonders blühende Entwicklung nahm die kath. höhere Mädchenschule, die i. J. 1909 22 Klassen umfaßte und in vier Zweige zerfiel: zwei Seminare für höhere Lehrerinnen und Volksschullehrerinnen, eine dreiklassige Präparandie, eine zehnklassige höhere Mädchenschule und eine achtstufige dreiklassige Übungsschule. Die verdiente Leiterin Elisabeth Schröter hatte die Freude, daß diese wichtigste ermländische Bildungsstätte für die weibliche Jugend i. J. 1909 vom Minister anerkannt wurde und als Lyzeum und Oberlyzeum i. J. 1917 den Namen Elisabeth-Schule erhielt. Während der kritischen Inflationsjahre i. J. 1922 mit der evangelischen höheren Mädchenschule vereinigt und auf den städtischen Haushalt übernommen, wurde die Elisabeth-Schule, deren Aufgabenkreis mit der Reform der Lehrerinnenbildung eingeschränkt worden war, als öffentliche höhere Lehranstalt am 1. April 1925 anerkannt. Die das frühere katholische Lehrerseminar in seinen Klassenräumen ablösende Schloßschule ist 1922 als deutsche Oberschule in Aufbauform begründet und führt in sechs Jahren zur Reifeprüfung. Die 1906 eingerichtete Berufsschule umfaßt eine gewerbliche, eine kaufmännische und eine hauswirtschaftliche Abteilung und eine Haushaltungsschule. Eine Kraftfahrzeug-Mechanikerschule mit halbjährigen Kursen wurde 1928 vom Mechaniker-Innungsverband Ostpreußens eingerichtet. Als neueste Bildungsstätte ist die Bezirksschule für den Arbeitsdienst am 18. Januar 1934 feierlich eröffnet worden.

Abtransport russischer Gefangener nach der Schlacht bei Tannenberg, September 1914 - im Zusammenhang mit den Kämpfen in Ostpreußen

Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges drangen zwei russische Armeen von Osten und Süden in Ostpreußen ein. Nach der deutschen Niederlage von Gumbinnen (20.08.1914) flohen große Teile der ostpreußischen Bevölkerung bis hinter die Weichsel. Der Süden des Kreises Braunsberg wurde von russischen Truppen besetzt, die Stadt Braunsberg selbst wurde nicht direkt bedroht. Hindenburgs Erfolge in der Schlacht bei Tannenberg (26. 30.08.1914) mit der Vernichtung der russischen NarewArmee und in der Schlacht an den masurischen Seen (06. - 15.09.1914) mit der schweren Niederlage der Njimen-Armee bedeuteten das Ende des russischen Vormarsches und den Beginn der Rückeroberung Ostpreußens. Die Stadt Braunsberg blieb von den Auswirkungen des Krieges nicht verschont. 400 Männer fielen an der Front, eine große Zahl Flüchtlinge wurde in der Stadt aufgenommen. Der durch die Kampfhandlungen bedingte Verlust der Ernte führte zur Lebensmittelknappheit. Zur Milderung der Not übernahm die Stadt Münster eine Kriegspatenschaft über Braunsberg.

Die ruhige, aufstrebende Entwicklung des kulturellen und wirtschaftlichen Lebens der Stadt erfuhr durch die schon lange drohende katastrophale Entladung des Weltkrieges einen schweren Rückschlag. Erhebend die Begeisterung, mit der rund 100 der 347 Gymnasiasten bis zum Alter von 16 Jahren als Freiwillige zu den Waffen eilten, die Opferwilligkeit, mit der die ganze Einwohnerschaft in der Ablieferung von Gold, Zeichnung von Kriegsanleihen, der Liebestätigkeit für die Feldgrauen und Lazarettkranken, in allen möglichen Sammlungen ihre Liebe zum Vaterland bekundete. Zwar wurde die Stadt nicht unmittelbar von den Schrecknissen des Russeneinfalls 225 betroffen wie die meisten Gebiete der Provinz, aber den Jammer der Flüchtlinge, die Sorge um das Schicksal ihrer Söhne, die steigende Not an Lebensmitteln und den verschiedensten Bedarfsstoffen durchkostete auch sie in der zuversichtlichen Hoffnung, daß das Durchhalten zum endlichen Siege führen müsse. Über 3000 Braunsberger Männer und Jünglinge, d. h. fast jeder 4. Einwohner, zogen nach und nach mit Gott für Kaiser und Reich an die verschiedensten Fronten, und nicht weniger als 400 von ihnen sind den Heldentod gestorben.

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Dies ist ein Kapitel der Festschrift "Braunsberg im Wandel der Jahrhunderte" von Franz Buchholz zum 650jährigen Stadtjubiläum

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