KREISGEMEINSCHAFT BRAUNSBERG (OSTPREUSSEN) e.V.

 

Seit 1945 fährt das Ermland zweigleisig

von Hans Preuschoff

(aus Ermlandbriefe Weihnachten 1981)

 

Aus Anlaß des 100. Geburtstages des einstigen Kardinalprimas von Polen Hlond am 3. Juli 1981 brachten die „Deutsche Tagespost" und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" eine aufschlußreiche Schilderung seines Lebensweges aus der Feder von Dr. Alfred Schicket. Der Name Hlond weckt in uns Ermtändern ungute Erinnerungen, ist er es doch gewesen, der 1945 Bischof Maximilian Kailer zum Verzicht auf die Jurisdiktion (Hoheit) Ober die Diözese Ermland gezwungen hat. Darüber wird in diesem Aufsatz ausführlich zu handeln sein. Im August 1925 war der in Oberschlesien geborene Salesianer August Hlond zum Bischof der nach der Abtretung Ostoberschlesiens an Polen gegründeten Diözese Kattowitz ernannt worden. Bereits nach einem knappen Jahr wurde er zum Erzbischof von Gnesen und Posen und damit zum Primas von Polen berufen. Im Herbst 1927 erhielt er den Kardinalspurpur. 1939 flüchteten er und der Bischof von Kulm, Okoniewski, vor den anrückenden deutschen Truppen, keineswegs zur Freude des Heiligen Vaters.

Anders als Hlond und Okoniewski verhielt sich 1945 der Bischof von Danzig, Carl Maria Spielt. Obschon er ahnen mußte, was ihm bevorstand, blieb er beim Einmarsch der Sowjets auf seinem Posten. Nach der Resignation des Bischofs O'Rourke war Splett als Pfarrer von Oliva 1938 zum Bischof von Danzig ernannt worden, natürlich mit Zustimmung der NS-Behörden, was gewiß schon genügte, ihn in den Augen der Polen verdächtig zu machen. Dazu kam, daß der Papst Splett nach der Flucht Okoniewskis zum Administrator der verwaisten Kulmer Diözese ernannte. Die polnischen Priester des Bistums waren zumeist entweder ermordet oder ins KZ verschleppt worden, sofern sie nicht untertauchen konnten. Um die Seelsorge in der von den Deutschen besetzten Diözese aufrechtzuerhalten, wurden auch Geistliche aus der Diözese Ermland dorthin geschickt. so der Pfarrer von Klaukendorf, Leo Kaminski, nach Zempelburg und Gr. Lutau, Pfarrer Franz Bulitta von Willenberg in den Seelsorgsbezirk Schweiz, Pfarrer Paul Dziendzielewski von Diwitlen nach Neukirch, Kr. Dirschau, Pfarrer Albert Zink von Gr. Leschienen in die Nähe von Graudenz. Bischof Splett ist dann später von den Polen für Maßnahmen verantwortlich gemacht worden, die nicht er, sondern der Gauleiter und Reichsstatthalter von Danzig-Westpreußen, Forster, und die Gestapo veranlaßt hatten. Dazu gehörte vor allem das Verbot der Beichte in polnischer Sprache, zu dem sich Splett nur deshalb schwersten Herzens bereit fand, weil die Gestapo sonst die gesamte Seelsorge im Gebiet der Administratur lahmgelegt hätte. Die Polen verurteilten Splett zu acht Jahren Zuchthaus. Nach Abbüßung der Strafe wurde er noch in südpolnischen Klöstern festgehalten, bis er auf Ersuchen von Kardinalprimas Wyszynski (Hlond war bereits 1948 gestorben) im Dezember 1956 endlich in die Bundesrepublik Deutschland entlassen wurde, l. J. 1964 hat ihn in Düsseldorf ein plötzlicher Tod ereilt. Von den in der Kulmer Diözese eingesetzten ermländischen Priestern haben Kaminski und Dziendzielewski mit Gestapo-Gefängnissen Bekanntschaft gemacht.

Nach Kriegsende kehrte Kardinal Hlond in seine Erzdiözese zurück mit dem papstlichen Sonderauftrag, sich der kirchlichen Verhältnisse in den von den Polen besetzten deutschen Ostgebieten anzunehmen. Aus der Erzdiözese Breslau schnitt er die Administrator Oppeln (Opole) heraus. Auf den von Polen besetzten Teilen Brandenburgs und Pommerns errichtete er die Administraturen Landsberg (Gorzow) und Stettin-Kammin (Szczecin-Kamien). Zu den Maßnahmen Htonds äußert sich Schicket in seinem eingangs erwähnten Aufsatz wie folgt: „Besonders Pius XII. sah das eigenwillige Verhalten Hlonds in den kirchenrechtlich und konkordatsmäßig immer noch zu Deutschland gehörenden Diözesen Schlesiens, Pommerns und Ermlands — bis hin zum Verdrängen des deutschen Bischofs Kalter — mit zunehmendem Unbehagen, konnte und mochte aber die erteilten Vollmachten wegen der inzwischen eingetretenen schwierigen kirchenpolitischen Lage in Polen nicht zurücknehmen." Dazu ist zu bemerken, daß es keine Diözesen Ermlands gab noch gibt, sondern nur eine. Die von Hlond errichteten drei Administraturen wurden 1972 zu Bistümern erhoben, als auf Grund der Ostverträge von 1970 die kirchenrechtliche Eingliederung der „annektierten deutschen Ostgebiete in die polnische Hierarchie" erfolgte, l. J, 1972 gründete der Heilige Stuhl noch von sich aus in Ostpommern das Bistum Kösiin-Kolberg (Koszalin-Kolobrzek). Schon seit 1945 wurden die Administratoren, Kapitularvikare, Generalvikare in den Ostgebieten zu den polnischen Bischofskonferenzen hinzugezogen.

Wenden wir uns jetzt den Vorgängen in unserer ermländischen Diözese zu. Als Anfang 1945 die Sowjets vorrückten, entschlossen sich Bischof Kalter und das Domkapitel, auf ihrem Posten in Frauenburg zu verharren. Doch wurde der Bischof am 7. Februar von der Gestapo abgeholt. Von Halle an der Saale aus, wo er schließlich gelandet war, kehrte er im August 1945 auf abenteuerlichen Wegen in seine Diözese zurück, um dort zu bleiben. „Trotz der Erklärung des Bevollmächtigten in Allenstein, daß darüber nur Warschau entscheiden könne, ging Kalier mit Eifer an die Ausarbeitung eines Plans zur Reorganisation und inneren Erneuerung der Diözese, durch die auch der nationale Antagonismus überwunden werden sollte." So H.-J. Karp in einer Besprechung des Aufsatzes von Jerzy Pietztak über die Tätigkeit Kardinal Hlonds in den von Polen besetzten deutschen Ostgebieten (ZGAE Bd. 38, S. 161 f.). Kaller ernannte u. a. den polnischen Geistlichen F. Borowiec zu seinem Generalvikar.

Da wurde ihm am 14. August ein Telegramm aus der Bischofsstadt der Kulmer Diözese Pelplin ausgehändigt, das eigentlich an Generalvikar Marquardt gerichtet war. Aus sowjetischer Gefangenschaft in Insterburg entlassen, hatte dieser für kurze Zeit in Allenstein die Leitung der Diözese übernommen. Als die Polen ihn alsbald wegen einer Maßnahme, die ihnen mißfiel, zwangen, innerhalb von drei Tagen die Diözese zu verlassen, wählte er mit dem Domherrn Dr. Schwark, der sich damals als einziges Mitglied des Domkapitels in Frauenburg. aufhielt, schnell noch den Erzpriester von Allenstein, Domherr Hanowski, zum Kapitelsvikar. Doch kam dieser „kaum zum Regieren", weil Bischof Kalter in Allenstein erschien. Der Bischof faßte das an den Generalvikar adressierte Telegramm als an sich gerichtet auf und begab sich dem Vernehmen nach in einem von der Regierung zur Verfügung gestellten Auto unverzüglich in Begleitung von F. Borowiec nach Pelplin. Dort hielt sich Kardinal Hlond auf. Was Bischof Kaller nicht wußte; Die Regierung in Allenstein schickte ihm in einem Auto, wie mir von zuverlässiger Seite mitgeteilt worden ist, Beamte nach Pelplin voraus. Sie erklärten dort, daß sie den Kardinal unbedingt vor dem Besuch Kallers sprechen müßten. Die Unterredung wurde ihnen gewährt. Worum es dabei ging, brauchen wir erst gar nicht zu rätseln. Spätestens durch die Regierungsbeamten erfuhr Hlond, daß nicht Dr. Marquardt, sondern Bischof Kalier selbst ihn aufsuchen werde. Ihm wäre es natürlich viel lieber gewesen, wenn der Bischof nicht mehr in seine Diözese zurückgekehrt wäre, das hätte ihm ihre „Gleichschaltung" wesentlich erleichtert. So mußte er den rechtmäßigen Bischof „absetzen". In einem „wenig brüderlichen Gespräch" — so der Kanzler von Pelplin, Kurland, der dabei gewesen war — bewog Kardinal Hlond Bischof Maximilian, wie schon eingangs erwähnt, zum Verzicht auf die Jurisdiktion im polnisch besetzten Teil der ermländischen Diözese — wohlgemerkt nur auf die Jurisdiktion, nicht auf das Amt selbst. Maximilian Kailer ist bis an sein Lebensende Bischof von Ermland geblieben. Wie der Besprechung von Karp weiter zu entnehmen ist, versuchte Hlond „Kailer zu überzeugen, daß im Bereich des polnischen Staates nur ein polnischer Bürger Bischof sein könne". Die vage Formulierung „im Bereich" ist absichtlich gewählt; tatsächlich war das Gebiet der Diözese nur von Polen besetzt. Auch hat Hlond bei Kailer den Eindruck erweckt, daß er im Auftrag des Papstes handelte, womit er, wie schon Schicke! in der zitierten Stelle aus seinem Aufsatz über Hlond angedeutet hat, die ihm erteilten Vollmachten eindeutig überschritt. Was Prälat Thienel zum Fall des Kapitularvikars von Breslau, Piontek, feststellte, als Hlond ihn ebenfalls zum Verzicht nötigte (ich komme darauf noch zurück), daß Piontek von Hlond keine Einsicht in die päpstlichen Vollmachten erhielt bzw. verlangte, dürfen wir auch auf den Vorgang in Pelplin beziehen. Es sei noch einmal Karp zitiert: „Kaller kam fassungslos und unter Tränen aus dem Gespräch mit dem polnischen Primas. Noch auf der Rückfahrt im Auto weinte er."

Es ist später gesagt worden, Maximilian Kailer habe nicht nach Allenstein fahren sollen und sich so die Demütigung durch Hlond ersparen können. Aber sein enger Mitarbeiter Dr. Fittkau schrieb mir, als ich eine solche Auffassung äußerte, Kalter habe als Bischof von Ermland den Kreuzweg gehen müssen, ganz gleich, was ihn an seiner letzten Station erwartete. Ich muß meinem Freunde recht geben. Gerade auch im Zusammenhang mit der erzwungenen Verzichterklärung des rechtmäßigen Bischofs von Ermland ist zu erwähnen, daß Bischof Dr. G lern p am 10. Oktober 1980, dem 100. Geburtstag von Bischof Maximilian, für ihn ein Pontifikalrequiem in der Frauenburger Domkirche gehalten und in der Predigt seiner großen Priesterpersönlichkeit und seines segensreichen Wirkens im Ermland gedacht hat. Noch als Mitarbeiter von Kardinalprimas Wyszynski weilte auf dessen Wunsch Dr. Glemp einige Wochen in Straelen am Niederrhein, um seine deutschen Sprachkenntnisse zu vertiefen. Als Bischof von Ermland machte er im Juli 1979 auf der Rückkehr von Frankreich noch einmal Station in Straelen. Von dort aus brachte ein Gemeindemitglied Bischof Glemp im Wagen nach Nürnberg. Gern erfüllte der Herr Hirn auch den Wunsch, in Königstein eine kleine Pause einzulegen, um das Grab von Maximilian «aller zu besuchen. Wörtlich sagte bei dieser Gelegenheit Bischof Glemp über unseren Bischof: „Wir im Ermland verehren ihn sehr; er war ein Mann der Kirche und hat damals für die polnischen Minderheiten sehr viel getan. Ich möchte wohl den Seligsprechungsprozeß für ihn einleiten." Diese uns sehr bewegenden Worte des Bischofs Glemp entnehmen wir einem Bericht von Pfarrer i. R. Gerhard Rogmann (in der Regionalausgabe für den Niederrhein im Kirchenblatt der Diözese Münster „Kirche und Leben" vom 9. August 1981). Wir wissen, daß heute in unserer alten Diözese die erm-ländische Tradition sehr gepflegt wird. Dabei interessiert vor allem die Zeit, in der das Ermland unter mehr oder weniger stark beachteter Wahrung seiner Eigenständigkeit unter polnischer Oberherrschaft stand. Das dürfen wir einer Tafel auf dem Frauenburger Domhof entnehmen, auf der die ermländischen Bischöfe von Lukas Watzenrode (1489-1512) bis Ignaz Krasicki (1766-1795) verzeichnet sind. Wir alten Ermländer werden es als schöne Geste begrüßen, wenn sich das Domkapitel entschließt, auf der Tafel alle ermländischen Bischöfe zu nennen, also auch den vom nunmehrigen Primas von Polen Glemp so hochverehrten Maximilian Kaller.

Bereits am 17. August 1945 hat Bischof Maximilian Allenstein, wohin er tags zuvor aus Pelplin zurückgekehrt war, in einem Lastwagen in Richtung Warschau verlassen. Von dort fuhr er mit der Bahn nach Posen und weiter nach Stettin. Er ist dann nach Westdeutschland übergewechselt. Am 7. Juli 1947 ist er in seiner ärmlichen Mietwohnung in Frankfurt a. M. plötzlich gestorben, l. J. 1946 war er noch zum Leiter des „Päpstlichen Sonderamtes für die heimatvertriebenen Deutschen" ernannt worden. Die beiden letzten Jahre seines Lebens hat sich Bischof Kailer für seine heimatvertriebenen Leidensgenossen aufgeopfert. Sein Einstand im Ermland ist dereinst nicht leicht gewesen. Wir hätten natürlich gern einen unserer Priester als Nachfolger von Augustinus Bludau auf dem Frauenburger Bischofsstuhl gesehen. Aber durch seinen glühenden Seelsorgseifer hat Bischof Maximilian die Herzen der Ermländer gewonnen. Das bezeugen die alten Ermländer aus eigenem Erleben, die jungen wissen es aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern.

Was nach Bischof Kallers Tod geschah, entbehrt nicht der Dramatik. Runde tausend Kilometer von der Kathedralkirche entfernt wählte das ermländische Domkapitel am 11. Juli 1947 den für eine Sedisvakanz vorgesehenen Kapitularvikar. Und was das besonders Merkwürdige dabei war. Das ermländische Kapitel, das ihn wählte, bestand nur aus einem Mitglied: Dr. Bruno Schwark, der erst vor kurzem aus Frauenburg ausgewiesen worden war. Domdechant Dr. Aloys Marquardt war noch in sowjetischer Gefangenschaft. Nach seiner Ausweisung aus Altenstein hatte er sich nach Berlin durchschlagen können. Ein sowjetischer Offizier lockte ihn am 30. Juli 1945 unter einem infamen Vorwand und Bruch des Ehrenwortes aus dem amerikanischen Sektor und entführte ihn mit dem Flugzeug nach Moskau. So absurd es klingt: Der Grund der Festnahme Dr. Marquardts könnte in seiner Amtsbezeichnung Generalvikar zu suchen sein. Die Sowjets vermuteten in ihm möglicherweise einen hohen Offizier ebenso wie in dem Generalintendanten der Berliner Staatlichen Schauspiele Gustaf Gründgens, den sie gleichfalls verhafteten. Der ermländische Dompropst Franz Xaver Sander und die Domherren Andreas Hinzmann, Dr. Franz Heyduschka, Dr. Wladislaus Switalski, Anton Krause, Dr. Bruno Gross sind nach dem Einmarsch der Sowjets umgekommen. Erwähnt seien auch die zwei ermländischen Domherren, denen das NS-Regime ihre Stelle kostete: Alfons Buchholz und Josef Steinki. Beide waren aus politischen Gründen zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt worden. Dafür, daß sie vorzeitig aus der Haft entlassen wurden, mußten sie aus dem Domkapitel ausscheiden. Ich zähle noch die vier ermländischen Ehrendomherren auf, weil sie mehr waren, als ihr Titel besagt, denn sie durften an der Bischofswahl teilnehmen: Johannes Hanowski, Erzpriester in Allenstein, Franz Ringel, Propst und Dekan in Marienburg, Bernhard Poschmann, Dekan in Christburg, und Otto Thamm, Erzpriester in Guttstadt. Ich habe die Namen all der Domherren auch deshalb genannt, weil mit ihnen ein großer Abschnitt der Geschichte der ermländischen Diözese und vor allem des Domkapitels zu Ende gegangen ist. Kirchlicher Mittelpunkt ist, wie soeben gesagt, heute Allenstein. Die Kathedralkirche in Frauenburg als solche wird jetzt noch aufgesucht, wenn ein neuer Domherr installiert, d. h. den Vorschriften gemäß in sein Amt eingewiesen, wird. An bestimmten Festtagen findet in ihr ein Pontifikalamt statt. Da die Domkapitulare nach ihrer Installierung keine Dotationen mehr erhalten, bleiben sie auf ihren bisherigen Stellen. Doch wird jedem von ihnen wie früher ein Altar in der Kathedrale zugewiesen sowie ein Platz im Kapitelssaal und im Domherrengestühl.

Die Domkirche ist auch zur Frauenburger Pfarrkirche geworden, seitdem die alte Pfarrkirche unten in der Stadt eine andere Bestimmung erhielt. Viele, die den Dom heute aufsuchen, sind Touristen, die den herrlichen Bau bewundern und die Konzerte auf der prachtvollen, mit unserer Hilfe restaurierten Orgel anhören. Gebetet wird im Dom auch viel von den Ermländern aus dem Westen, die es in ihre alte Heimat zieht. Ich habe die alten Domherren alle zumindest vom Anschauen gekannt. Einem von ihnen bin ich von Jugend auf freundschaftlich verbunden gewesen: Dr. Marquardt. Unsere Väter waren Lehrer im gleichen Kollegium der Katholischen Mädchenschule in Braunsberg. Ihm gehörte auch der Vater Hinz an, die Vornamen seiner Kinder werden vielen Ermländern noch etwas sagen: Josef, Aloys, Maria, Franz, Ludwig. Der Zufall wollte es, daß wir, Dr. Marquardt und ich, die letzten Jahre seines Lebens in Köln nahe beieinander wohnten. Auf den gemeinsamen Spaziergängen kehrten unsere Gespräche immer wieder nach Frauenburg zurück, der Stätte seines priesterlichen Wirkens von seiner Weihe bis zur Gefangenschaft, abgesehen von einigen Studienjahren in Rom. Durch seine Pflichtstrenge hatte sich Dr. Marquardt vom Domvikar zum Generalvikar und Dom-dechanten hochgedient. Von ihm erfuhr ich zum ersten Male, daß Bischof Kaller zum Erzbischof von Köln ausersehen sei, doch habe Gauleiter Koch seine Ernennung verhindert. Später habe ich erfahren, daß Bischof Maximilian noch vor Graf Galen der von der NSDAP bestgehaßte Bischof gewesen ist. Und ehrlich gesagt: In Kenntnis der Kölner Verhältnisse kann ich mir Bischof Kaller kaum als Oberhirten der Erzdiözese vorstellen. Schon der Sauerländer Schulte, dessen Nachfolger er werden sollte, ist mit den Rheinländern nicht glücklich geworden, der Oberschlesier Kaller hätte es mit ihnen gewiß noch schwerer gehabt. Dr. Marquardt erzählte mir auch, daß Gauleiter Koch als Oberpräsident die Ernennung von Propst Kather zum Domkapitular abgelehnt habe. War ihm, den der Heilige Vater noch zum Apostolischen Protonotar ernannt hatte, sein Grab auch nicht auf dem Frauenburger Domherrenfriedhof gegönnt, so hat Dr. Marquardt doch nach seinem Tod am 1. August 1972 nach einem langen, qualvollen Sterben, das er wie ein Heiliger annahm, eine würdige Ruhestätte in der Gruft der Kölner Domherren vor dem Chor der berühmten Kathedrale gefunden.

 

Dr. Schwark wählte zum Kapitularvikar den eben genannten Propst von Elbing, Arthur Kather, der damals in Rulle bei Osnabrück wohnte. Die Wahl wurde vom Heiligen Stuhl, nachdem er sich vom ersten Schreck erholt hatte, in Anbetracht der einmaligen Umstände ausdrücklich gebilligt. Folgerichtig wurde Kapitularvikar Kather als Repräsentant der im Preußenkonkordat von 1929 und dem Reichskonkordat von 1933 einbeschlossenen ermländischen Diözese fortan zur Fuldaer Bischofskonferenz eingeladen. Die Wahl eines Kapitularvikars in der Bundesrepublik Deutschland dürfte auch dadurch gerechtfertigt sein, daß die Mehrzahl der Ermländer, die Kriegs- und Nachkriegszeit überstanden haben, hier ihre Zuflucht gefunden hat. Sie waren vor den Sowjetrussen geflüchtet in der vergeblichen Hoffnung, eines Tages in die angestammte Heimat zurückkehren zu können. Und immer noch drängen Aussiedler aus dem Ermland in die Bundesrepublik. Dabei sollen die Ermländer, die heute in der „DDR" wohnen, nicht vergessen sein. Die Verbindung mit ihnen zu halten ist der vielleicht wichtigste Auftrag für die Ermländer, die das Glück haben, schon lange im freien Westen zu wohnen. Erwähnt sei auch, daß Ermländer aus dem Westen, die die alte Heimat aufsuchen, dort zu ihrer Überraschung gelegentlich Landsleute antreffen, deren Muttersprache die deutsche ist und die das Polnische schlecht oder gar nicht beherrschen. Sie gedenken, zumeist ihres hohen Alters wegen, nicht die Heimat zu verlassen, sondern haben sich schlecht und recht mit den neuen Verhältnissen abgefunden. Sie sind seinerzeit beim „Bevölkerungstransfer" übersehen worden.

Daß die Wahl Dr. Schwarks auf Propst Kather fiel, wurde in den ermländischen Kreisen als selbstverständlich angesehen, war dieser doch zu seiner Zeit die herausragende Gestalt im ermländischen Klerus. Als Kaplan und Caritaspfarrer in Braunsberg nahm er sich vor allem der männlichen Jugend an. Als Propst der großen Arbeiterpfarrei von St. Nicolai in der Industriestadt Elbing war er gerade in der Zeit der schweren Arbeitslosigkeit um 1930 herum der richtige Mann auf dem richtigen Platz. Arthur Kather beeindruckte schon durch seine Erscheinung. Als er einmal nach dem feierlichen Abschluß der Bischofskonferenz mit den übrigen Oberhirten aus dem Fuldaer Dom auszog, fragte eine Frau, auf ihn weisend: „Was ist denn das für ein Bischof?" Mit meiner stolzen Antwort „Das ist der Kapitularvikar von Ermland!" wußte sie freilich nichts anzufangen. Kapitularvikar und Ermland waren ihr böhmische Dörfer. Ein echter Seelsorger, besonders beliebt als Beichtvater, des Wortes wie der Schrift mächtig, war Arthur Kather von einer bescheidenen Lebensführung, die sich mit einem natürlichen Selbstbewußtsein verband. Die Mitra, die ihm als Apostolischem Protonotar zustand, ließ er in der Kommodenschublade ruhen. Aufgesetzt hat sie ihm Ernst Laws erst nach seinem Tod, was gewiß nicht in seinem Sinn war.

Als Kapitularvikar (seit 1949 auch Päpstlicher Hausprälat, Protonotar seit 1953) war Kathers erste Sorge, daß die Ermländer in den neuen Verhältnissen, in die sie durch die Vertreibung gestoßen worden waren, dem Geist ihrer Heimat treu blieben. Immer wieder warnte er sie davor, dem Götzen Geld zu verfallen; heute sprechen wir nicht so kraß vom Wohlstandsdenken. Nicht zuletzt ging es ihm um die Einigkeit unter den Ermländern. Ihr galten die bewegenden Worte, die er kurz vor seinem Tod auf dem gemeinsamen Treffen der ermländischen Kreise in Münster gesprochen hat. Das Treffen hatte eine stürmische Vorgeschichte. Seitens der vorbereitenden Braunsberger Kreisgemeinschaft war zunächst für die Kundgebung ein Redner vorgesehen, dessen Auftreten mir gerade in Münster unmöglich erschien. Mit Rückendeckung durch Prälat Kather gelang es mir dann, an seiner Stelle den dem Ermland und dem Prälaten verbundenen Staatssekretär Dr. Peter Paul Nahm vom Bundesvertriebenenministerium als Hauptredner durchzusetzen. Gerade im Hinblick auf diese Vorgänge ist die Mahnung Prälat Kathers an seine Landsleute am Schluß seiner Ansprache zu würdigen: „Im Zeichen des Kreuzes habt ihr euch zusammengefunden. Im Zeichen des Kreuzes sollt ihr auch zusammenbleiben!"

Bei dieser Gelegenheit darf ich ein Kapitel über die jahrelangen zähen Verhandlungen zwischen Kapitularvikar Kather und der Ostpreußischen Landsmannschaft einschieben. Letztere wollte die geschichtliche Sonderstellung des Ermlandes nicht anerkennen und nur die aus der königlich-preußischen Zeit stammenden Kreise mit den Kreisgemeinschaften gelten lassen. Dabei wurde einmal von der anderen Seite ein regelrechter Wortbruch begangen, der Prälat Kather in seiner ehrlichen Einstellung schwer getroffen hat. Ich denke noch an ein Gespräch im Haus des von mir persönlich hochgeschätzten Siedlungsberaters Robert Parschau in Ahrbrück, welcher, um es mit Bismarck zu sagen, den ehrlichen Makler zu machen suchte. Gesprächspartner waren Ernst Laws und ich auf der einen, der starke Mann der Landsmannschaft Egbert Otto auf der anderen Seite. Otto, von Hause aus Ermländer aus Klaukendorf, richtete sofort scharfe Angriffe gegen das Ermland. So tadelte er den „Landesverrat", den der ermländische Bischof Paul von Legendorf 1466 begangen habe, als er aus der Oberhoheit des Deutschen Ritterordens in die des König von Polen überwechselte. Wir versuchten ihm klarzumachen, daß die späteren, vom Nationalismus bestimmten Anschauungen nicht auf jene Zeit übertragen werden könnten und daß, wenn überhaupt von einer Schuld an den damaligen Vorgängen geredet werden sollte, der Orden selbst daran einen erheblichen Anteil hatte. Auf ausdrücklichen Wunsch von Prälat Kather bin ich in den Beirat der Kreisgemeinschaft Braunsberg eingetreten und habe auch einige Jahre das Amt ihres Vorsitzenden übernommen, um wie schon mein Vorgänger Dr. Ludwig Hinz die Verbindung zwischen ihr und dem Ermland zu halten. Das Hauptverdienst an einer Klimaverbesserung zwischen dem Ermland und der Ostpreüßiscnen Landsmannschaft kommt dem früheren Landrat von Heilsberg Dr. Ernst Fischer zu. Sein ausgleichendes Wesen und sein Verhandlungsgeschick machten es möglich, daß er zugleich Vorsitzender der Ermländervertretung und Kreisvertreter von Heilsberg sowie Vorstandsmitglied der Ostpreußischen Landsmannschaft sein konnte. Er setzte einen Beschluß durch, nach welchem regelmäßig ein Vertreter der ermländischen Kreise dem Vorstand der Landsmannschaft angehören soll.

Um seine Ermländer zusammenzuführen und zu halten und ihnen Trost und Hilfe in ihrem schweren Schicksal zu geben, schickte ihnen Prälat Kather die „Ermlandbriefe" ins Haus, die zunächst einen bescheidenen Anblick boten, sich aber allmählich zu einem respektierlichen Blatt mauserten, das zu den drei Hochfesten und noch einmal im Sommer erscheint und zu der Zeit, wo diese Zeilen geschrieben werden, immerhin eine Auflage von 35 000 erreicht hat. Um die Ermländer sozusagen unter einem Dach zusammenzuhalten, ließ Kapitularvikar Kather den „Historischen Verein für Ermland" den Briefen die Beilage „Unsere ermländische Heimat" hinzufügen. Eine Beilage erhielt auch das „Junge Ermland", das sich gerade in seiner Ära mitunter recht selbstbewußt zeigte. Auf Treffen in allen Teilen der Bundesrepublik suchte Prälat Kather den persönlichen Kontakt mit seinen Ermländern. Das größte dieser Treffen war und ist die Wallfahrt nach Werl am ersten Maisonntag. Zu ihm strömen jedes Mal Tausende von Ermländern von Flensburg bis Freiburg zusammen. Die Wände der großen Basilika hallen wider von den mit größter Begeisterung gesungenen alten ermländischen Kirchenliedern. Nachdem er noch ein Jahr zuvor aus ermländischen Priestern ein Konsistorium einberufen hatte, ist Kapitularvikar Kather am 25. Juli 1957 in Osnabrück gestorben und am 30. Juli auf dem Domherrenfriedhof in Münster begraben worden. Für die Ermländer war er schon längst „der Prälat" geworden. Wie er, schon sichtbar vom Tod gezeichnet, geleitet von einem ihm zu größtem Dank verpflichteten Mitarbeiter, die Halle Münsterland zu dem erwähnten Treffen der ermländischen Kreise betrat, wurde er von seinen Ermländern mit lebhaftem Händeklatschen empfangen. Als sein Nachfolger an einem der ersten Treffen unter seiner Amtsführung teilnahm, sagte ein alter Ermländer treuherzig zu ihm: „Eck mott mi doch den nieen Koather bekicke!" Ehe wir uns von der Ära Kather verabschieden, haben wir noch des Mannes zu gedenken, der dem Kapitularvikar gerade in den ersten schweren Jahren der Aufbauarbeit für die vertriebenen Ermländer mit Rat und Tat treu zur Seite gestanden hat. Wir haben seinen Namen bereits genannt: Dr. Ludwig Hinz (+ 17. September 1979). Auch sei noch erwähnt, daß Kapitularvikar Kather einen Kreis von Geistlichen und Laien heranzog, Vorläufer der heutigen Ermländervertretung und des Ermländerrates.

Der Nachfolger Prälat Kathers hieß Paul Hoppe. Bei seiner Wahl zum Kapitularvikar, die vom Heiligen Stuhl gleichfalls bestätigt wurde, hatte sich das Domkapitel in der Bundesrepublik bereits verdoppelt. Domdechant Marquardt war im Dezember 1955 endlich aus sowjetischer Gefangenschaft entlassen und 1956 zum Vizeoffizial der Erzdiözese Köln ernannt worden. Hoppe war Kaplan in Elbing, als Prälat Kather dort Propst war. Seit 1938 Pfarrer in Königsberg, blieb er beim Einmarsch der Sowjetrussen 1945 auf seiner Stelle und amtierte im Auftrag von Bischof Kaller bis zu seiner Ausweisung am 30. November 1947 als Generalvikar für den unter sowjetischer Verwaltung stehenden nördlichen Teil der Diözese Ermland. Er gehörte zu den von Prälat Kather ernannten Konsistorialräten. Kapitularvikar Hoppe (Prälat seit 1958) errichtete in Münster neben dem Provinzialmutterhaus der Katharinenschwestern das Ermlandhaus, in das er 1961 von Osnabrück, wo auch Prälat Kather zuletzt gewohnt hatte, eingezogen ist. Im Jahr 1972 infolge der erwähnten „Normalisierung" der Verhältnisse in den Ostgebieten erlosch das Amt des Kapitularvikars. Doch blieb Prälat Hoppe als Apostolischer Visitator kirchlicher Mittelpunkt der Ermländer in der Bundesrepublik. Nach seiner Resignation aus Alters- und Gesundheitsgründen im Jahr 1975 wurde Pfarrer Johannes Schwalke sein Nachfolger. Er bekleidet wie Arthur Kather und Paul Hoppe die hohe Würde eines Apostolischen Protonotars. Zur Freude der Ermländer läuft die Arbeit für sie in den gewohnten Bahnen weiter.

Um die gleiche Zeit wie Prälat Hoppe wurde der schlesische Geistliche Hubert Thienel zum Apostolischen Visitator ernannt, und zwar für die in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Katholiken aus der Erzdiözese Breslau. Auf den nach dem Tod von Kardinalerzbischof Bertram von Breslau (6. Juli 1945) gewählten Kapitularvikar Dr. Ferdinand Piontek wurde von Kardinal Hlond am 12. August 1945, also wenige Tage vor dem Gespräch mit Bischof Kalier der gleiche Druck ausgeübt. Piontek hatte das Glück, daß ein Restteil der Erzdiözese um Görlitz herum bei Deutschland verblieben war. So nahm er dort seinen Wohnsitz. Mit dem Vorgehen Hlonds hat sich Prälat Thienel im „Heimatbrief der Katholiken des Erzbistums Breslau" (7. Jg. Nr. 4/1980) auseinandergesetzt. Uns interessiert besonders sein Hinweis, daß der Breslauer Ordinariatsrat Dr. Kaps im September 1945 den Papst persönlich über das Verhalten Hlonds in Breslau unterrichtet hat. Darauf „erklärte ihm der Heilige Vater Papst Plus XII. betroffen, das habe er nicht beabsichtigt!". Was der Heilige Vater hier zum Fall Piontek gesagt hat, können wir mit gutem Gewissen auch auf den Fall Kaller beziehen.

 

Werfen wir nun unseren Blick hinüber in die alte Heimat. „Was geschah in Ostpreußen?" fragt der russische Schriftsteller Lew Kopelew in seinem Tatsachenbericht „Aufbewahren für alle Zeit!" (dtv S. 19). Kopelew ist im März 1945 beim Vormarsch der Sowjets als Oberinstrukteur für die „Arbeit unter den Truppen des Gegners und in der Feindbevölkerung" wegen „mangelnder Wachsamkeit und bürgerlichhumanitärer Einstellung in Form von Mitleid mit den Deutschen" aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und im Oktober 1947 zu zehn Jahren Strafhaft verurteilt worden. Heute lebt er, von den Sowjets ausgebürgert, in der Bundesrepublik Deutschland. Kopelew fährt fort: „War eine derartige Verrohung unserer Leute wirklich nötig und unvermeidlich? — Vergewaltigung und Raub, mußte das sein?" Nun folgen zwei Sätze, die nicht unmittelbar in den Zusammenhang gehören, die ich aber den Lesern nicht vorenthalten will; ich gestehe, daß ich die Luft anhielt, als ich sie las: „Warum müssen Polen und wir uns Ostpreußen, Pommern, Schlesien nehmen? Lenin hat seinerzeit schon den Versailler Vertrag abgelehnt, aber dies war schlimmer als Versailles." Der Oberstleutnant Sabaschtanskij, Abteilungschef in der Frontpolitverwaltung, sagt, kurz bevor die Sowjets in Ostpreußen einmarschieren: „Den Weibern, Kindern, Volkssturmleuten wird es schlimm genug ergehen." Wir wissen, daß Sabaschtanskij mit seiner „Prophezeiung" auf furchtbare Weise recht behalten hat.

Den Feststellungen Kopelews und Sabaschtanskijs haben wir hinzuzufügen, daß die Sowjets alle arbeitsfähigen Männer und Frauen, die sie in unserer Heimat antrafen, nach Rußland verschleppt haben. Als Beispiel für unzählige andere sei das Schicksal der Familie der jüngsten Schwester meines Vaters angeführt. Sie hatten in Heinrichsdorf im Kirchspiel Bludau eine schöne Abbauwirtschaft von 200 Morgen und fünf stramme Kinder. Die beiden Söhne wurden Soldat. Der ältere wurde nach Jahren aus sowjetischer Gefangenschaft entlassen, der jüngere, der fast noch ein Kind war, als er eingezogen wurde, ist seit 1943 vermißt. Nach dem Einmarsch der Sowjets wurden der Vater und die drei Töchter nach Rußland verschleppt. Als erster wurde der Vater entlassen, viel später auch eine Tochter, die beiden anderen sind in den Lagern Rußlands zugrunde gegangen. Die Mutter blieb 1945 allein zurück. Sie mußte ihr Grundstück verlassen und mit anderen alten und arbeitsunfähigen Menschen auf einen Hof zusammenziehen. Von Zeit zu Zeit wechselte die Gruppe ihren Standort. Ihr gehörte auch der Pfarrer von Bludau, Paul Mattern, an, den ein polnischer „Mitbruder" von seiner Stelle verdrängt hatte. Immerhin konnte er wenigstens die Toten aus der Gruppe auf dem heimatlichen Kirchhof begraben. Unsere Menschen haben sich in der alten Heimat fast zwei Jahre durchgehungert. Es war noch ihr Glück, daß damals auf den Wiesen und in den Wäldern Pilze in Mengen wie kaum je zuvor wuchsen. Die meisten und besten Pilze fand der Onkel Bernhard. Der Bruder meines Vaters bewirtschaftete mit seiner Schwester den großväterlichen Hof. Auch ihn hatten die Sowjetrussen zunächst mitgenommen. An seiner Seite marschierte der größte Bauer des Dorfes, Anton H. Als sie zum Kirchdorf Bludau kamen, sagte der Onkel Bernhard (ich übersetze seine Worte ins Hochdeutsche): „Siehst du, Ton, es war uns schon allen zu weit und zu schwer, am Skapulierfest mit dem Opfer nach Bludau zu gehen. Nun müssen wir es im tiefen Schnee tun, und wo es noch so kalt ist!" Der Ton, an sich ein resoluter Mann, antwortete sehr still: „Ja, ja, Bernhard, hast recht!" Und sie mußten noch Ober Bludau hinaus weiterziehen. Doch ließen sie den Onkel Bernhard bald laufen, er war immerhin bald 67 Jahre alt. Den Ton aber behielten sie, obwohl er noch älter war. Aber er war Amtsvorsteher und Pg. Woher die Sowjetrussen das wußten? Man sagte nachher, einer aus dem Dorf habe ihnen die Parteigenossen verraten, vielleicht um seine Haut zu retten. Auch Ermländer sind nur Menschen. Von Anton H. hat man noch gehört, daß er in Mohrungen gestorben sein soll.

Eines Tages wollte Onkel Bernhard in seinem Garten nachsehen, was aus den Obstbäumen geworden sei, die er gepfropft hatte. Doch wurde er von den neuen „Besitzern" aus Ostpolen weggejagt. Als meine Frau mit unseren beiden Kindern vor einigen Jahren den großväterlichen Hof besuchte, wurden sie dort freundlich empfangen. Und was die Meinigen überraschte: Die Polen kamen sofort auf den Besuch von Onkel Bernhard zu sprechen. Offensichtlich hatte es ihnen längst leid getan, daß sie ihn damals so schlecht behandelt hatten. Sie haben jedenfalls meine Familie bewirtet, so gut sie es konnten, in derselben großen Stube, in der wir vor über sechzig Jahren die goldene Hochzeit unserer Großeltern gefeiert haben. Der Haß der ersten Zeit war längst dem Verständnis für das Schicksal der einstigen Besitzer gewichen, zumal die neuen selber Flüchtlinge aus dem von den Sowjets beanspruchten Ostpolen sind.

Am 3. November 1946 wurde unser Häuflein (denn dazu war die Gruppe durch Todesfälle inzwischen zusammengeschmolzen) aus dem Land der Väter ausgewiesen. Das genaue Datum verdanken wir Pfarrer Mattern, der noch dazugehörte. Manche Leser werden sagen, wenn sie meinen Bericht verfolgt haben, sie wüßten noch von viel schlimmeren Dingen zu erzählen, die sich bei uns am und nach dem Ende des Krieges zugetragen haben. Ich will ihnen nicht widersprechen. Mir kam es nicht so sehr darauf an, Schlimmes zu berichten und Untaten gegen Untaten aufzurechnen, als dem törichten Gerede entgegenzutreten, das man hierzulande auch aus prominentem Munde immer noch hören kann: Wir hätten doch zu Hause bleiben und nicht flüchten sollen. Hätten wir uns so verhalten, wären die Arbeitsfähigen gleichfalls verschleppt und die Nichtarbeitsfähigen ausgesiedelt worden. Ohnehin war die Aussiedlung der Deutschen aus dem Osten eine von den Alliierten beschlossene Sache, nur sollte der Bevölkerungstransfer, wie man heute beschönigend sagt, nach dem Willen der Westmächte in „humaner Weise" vor sich gehen ... Hatte Stalin gehofft, daß der Zustrom von Millionen Vertriebenen in das durch den Krieg schwer angeschlagene Westdeutschland hier ein Chaos bewirken werde, das ihm die Möglichkeit gab, im trüben zu fischen, so hatte er sich völlig verrechnet. Es waren gerade die Vertriebenen, die durch ihren eisernen Willen, aus dem Nichts wieder zu etwas zu kommen, entscheidend zum Wirtschaftswunder beigetragen haben. Die Sowjets haben 1945 eine große Chance verpaßt. Enttäuscht von der Haltung der Westmächte, hätte sich das deutsche Volk ihnen zugewandt, wenn sie sich anders aufgeführt hätten. Aber sie konnten sich als eine vom Geist des Nationalismus beherrschte Diktatur gegenüber der Bevölkerung nur so benehmen wie zuvor die Nationalsozialisten in Rußland. Beiden war es unmöglich, ein anderes Volkstum zu achten.

Eine Sonderstellung nahmen im Ermland die sogenannten Autochthonen ein. Wer diese sind? Lassen Sie mich etwas ausholen! Als der Süden des Deutschordenslandes einschließlich des Ermlands durch die verheerenden Kriege im 15. Jahrhundert menschenleer geworden war und der Drang deutscher Bauern und Bürger nach Osten aufgehört hatte, zogen in die „Wildnis" Polen aus dem benachbarten Masowien ein. Im eigentlichen Ordensgebiet nannten sie das von ihnen bevölkerte Land nach ihrer Heimat Masuren — das Masuren, nicht die Masuren, wie Freunde aus dem Westen gern sagen. Die Masuren waren die Bewohner. Als 1525 der Hochmeister Albrecht von Brandenburg das Ordensland in ein weltliches Herzogtum verwandelte und zur Lehre Luthers übertrat, folgte gemäß den damaligen Grundsätzen das Volk seinem Beispiel, also auch die Masuren. Ihre Borussifizierung wurde dadurch wesentlich gefördert.

 

Länger bewahrten die Polen im südlichen Ermland ihr Volkstum. An sie denken wir heute vor allem, wenn wir von Autochthonen sprechen. Sie widerstanden stärker den Bemühungen um ihre Verpreußung oder Eindeutschung, die vor allem über die Schule erfolgte. Noch 1893 schickte der Wahlkreis Allenstein-Rößel den polnischen Pfarrer von Gilgenburg, Wolszlegier, als seinen Abgeordneten in den Reichstag. Bei der Volksabstimmung vom 11. Juli 1920 bekannte sich der weitaus Oberwiegende Teil der Autochthonen zum Verbleib bei Deutschland. Der Sperling in der Hand war ihnen offensichtlich lieber als die Taube auf dem Dach. Der Sperling war das Deutsche Reich, obwohl es durch den Vertrag von Versailles schwer angeschlagen war, die Taube das neue Polnische Reich, dessen Stabilität sie anscheinend mißtrauten. Wesentlich zum Ergebnis dürften die im Abstimmungsgebiet geborenen Menschen beigetragen haben, von denen viele seit Jahren und Jahrzehnten in Westdeutschland wohnten. Sie waren stimmberechtigt und haben auch die in der Heimat gebliebenen Verwandten und Freunde beeinflußt. Auffallend war bei den letzten halbwegs freien Wahlen im März 1933 die große Zahl von NS-Stimmen in den von den Autochthonen bewohnten Gebieten; es handelte sich um Angstwahlen. Beim Einmarsch der Sowjets 1945 blieben sie zumeist im Land. Sollten sie sich der Hoffnung hingegeben haben, daß sie von den Sowjetrussen besser behandelt würden als die übrigen Ermländer und Ostpreußen, so wurden sie bald eines anderen belehrt. Der uns schon bekannte Oberstleutnant Sabaschtanskij sagte beim Kampf um Graudenz gegen Ende des Krieges zu seinen Untergebenen: „Es ist nicht eure Aufgabe, Marodeure zu fangen und Zetermordio zu schreien, wenn ein Soldat sich ein deutsches Flittchen greift — meinetwegen auch ein Polackenweib, das ist völlig gleichgültig!" So haben sich dann die Sowjetsoldaten auch verhalten. Je zahlreicher Polen aus Kongreß- und Ostpolen ins südliche Ermland einwanderten, um so fremder fühlten sich die alten Bewohner, nicht zuletzt auch in kirchlicher Hinsicht, in ihrer angestammten Heimat, auch wenn sie ihre Grundstücke zumeist behalten durften. So drängten sie — je länger, desto stärker — in die Bundesrepublik Deutschland, weil ihnen die alten ermländischen Landsleute näher stehen als ihre neuen Nachbarn. Auch mag die Sorge mitsprechen, daß ihre Kinder in den Schulen zu Kommunisten erzogen werden. Allerdings müssen sie nach ihrer Aussiedlung oft die schmerzliche Erfahrung machen, daß ihre Kinder hierzulande nicht weniger negativen Einflüssen ausgesetzt sind. Eine Rolle spielen bei dem Entschluß zur Aussiedlung mitunter auch wirtschaftliche Motive1).

Wenden wir uns jetzt den kirchlichen Verhältnissen im Ermland seit dem Zusammenbruch von 1945 zu. Mit den Polen aus Ost- und Kongreßpolen kamen nach Ermland und Masuren auch polnische Geistliche, die die daheim gebliebenen Priester verdrängten, zumal wenn diese nicht polnisch sprechen konnten. Wir erwähnten schon den Fall des Pfarrers von Bludau, Paul Mattern. Die Verwalter der ermländi-schen Diözese hatten viel zu tun, um die Seelsorge in rechte Bahnen zu lenken und weniger geeignete Priester auszumerzen, die die Gelegenheit wahrgenommen hatten, sich in den besetzten Gebieten gute Stellen zu verschaffen. Nach der „Geschichte der Diözese und des Hochstifts Ermland" von Ernst Manfred Wermter (Osnabrück 1977, S. 14) hat Kardinal Hlond am 15. August 1945 den Professor an der Katholischen Universität Lublin Dr. Theodor Bensch zum Administrator der Diözese Ermland ernannt. Der Termin läßt aufhorchen. In der mehrfach erwähnten Besprechung von Karp heißt es, daß Bischof Kaller unverzüglich nach Empfang des Telegramms aus Pelplin am 14. August dorthin aufgebrochen sei, wie wir annehmen dürfen mit dem Auto, und in Marienwerder übernachtet habe. Am 16. August sei, so Karp, Kalier abends nach Allenstein zurückgekehrt. Wir wollen zugunsten von Hlond nicht annehmen, daß die Unterredung erst am Morgen des 16. August erfolgte, denn in dem Fall riätte er die Ernennung des Administrators schqn vor der Verzichterklärung Kailers vorgenommen. Hat das Gespräch am 15. August stattgefunden, so hat Hlond unmittelbar die Ernennung von Bensch verfügt Auf jeden Fall hat Hlond mit der Verzichterklärung des Leiters der Diözese gerechnet. Der Name Bensch ist ihm gewiß nicht Ober Nacht eingefallen, auch dürfte er den Lubliner Professor über die auf ihn zukommende Aufgabe unterrichtet haben.

 

Dr. Theodor Bensch berief als Administrator ein Konsistorium von sechs Mitgliedern ein. Im Januar 1951 wurde er von Staats wegen gezwungen, innerhalb weniger Stunden die Diözese zu verlassen, angeblich weil er ernannt und nicht gewählt worden sei. Die Konsistorialräte mußten nun wählen, nicht jedoch, wie sie angenommen hatten, einen neuen Administrator, sondern einen Kapitularvikar. Sie erkoren den uns schon bekannten alten ermländischen Geistlichen Albert Zink, der inzwischen Notar bei der kirchlichen Behörde in Allenstein geworden war. So gab es jetzt, auch ein Unikum in der Kirchengeschichte, zwei ermländische Kapitularvikare, Kather in Osnabrück und Zink in Allenstein. Diese größte Stadt Ermlands, die auch Sitz eines Woiwoden (Ober-Präsidenten) ist, war, wie wir schon lasen, fortan Mittelpunkt der Diözese und nicht das abgelegene Frauenburg. Im Jahr 1951 ernannte Kardinal Wyszynski als eigentlicher oder — wenn man will — Oberadministrator der ostdeutschen Diözesen fünf Geistliche zu ermländischen Domkapitularen, darunter die beiden alteingesessenen Priester Leo Kaminski und August Scharnowski. Zum Domdechanten wurde vom Heiligen Stuhl Kapitularvikar Zink ernannt, weil man irrtümlich annahm, daß Dr. Marquardt in der UdSSR gestorben sei. Als dieser aber 1955 aus der Gefangenschaft entlassen worden war, erhob er verständlicherweise Anspruch auf die Würde des Domdechanten, und der Heilige Stuhl stimmte ihm zu. Es wurde eine glückliche Lösung gefunden: Allerdings erst 1958 wurde Zink auf die vakante Stelle des ermländischen Dompropstes befördert. Was besonders erwähnt werden muß: Vor der Ernennung Zinks zum Dompropst holte der Heilige Stuhl die Zustimmung von Kapitularvikar Hoppe in Osnabrück ein. Dieser war also damals für Rom noch der eigentliche Repräsentant der Diözese Ermland.

Daß die Auseinandersetzung um die Würde des Domdechanten zu keinen persönlichen Verstimmungen zwischen Marquardt und Zink geführt hat, beweist folgender Vorgang: Der Westdeutsche Rundfunk (WDR) brachte in seiner Sendung „Alte und neue Heimat" ein Gespräch mit Dr. Marquardt. Nach einiger Zeit schrieb ihm Zink aus Allenstein, wie sehr er sich gefreut habe, als er im Radio die vertraute Stimme seines alten Generalvikars hörte. Diese kleine Begebenheit besagt auch, wie genau unsere Rundfunksendungen drüben abgehört werden.

Am 29. September 1953 wurde Kardinalprimas Wyszynski von der Regierung Bierut verhaftet. Seinen bis 1956 dauernden Arrest verbrachte der Kardinal zum Teil im ermländischen Kloster Springborn. Nach seiner Verhaftung verlangte die Warschauer Regierung von den polnischen Bischöfen eine Ergebenheitserklärung. Die wurde ihr tatsächlich gewährt. Bei der Abstimmung darüber enthielt sich nur ein einziger der Stimme: Kapitularvikar Zink. Darauf hat der Primas gesagt, er habe nur zwei, die sich schützend vor ihn stellten: seinen Hund und den Niemec, den Deutschen, also Zink. So berichtet er es auch in seinen Memoiren. Zink wurde noch im Herbst 1953 gleichfalls festgenommen. Als er nach fünf Monaten aus der Haft entlassen wurde, mußte er feststellen, daß inzwischen Dr. Stefan Biskupski zum Kapitularvikar gewählt worden war.

Als 1956 in Polen Gomulka an die Macht kam, wurde Kardinal Wyszynski freigelassen. Er übertrug im selben Jahr dem bereits zum Bischof geweihten Dr. Thomas Wilczynski die Verwaltung der ermländischen Diözese. Wilczynski nannte sich Bischof in Allenstein. Unter seiner Ägide wurden zwei Weihbischöfe ernannt, Josef Drzazga und Johann Oblak, so daß es in Allenstein drei Bischöfe nebeneinander gab. Alle drei aber waren nur Titularbischöfe. Erst 1972 wurde im Zuge der „Normalisierung" Drzazga zum residierenden Bischof, also zum Bischof von Ermland, ernannt. (Wilczynski war im August 1962 gestorben.) Nach Drzazgas Tod 1978 wurde am 21. April 1979 der Gnesener Domherr Dr. Josef Glemp von Kardinal Wyszynski zum Bischof von Ermland geweiht. Der 1929 als Arbeitersohn in Hohensalza (Inowraclaw) geborene Priester hat auch in Rom studiert und dort promoviert. Bis er zum Domherrn von Gnesen ernannt wurde, war er lange Zeit im Sekretariat des Primas in Warschau gewesen, dessen Nachfolger er 1981 geworden ist.

Zum Schluß sei noch erwähnt, daß das Bistum Ermland heute dem Erzbischof von Warschau unterstellt ist, nachdem es seit dem Preußenkonkordat von 1929 der Kirchenprovinz Brestau zugeteilt war. Zuvor ist es jahrhundertelang exemt gewesen. Die Zahl der ermländischen Diözesanen, die 1944 rund 390 000 betrug, lag nach der Angabe Wermters (a. a. O. S. 15) 1977 bei etwa 1 186 000 — nicht eingerechnet die heimatvertriebenen Ermländer, die sich immer noch als solche fühlen unbeschadet ihrer Eingliederung in die Diözesen Restdeutschlands diesseits und jenseits der Elbe-Werra-Linie.

 

1) Über die Zahl der Polen im Ermland und in Westpreußen hat Horst Jablonowski in seinem Beitrag „Wie viele Polen hat es vor dem zweiten Weltkrieg in Ostpreußen gegeben?" Angaben gemacht (Acta Prussica, Abhandlungen zur Geschichte Ost- und Westpreußens, Fritz Gause zum 75. Geburtstag, Würzburg 1968), Jablonowski schreibt (S. 319 f.) aufgrund der Volkszählung vom 16. Juni 1925: „Diese sprachliche Minderheit (in Ostpreußen) wohnte vor allem in den Kreisen Allenstein-Land und Rößel sowie im Kreis Stuhm. Im Kreis Allenstein-Land hatten 1925 10 274 Personen (18,41 % der Wohnbevölkerung) Polnisch als Muttersprache angegeben und 10714 Deutsch und Polnisch (19,20 % der dortigen Wohnbevölkerung). Für den Kreis Rößel lauteten die entsprechenden Zahlen folgendermaßen: 1101 (= 2,25%) und 1748 (= 3,57 %). Der Kreis Stuhm wies nach der Volkszählung von 1925 5478 Polnischsprachige (= 14,94 % der dortigen Wohnbevölkerung) und 4041 Deutsch- wie Polnischsprachige (= 11,02 %) auf. — Im selben Band der Acta Prussica berichtet Anneliese Triller interessant über die Beziehungen zwischen Masuren und Autochthonen („katholische Masuren") in ihrem Aufsatz „Der polnische Volkskundler Oskar Kolberg (1814-1890) im Verkehr mit polnischen Pfarrern" (S. 285-297).

 

Und zwei Fotografien:

Bischof Maximilian Kaller in Marienburg 1931. Fotograf H. van der Piepen, Atelier i. Photographie, Marienburg (Einsender: Josef Bikowski, Glücksburger Weg 33, 6800 Mannheim-Gartenstadt)

www.braunsberg-ostpreussen.de