KREISGEMEINSCHAFT BRAUNSBERG (OSTPREUSSEN)

Franz Buchholz: Braunsberg im Wandel der Jahrhunderte (Festschrift vom Stadtjubiläum 1934)

I. Braunsbergs Anfänge

Schon in grauer Vorzeit bildete die Passarge eine wichtige Grenzlinie. Sie schied zu Beginn unserer Zeitrechnung die im Westen wohnenden Gepiden, einen Teilstamm der germanischen Goten, von den baltischen Altpreußen im Osten. Der Unterlauf des Flusses hielt diese völkische Trennung aufrecht, während allmählich an der mittleren und oberen Passarge die Germanen ostwärts bis zur Alle und darüber hinaus vorstießen. Als mit der Völkerwanderung (2. - 4. Jahrhundert) die Goten südwärts zogen, rückten die Preußen vom östlichen Natangen her in das kampflos geräumte Gebiet vor und breiteten sich bis zur Weichselmündung aus. Die Landschaft an der Südostküste des Frischen Haffes war von den Stämmen der Warmier und Pogesanier besiedelt. Sie bestellten mit ihrem hölzernen Hakenpflug geeignete Ackerstücke, schätzten von ihren Haustieren besonders das Pferd, gingen in den weiten Wäldern der Jagd und der Imkerei nach, trieben an den vielen Seen und Flüssen Fischerei. Namentlich das Haff lockte sie zum Fischfang und zur Schifffahrt, und preußische Segelschiffe, vor allem wohl aus Truso, ihrem Haupt-Handelsplatz in der Gegend des heutigen Elbing, dienten dem Warenaustausch bis zu den Küsten Jütlands und Schwedens. Denn auch das Handwerk war ihnen bekannt, die Töpferei, Leinen-  und Wollweberei, Leder- und Eisenbearbeitung, und es fehlte ihnen nicht an Marktstätten, wo ihre Erzeugnisse ausgetauscht und gegen fremde, eingeführte eingehandelt wurden.

Die Passarge strebte damals noch in weit mehr Windungen als heute, in oft den Lauf verlegenden Betten der Mündung zu; trotzdem war sie bei normalem Wasserstand schon oberhalb des heutigen Braunsberg für leichte Fahrzeuge schiffbar. Eine uralte Straße führte längs des eiszeitlichen Hügelrückens der Haffküste und kreuzte im Weichbilde der jetzigen Stadt den Fluß. Liegt da nicht die Vermutung nahe, daß dieser wichtige Schnittpunkt des Verkehrs schon von den Preußen für eine Siedlung ausgewählt worden ist? Nun wird uns in einer Urkunde d. J. 1249 ein preußisches Brusebergue im Warmierlande als eine ihrer sechs wichtigsten Wohnstätten benannt, und es ist fast einmütige Ansicht unserer Heimatforscher, daß dieser Ort der heidnisch-preußische Vorläufer des deutsch-christlichen Braunsberg gewesen ist. Den altpreußischen Namen wird man vielleicht mit Röhrich als „preußisches Lager" oder als Preußensiedelung deuten können.

Als nun der deutsche Ritterorden in frommer Kreuzzugsbegeisterung und frischem Tatendrang i. J. 1231 die Eroberung Preußens begann, ging er planmäßig längs der Wasserstraße der Weichsel und Nogat vor, erreichte i. J. 1237 den Elbingfluß, wo er nahe dem früheren Truso den neuen Handelsplatz Elbing begründete, und gewann so die bedeutsame Verbindung mit dem Frischen Haff und der Ostsee. Für die Beherrschung des Haffes war die Eroberung der Preußenburg Balga gegenüber einem seither versandeten Tief von besonderem Wert. Es gelang der Umsicht und Tapferkeit des Ordens i. J. 1239, die heidnische Seefestung zu besetzen; aber alsbald taten sich die unterlegenen Preußen zusammen, um den verlorenen Stützpunkt zurückzugewinnen. Ihrer Belagerung und Absperrung von der Landseite her wäre wahrscheinlich der Erfolg nicht versagt geblieben, wenn nicht i. J. 1240 Herzog Otto von Braunschweig vom Haff her zum Entsatz herangekommen wäre. Er errang in einem unvermuteten, starken Ausfall einen vernichtenden Sieg über die Feinde, unter denen sich die durch die List eines preußischen Verräters herbeigelockten Führer Warmiens, Natangens und Bartens befanden. Mit den führerlosen Stämmen wurden die Ordensritter auf Streifzügen schnell fertig; es sah aus, als wäre ihre Herrschaft gesichert. Gleichwohl gebot die Vorsicht die Anlage militärischer Befestigungswerke.

Unter den Burgen, die damals in dem unterworfenen Lande errichtet wurden, finden wir auch Brunsberg. Die wichtige Verkehrslage des Ortes, die schon die Preußen erkannt und ausgenutzt hatten, mußte dem Orden auch strategisch wertvoll erscheinen. So führte er denn hier i. J. 1240 oder 1241 ein einfaches Verteidigungswerk auf, im Schütze von Wasser, Wall und Plankenzaun ein Blockhaus für die militärische Besatzung. Diese Befestigung sollte der Ausgangspunkt für eine deutsche Siedlung werden. Schon zogen erwartungsvolle, mutige Kolonisten zu rüstiger Aufbauarbeit an, als ein jäher Sturm die ersten Keime der deutschen Kultur vernichtete.

Im Sommer 1242 brach nämlich ein Aufstand der unterjochten Eingeborenen los. Im Bunde mit Herzog Swantopolk von Pomerellen, der von Westen her die junge deutsche Herrschaft aufrollen wollte, erhoben sich die Preußen allenthalben gegen die verhaßten Fremden, erstürmten mit wildem Ingrimm ihre Burgen, erschlugen die Besatzungen und was ihnen von deutschen Siedlern in die Hände fiel. So fand auch die eben erst entstandene Braunsberger Pflanzung ein schnelles Ende.

Und doch inmitten der blutigen Kämpfe nahm der mit den nordischen Missionsverhältnissen wohlvertraute päpstliche Legat Wilhelm von Modena in sicherer Erwartung des christlichen Endsieges i. J. 1243 die Einteilung Preußens in vier Bistümer vor, von denen das mittlere Warmien oder Ermland das umfangreichste war.

Als der Orden i. J. 1248 Swantopolk zum Frieden gezwungen hatte, brach auch der preußische Aufstand zusammen, und durch Vermittlung des päpstlichen Gesandten Jakob von Lüttich kam am 7. Februar 1249 ein Vertrag zustande, in dem die unterworfenen Stämme des westlichen Preußen die Ordensherrschaft anerkannten und die Annahme des Christentums versprachen. Die Warmier erklärten sich bereit, bis zum nächsten Pfingstfest sechs Kirchen zu erbauen, so ansehnlich und schön, daß ihnen dort die Ausübung des Gottesdienstes mehr gefallen sollte als in den Wäldern. Die letzte dieser Kirchen sollte in dem vorerwähnten Brusebergue erstehen. Der Orden verpflichtete sich, die Gotteshäuser binnen Jahresfrist mit Priestern zu besetzen und auszustatten.

Dieser Frieden schien dem Aufbauwerk des Ordens endlich die gesicherte Grundlage zu geben. So konnte er denn aus den Ruinen neues Leben erblühen lassen, mit der Anlage neuer Burgen und Siedlungen beginnen. Dabei kam der altpreußische Platz an der Passarge wegen seiner günstigen Lage sogleich wieder in Betracht. Es fehlte auch nicht an Kolonisten, die für diesen Ort besonderes Interesse bekundeten.

Schon seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert hatte die 1143 begründete Seestadt Lübeck in ihrer baltischen Handelspolitik eine erstaunliche Aktivität entfaltet. Von der Aufsegelung der Düna bis zur Germanisierung Livlands begleitete eine Kette von Erfolgen ihre wagemutigen Unternehmungen. Und als die Eroberung Preußens begann, regten sich sofort in diesem wichtigsten Ausgangshafen der Ostsee lebendige Kräfte zu wertvoller Hilfe. Schon bei der Besiedlung Elbings waren Lübecker Bürgersöhne bestimmend tätig; i. J. 1242 plante die freie Reichsstadt einen Kriegszug gegen das Ermland, wo ein städtischer Handelsplatz erstehen sollte; 1246 unternahm tatsächlich eine Anzahl lübischer Bürger mit livländischen Ordensbrüdern einen siegreichen Vorstoß gegen die Samländer.

Unter jenen Männern, die sich dem Orden durch ihre bewährten Kriegsdienste empfohlen hatten, begegnen wir am 10. März 1246 dem Lübecker Ratsherrnsohn Johann Fleming. Schon damals heißt es, es sollte ihnen in Warmien Landbesitz zugeteilt werden. Alle Umstände sprechen dafür, daß Fleming nach dem Friedensvertrage von 1249 im Einvernehmen mit dem Orden an die Besiedlung von Braunsberg heranging. Hier bot sich ihm die Möglichkeit einer ähnlichen Stadtgründung, wie sie seine Vaterstadt Lübeck und Elbing waren: nicht unmittelbar am Meere gelegen, aber in naher Entfernung an einem schiffbaren Flusse. An dem erforderlichen Kapital zur Durchführung des kostspieligen Unternehmens, an dem weitreichenden Einfluß zur Gewinnung heimischer Kolonisten fehlte es dem jungen Lübecker Patriziersprossen nicht; so glauben wir in ihm den Mann erblicken zu dürfen, der nach Anlage einer neuen Ordensbefestigung schon i. J. 1250 die Arbeit einer deutschen Siedlung neben der altpreußischen in Angriff nahm.

Nach Angabe des Ordenschronisten Peter von Dusburg lagen diese Burg und die neue Stadt auf einer Insel der Passarge, kaum zwei Steinwürfe flußabwärts von der Stelle, wo wir sie jetzt finden. Wenn auch die unbestimmte Entfernung nicht wörtlich genommen werden dürfte, so ist doch an der Tatsache einer späteren Verlegung der Stadt nicht zu zweifeln. Vermutlich dürfte wie i. J. 1240 jene inselartige Stelle gewählt worden sein, wo der Rotwassergraben in die noch unbegradigte Passarge mündete, damals etwas unterhalb der jetzigen Kreuzkirche. Hier, wo leichte Erhebungen Schutz vor Überschwemmungen boten, wo die Passarge und das Rotfließ im Osten, Norden und Westen die Vorbedingungen zu einem brauchbaren Verteidigungswerk wie zu einem nutzbaren Hafen zu erfüllen schienen, machten sich die fremden Anzöglinge unter Flemings Führung ans Werk, um eine deutsche und christliche Handelsstadt zu begründen.

Wenn sie ihrer Niederlassung den Namen Brunsberg gaben, so folgten sie damit einer Gewohnheit, die auch sonst dort angewandt wurde, wo bereits eine preußische Siedlung vorhanden war: man übernahm den preußischen Ortsnamen, formte ihn aber der deutschen Sprache mundgerecht um. So wurde aus Brusebergue Brunsberg, was in der niederdeutschen Mundart jener Kolonisten gleichbedeutend mit dem hochdeutschen Braunsberg war. Eine gewisse innere Berechtigung dieses Namens ergab sich leicht für sie, die bei ihrer Ankunft in die neue Heimat zunächst die weißen Dünen der Nehrung, das „Witland", begrüßten und dann hinter dem Spiegel des Haffes und der Niederung der Passargemündung die eiszeitliche Erhebung, auf der die Stadt erbaut werden sollte, als braunen Berg bezeichnen konnten.

Wenn wir im April 1251 einem Pfarrer Friedrich von Braunsberg begegnen, so sind wir zu der Folgerung berechtigt, daß bereits eine hinreichende christliche Gemeinde hier bestanden haben muß. Wahrscheinlich haben die bekehrten Preußen ihrem Versprechen gemäß schon 1249 ein primitives Kirchlein erbaut, wohl dort, wo man östlich des heutigen Klenauer Weges schon im 14. Jahrhundert ein Ackerstück als alten Kirchhof bezeichnete. Der vom Orden bestellte Pfarrer Friedlich hatte ebenso die neugetauften Preußen, die vielleicht in der Gegend des jetzigen Köslin wohnten, wie die deutschen Anzöglinge seelsorglich zu betreuen.

Inzwischen hatte die neue Diözese Ermland i. J. 1250 in dem Ordensbruder Anselmus ihren eisten Bischof erhalten. Nach eingehender Beratung wählte er am 27. April 1251 entsprechend den Bestimmungen der Einteilungsbulle von 1243 das geschützte, mittlere, vom Ordensgebiet umgebene Drittel seiner Diözese als selbständiges Fürstentum aus. Die Passarge sollte von der Quelle bis zum heutigen Borchertsdorf die Westgrenze des ermländischen Territoriums bilden; nur ihr Unterlauf geholte ganz dem Bistum an, wenn auch an der Nordgrenze das Ordensgebiet sich in einem auffälligen Winkel die Rune entlang nahe an die Passargemündung heranschob; dazu gestattete der Bischof Anselm dem Orden noch die Mitbenutzung der bei Braunsberg zwischen Rune und Passarge gelegenen Wiese. Der Wunsch der Ritterbrüder, an den schiffbaren Fluß heranzukommen, war unverkennbar.

So lag nun Braunsberg im ermländischen Bistum. Anselmus erkannte vertragsgemäß die von der Ordensherrschaft getroffenen Bestimmungen als ihm genehm und zu Recht bestehend an und nahm an der Entwicklung des aufstrebenden Gemeinwesens tätigsten Anteil. Wenn uns auch Einzelheiten über diese Zeitspanne fehlen, so ersehen wir doch aus einer Urkunde vom 27. Dezember 1254, daß damals schon Braunsberg vom Bischof das Stadtprivilegium erhalten hatte und für die Errichtung der Kathedralkirche in Aussicht genommen war. Diesen Plan verwirklichte er im Juni 1260, indem er seinen Willen kundtat, in der Passargestadt die ermländische Mutterkirche zu Ehren des hl. Andreas zu begründen und ein Domkapitel zu stiften, das aus 16 Kapitularen bestehen sollte.

Indessen wenige Monate nach diesem Entschluß, am 20. September 1260, raste mit so unerwartetem Ungestüm ein Orkan über die preußischen Lande, daß allem Planen und Schaffen der deutschen Christen ein jähes Ende gesetzt wurde. Die schwere Niederlage des livländischen Ordenszweiges bei Durben, die tückische Verbrennung eingeborener Häuptlinge durch den Lenzenberger Ordensvogt stachelten die weitverbreiteten Kräfte des Widerstandes zu geschlossenem Abfall und Aufruhr an. Schlagartig brach es los: unter zielbewußter Führung stürmten die wütenden Preußen die Burgen, Städte und Kirchen, plünderten sie nach Herzenslust und brannten sie nieder, erschlugen die Deutschen oder führten sie in die Knechtschaft.

Auch Braunsberg ereilte das traurige Schicksal. Die Stadt hatte in den wenigen Jahren ihres Bestehens unter dem umsichtigen Schultheißen Johann Fleming eine verheißungsvolle Entwicklung genommen. Niederdeutsche Kolonisten waren dank seiner rührigen Werbetätigkeit von Lübeck her ins ferne Ostland gesegelt, um am Passargestrand unter lübischem Recht ein neues Gemeinwesen zu bilden. Grundlegende Bauarbeiten an der Stadt, am Hafen und Fluß fühlten unter der wohlwollenden Förderung des bischöflichen Landesherrn zu den ersten sichtbaren Erfolgen. Da vernichtete völkischer Haß alle Früchte ihres emsigen Strebens.

Ein starkes Heer der Preußen wälzte sich, vermutlich noch im September, von Süden her gen Braunsberg und belagerte die Stadt. Zum Widerstand entschlossen, verbarrikadierten Bürger und Burgbesatzung alle schwachen Stellen und Zugänge der Befestigung mit Wagen und anderem hölzernen Wirtschaftsgerät. Da begann der wilde Angriff; einen ganzen Tag lang stürmten die Preußen an. Auf beiden Seiten fiel manch tapferer Mann, mehr noch wurden verwundet. Aber die heldenmütigen Verteidiger nötigten die Feinde zum Rückzug: doch blieben Abteilungen von diesen in der Nähe, vielleicht auf dem Köslin, zurück, um den Eingeschlossenen die Verbindungen abzuschneiden. So wuchs in der Stadt die Not. Als sich nun 40 Männer herauswagten, um Heu und Holz zu holen, wurden sie von den Preußen überfallen und sämtlich erschlagen. Dahielt die Bürgerschaft ernsten Rat, getraute sich nach ihren empfindlichen Verlusten und bei dem drohenden Hunger den Ort nicht mehr gegen einen zweiten Ansturm zu verteidigen und entschloß sich, schmerzbewegt und doch die Zahne zusammengebissen, zum Letzten: Sie legten selbst Feuer an Burg und Stadt und flüchteten mit Weib und Kind und der wenigen Habe, die sie mitnehmen konnten, gen Elbing. Unterwegs trafen sie 60 Kriegsleute, die ihnen die Ordensritter von Elbing zu Hilfe gesandt hatten. Zu spät, da Braunsberg verloren und zerstört war; gemeinsam traten sie den Weg nach der sicheren Schwesterstadt an und pflanzten noch am Grabe die Hoffnung auf. Denn auch in Elbing hielten sie mit ihrem Schulzen und Pfarrer als eigene Gemeinde treu zusammen, trotz aller trüben Erfahrungen und inmitten der hartnäckigen Kämpfe in ungebrochener Zuversicht des Zeitpunktes harrend, wo sie ihre geliebte Stadt Braunsberg wieder aufbauen und beziehen könnten.

Darüber vergingen aber lange, bange Jahre. Es bedurfte immer erneuter Kreuzzugsbullen der Päpste, um aus den verschiedensten Gegenden Mitteleuropas Streiter für die bedrohte Sache Christi im Preußenlande zu gewinnen, und auch Bischof Anselmus, der im März 1261 Preußen verlassen hatte, warb auf seinen Reisen durch Böhmen, Mähren und Schlesien eifrig für die Teilnahme an dem heiligen Kampf. Erst als i. J. 1273 die Häuptlinge der Natanger und Warmier gefangen und gehängt worden waren, unterwarfen sich die führerlosen Stämme. Auch ein verzweifelter Vorstoß der Pogesanier gegen Elbing endete im selben Jahre mit einer harten Bestrafung ihres Gaues.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die flüchtigen Braunsberger den ersten Sicherheit bietenden Zeitpunkt benutzten, um an ihre ersehnte Wiederaufbauarbeit in der zerstörten Passargestadt heranzugehen. Da die Feindseligkeiten an der Haffküste i. J. 1273 erloschen, steht - zumal bei den Widerspruchsvollen Angaben der späteren Chronisten - nichts der Annahme entgegen, daß schon im nächsten Jahre 1274 mit den ersten Vorbereitungen begonnen wurde. Dazu gehörte auch die Verbindung des Schultheißen Fleming mit seiner Vaterstadt, wo er neue Ansiedler gewinnen und neue Kapitalien beschaffen mußte. Bischof Anselmus mußte ein natürliches Interesse haben, daß seine Kathedralstadt wieder aus der Asche erstehe. Wenn er auch in der Fremde alternd und durch viele Enttäuschungen entmutigt, nicht mehr recht an ein Gelingen glauben wollte, so stellte er der Bürgerschaft für ihr (7) großes Vorhaben doch 100 Mark reinen Silbers (je 16 Lot) und einen Teil seines Nachlasses testamentarisch zur Verfügung. Die neue Stadt Brunsberg wurde oberhalb der alten Stelle angelegt. Gewichtige Gründe müssen zu dieser veränderten Planung mitgewirkt haben. Fürs erste mag vielleicht eine abergläubische Scheu vor jener Gegend zurückgeschreckt haben, wo bereits zweimal hoffnungsvolle Ansätze so schmerzlich erstickt waren. Vermutlich hatte aber auch die Erfahrung gelehrt, daß die Verteidigung jenes Platzes besonders schwierig, daß er selbst vor Hochwasser nicht genug geschützt war. Sorgfältige Überprüfung des Geländes ergab, daß die heutige Stelle der Altstadt nach dem nötigen Ausbau den Anforderungen der miltärischen Sicherheit mehr entsprach, auch weniger der Überschwemmungsgefahr ausgesetzt sein mußte. Selbstverständlich war zur Verlegung des Ortes die Zustimmung des bischöflichen Landesherrn oder seines Vertreters, vielleicht sogar wegen der Burganlage die der Ordensritter, notwendig, indessen die Hauptverantwortung trug dabei der Siedlungsunternehmer (Locator) Johann Fleming, der nur für eine aussichtsreiche Stadtgründung Kapital und Kolonisten werben konnte.

Vielleicht bedeutet die für die Erbauung der Stadt „to dem Brunsberghe" angegebene Jahreszahl 1276 der Chronik Detmars von Lübeck den Zeitpunkt, an dem neue niedersächsische Auswanderer die Seereise nach Braunsberg antraten. Inzwischen mochte unter Flemings Leitung das große Aufbauwerk in Angriff genommen worden sein. Da waren unter Ausnutzung der natürlichen Terrainverhältnisse für die ersten Befestigungen Erdmassen zu verlagern, Wege zu ebnen, Flußregulierungen und Hafenarbeiten durchzuführen, die herrschaftliche Burg, primitive Häuser für den Gottesdienst und Versammlungen zu errichten, Unternehmungen, bei denen die Preußen, die durch den letzten Abfall die 1249 festgesetzten Rechte und Freiheiten verwirkt hatten, Frondienste leisten mußten. Aber es blieb dabei auch für die Deutschen übergenug Arbeit, zumal sie selbst noch durch den Bau notdürftiger eigener Wohnräume, Ställe und Scheunen, durch den neuen landwirtschaftlichen, handwerklichen oder Handelserwerb aufs stärkste in Anspruch genommen waren. Bischof Anselm im schlesischen Reichenbach fühlte sich aber durch den glücklichen Umschwung der Dinge in Preußen im Juli 1277 veranlaßt, das bis auf ein Mitglied ausgestorbene ermländische Domkapitel zu er­neuern und grundlegende Bestimmungen über diese geistliche Körperschaft zu treffen. Er starb jedoch im nächsten Jahre, ohne sich von den Fortschritten der neuen Siedlung persönlich überzeugt zu haben.

Sein Nachfolger wurde i. J. 1279 der erst vor zwei Jahren zum Dompropst ernannte Bruder des Braunsberger Lokators Heinrich I. Fleming. der schon früher dem Braunsberger Domkapitel angehört und während des großen Aufstandes eine niederösterreichische Pfarrei als Zuflucht erhalten hatte. Ehe er im Frühjahr 1282 in sein Bistum zurückkehrte, hatte er mit seiner Vertretung in den geistlichen und weltlichen Angelegen­heiten den Elbinger Pfarrer und seinen Bruder Johann betraut. Diese weitgehende Vollmacht konnte den Plänen des Braunsberger Schulzen nur förderlich sein. Auch die Tatsache, daß ein Lübecker Patriziersohn den ermländischen Bischofsstuhl bestiegen hatte, mußte auf den lübischen Zuzug werbend wirken; kamen doch bald danach zwei weitere Brüder und ein Schwager des Bischofs ins Land, um mit Hilfe ihres beträchtlichen Vermögens eine großzügige Kolonisationsarbeit in Stadt und Land durchzuführen.

Aus Lübeck und seiner Umgegend, dem Gebiet des heutigen Holstein und Mecklenburg und der unteren Elbe scheinen die ersten Einwohner der christlichen Passargestadt eingewandert zu sein. Sie brachten aus ihrer alten Heimat in die neue ihr zähes Streben, ihren stolzen Freiheitssinn und ihr starkes Selbstbewußtsein, und mit ihrem Recht, ihren Sitten und Bräuchen begleitete sie in das ferne Ostland ihre niederdeutsche Mundart.

Als der Wiederaufbau Braunsbergs zu einem ersten Abschluß gelangt war, erteilte Bischof Heinrich mit Zustimmung des Kapitels der jungen Gemeinde am 1. April 1284 ihre Handfeste, ihre Verfassungsurkunde, die sich vermutlich im wesentlichen an Bischof Anselms Privileg für die erste Stadt anschloß, von dem wir leider keine Kunde haben.

Darin wurde zunächst das rund 328 Hufen große Stadtgebiet genau abgegrenzt. Es begann am linken Ufer der Passarge bei der Mündung des Büchleins, dessen Nett (der sog. Katzengrund) die Braunsberger Feldmark von den Gütern der Domherren (Dorf Zagern) schied. Von der Quelle dieses Baches verlief die Grenze geradeaus südlich bis zum Grenzmale gegen Fehlau hin, bog dort rechtwinklig nach Westen um zum Bache bei Sonnenberg, von hier nordwärts längs dieses Baches bis zu einem Wege, der über den „Landwehrgraben" fühlte, um dort auf die Sumpfwiesen des Haffes zu stoßen. Diese sollten bis zum Walde Rosenwalde (Rosenort) Gemeindeland sein. Der Gemarkung des Dorfes Klenau entlang (9) erreichte die Stadtgrenze die Passarge. Auf dem rechten Flußufer grenzte das Stadtgebiet an die Runewiesen und zog sich über den Rosser Weg längs der Passarge südlich bis zum bischöflichen Tafelgut Karwen (der Feldmark der späteren Neustadt). Von der sog. Freiheit wurde der Stadt damals nur ein drei Meßseile (120 Meter) breiter Streifen jenseits des Grabens, der noch heute die Freiheit von der Aue und dem Roßgarten trennt, als zinsfreies Gemeindeland zugewiesen.

Diesen weitgedehnten Grundbesitz erhielt die Bürgerschaft zu dem von der Heimat her gewohnten lübischen Recht mit allem Nutzen und Nießbrauch außer der Biberjagd und dem Bergbau auf Gold, Silber, Salz und sonstige Bodenschätze. Für Mühlen- und Wasserwehranlagen war die bischöfliche Er­laubnis erforderlich. Noch zehn Jahre sollten die Bürger von allen Steuern frei sein; von Martini 1294 aber war von jeder städtischen Hufe 1/4 Mark der üblichen Münze an den Bischof zu entrichten. Frei von dieser Abgabe blieben die 100 Hufen Gemeindeland, die als Weide, Wald und Sumpf in der Feldmark lagen, dazu die 6 Hufen, die jenseits der Mühle Arnolds (Wecklitzmühle) gegen die Burg Unserer lieben Frau als Pfründe der Katharinenpfarrei ausgeworfen wurden.

Im ganzen Stadtbereich, auch auf den öffentlichen Straßen, auf Wegen und Stegen, sollte die Bürgerschaft die erbliche Gerichtshoheit genießen, eine ungewöhnliche Vergünstigung. Ein Drittel der Geldbußen sollte der Bischof als oberster Gerichtsherr erhalten, das zweite die Stadt; das letzte Drittel, das dem Lokator als Schultheißen zustand, hatte die kapitalkräftige Gemeinde bereits von Johann Fleming abgekauft und sich dadurch das Schulzenamt, den Vorsitz beim Gericht, selbst gesichert. Als Zeichen besonderer Gunst verlieh der Bischof weiter den Einwohnern und Bürgern für alle Zukunft freie Fischerei mit jeder Art von Gezeugen im ermländischen Teil des Haffes wie in der Passarge. Nur die Flußmündung sollte ausgenommen sein, um den Zug der Fische nicht zu stören: ebenso durften die Braunsberger ohne landesherrliche Genehmigung in der Passarge nicht Aalsäcke aufstellen und Wehre errichten.

Das volle, uneingeschränkte Lübecker Recht sicherte den Bürgern folgende Freiheiten: An einem geeigneten Tage der Woche durften sie ihr Erbe, soweit es nicht ländliche Lehen waren, vor dem Richter und Erbgerichte der Stadt verkaufen, vertauschen, verschenken, darauf verzichten. Ebenso bedurften sie nicht der bischöflichen Zustimmung zur Wahl, Einführung und Absetzung der kommunalen Obrigkeiten, des Schultheißen, der Schöffen, Ratsherren und Älterleute; einzig und allein das Wohl der Stadt sollte dabei entscheidend sein. Weiter durfte die Gemeinde zu ihrem Nutzen für Bäcker und Fleischer, Schuster, Kürschner und Krämer Verkaufsstände errichten und allen Zins daraus selbst ziehen. Schließlich versprach der Bischof den Bürgern, wenn auch ungern, daß er, keiner Ordensgenossenschaft innerhalb der Stadtgrenzen eine Hofstätte oder ein Grundstück schenken oder verkaufen würde, es sei denn mit Willen und Zustimmung der Bürgerschaft. Es sollte dadurch offenbar in der Bischofsstadt der wirtschaftlichen Ausbreitung der sog. toten Hand vorgebeugt werden.

Den Rechten einer freien Reichsstadt kamen die ganz ungewöhnlichen Privilegien nahe, die Bischof Heinrich sicher in Anlehnung an frühere Festsetzungen seinen Lübecker und niedersächsischen Landsleuten feierlich verbriefte. Uneingeschränkte Selbstverwaltung, fast vollkommene Gerichtshoheit, weitgehende finanzielle und materielle Berechtigungen, ein umfangreicher Landbesitz bedeuteten Dank und Anerkennung des bischöflichen Landesherren für die bisher geleistete zweimalige Aufbauarbeit, zugleich aber auch die beste Propaganda für neue Anzöglinge. Demgegenüber war die Anerkennung der Territorialherrschaft in dem ländlichen Grundzins, in dem Drittel der Gerichtsgefälle, in einigen Vorbehalten von wenig Belang. Kein Wunder, wenn sich aus diesem Grundprivileg, das der wirtschaftlichen Entwicklung, aber auch dem Selbstbewußtsein und Freiheitsdrang der Stadt mächtigen Auftrieb gab, Spannungen zu den bischöflichen Landesherren, ihrer Autorität und ihren Rechtsansprüchen ergeben mußten.

Von dem entscheidenden Umbruch aber, der sich in diesen Zeiten an der Passarge wie im Preußenlande vollzogen hatte, kündete das Siegel, mit dem die junge Gemeinde ihre Briefe und Urkunden beglaubigte. Der noch heute von der Stadtverwaltung aufbewahrte ehrwürdige sog. Sekretstempel von 36 Millimeter Durchmesser zeigt auf einer Wiese eine heraldisch stilisierte Linde, rechts davon einen Drachen, links einen Hirsch, dazu die Umschrift: Secretum Burgensium Brunsberg. (Sekretstempel der Bürger von Brunsberg.) Wenn wir die geheimnisvolle Sprache dieses Wappens recht verstehen, bedeutet die deutsche Linde den Schutzbaum der ganzen Gemeinde. Der Drachen gilt schon seit der ältesten christlichen Zeit als das Symbol des Teufels und des Heidentums; demgegenüber versinnbildet der Hirsch als Feind des Drachens Christus, den Überwinder der Hölle. So wollte vermutlich 11 das Siegel nicht allein den Sieg des Christentums über das Heidentum, wie ihn auch die im Ordenslande vielverehrte Braunsberger Kirchenpatronin St. Katharina offenbarte, zum Ausdruck bringen, sondern zugleich den Triumph der christlich-deutschen Kultur über die heidnisch-preußische und die Vereinigung der einheimischen früher heidnischen Preußen mit den zugewanderten, christlichen Deutschen unter derselben Landeshoheit, wie auch der Name Brunsberg preußische und deutsche Elemente verband. Seit kurzem hat die Stadt wieder dieses ursprüngliche Wappen zu Ehren gebracht.

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Dies ist ein Kapitel der Festschrift "Braunsberg im Wandel der Jahrhunderte" von Franz Buchholz zum 650jährigen Stadtjubiläum

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