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WELT AM SONNTAG vom 14.12.2003:

170 Euro an deutschen Zwangsarbeiter für über fünf Jahre Workuta

Erstmals will Russland eine Entschädigung zahlen - Aber erst muss der  Deutsche nach Moskau reisen und ein russisches Bankkonto eröffnen.
    

     Berlin - Erstmals hat Russland einem deutschen Zwangsarbeiter die Zahlung einer Entschädigung zuerkannt. Nach Auskunft der Deutschen Botschaft in Moskau wurden dem heute 73-jährigen Heinz Bornschein aus Essen für 78 Monate umgerechnet etwa 170 Euro bewilligt. Bornschein musste zu Zeiten der Stalin-Diktatur unter anderem fünfeinhalb Jahre im gefürchteten sowjetischen Zwangsarbeitergebiet Workuta am Polarkreis in einem Kohlebergwerk unter Tage malochen.

     Die 170 Euro Entschädigung werden Bornschein allerdings nicht nach Deutschland überwiesen. Er erhält das Geld nur, wenn er ein "persönliches Bankkonto" in Russland eröffnet. Ein Konto dort darf er aber nur einrichten, wenn er extra nach Russland reist und seinen Antrag dazu persönlich am Schalter einer russischen Bank seiner Wahl stellt.

     Alle Anstrengungen deutscher Diplomaten, auf Behördenweg eine andere Regelung zu ermöglichen, sind bislang gescheitert.

     Die Botschaft in Moskau teilte dem früheren Zwangsarbeiter am 23. November dieses Jahres ihre Bemühungen beim zuständigen russischen "Departement" in Moskau mit: "Auf unsere Nachfrage, ob etwa eine  Auszahlung der Entschädigungssumme auf das Konto der Deutschen Botschaft oder einer ähnlichen Institution unter Vorlage einer Bevollmächtigung der zu entschädigenden Person erfolgen könne, wurde mitgeteilt, auch dies sei nicht möglich."

     Bornschein hat ausgerechnet, wie teuer ihn eine Reise nach Moskau käme. "Etwa 1500 Euro. Und das für 170 Euro Entschädigung!", sagte er dieser Zeitung.

     Deutschland dagegen entschädigt russische und andere ausländische Zwangsarbeiter der Hitler-Zeit ungleich höher - und so unbürokratisch und praktikabel wie möglich. Ein Russe, der beispielsweise im damaligen Deutschen Reich als Landarbeiter schuften musste, wird mit umgerechnet 2500 Euro entschädigt. Die Bundesstiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", von der deutschen Regierung und der deutschen Industrie ins Leben gerufen, überweist die Beträge für  Russen an die SBER-Bank in Moskau. Ausbezahlt wird von dort aus direkt an die einzelnen Opfer, je nach Wunsch in Dollar oder Euro. Bisher hat Deutschland über 80 Millionen Euro an die Moskauer Bank überwiesen. Weltweit hat die Stiftung gut 2,6 Milliarden Euro an 1,5 Millionen ehemalige Zwangsarbeiter ausgezahlt. Bornschein beklagt, dass das Auswärtige Amt unter Minister Joschka Fischer (Grüne) die Ungleichbehandlung aus politischen und historischen Gründen offenbar als durchaus gerecht ansieht. "Das nationalsozialistische Regime hat vielen Menschen in Europa großes Leid und Unrecht zugefügt", schrieb  ihm das Auswärtige Amt schon Anfang 2000. "Der Bundesregierung ist aber auch bewusst, dass viele Deutsche während des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach Opfer von Gewalt und Willkür durch fremde Mächte wurden. So groß dieses Unrecht auch war: Es hatte in der Regel seine Wurzeln in Untaten des NS-Regimes. Nicht zuletzt deshalb hat die Bundesregierung davon abgesehen, von der Russischen Föderation Entschädigung wegen erlittener Zwangsarbeit zu fordern." Der Tenor des Kanzleramtes und des Bundespräsidialamtes war in Briefen an Bornschein identisch - mit teilweise wörtlich übereinstimmenden Formulierungen.

     Schätzungsweise 200 000 Deutsche sind ab 1944 beim Vormarsch der Roten Armee zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert worden. Heinz Bornschein (Jahrgang 1930) gehörte zu jenen, die unmittelbar nach dem Krieg "Opfer von Gewalt und Willkür durch fremde Mächte" wurden. Der gebürtige Berliner wurde als 19-jähriger Redaktionsvolontär der SPD-Zeitung "Telegraf" am 23. März 1949 von sowjetischen Geheimagenten in den Ost-Sektor Berlins gelockt und verschleppt. Er wurde mit rund 200 anderen in einen Zug nach Moskau verladen. Anklage: "Konterrevolutionäre Umtriebe".

     Im September 1949 wurde er in der Moskauer Lubjanka, dem berüchtigten Gefängnis des sowjetischen Geheimdienstes, zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, die nach Stalins Tod 1953 auf zehn Jahre reduziert wurden.

     Ab April 1950 musste der Deutsche unter unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen in Workuta als Bergmann in einer Kohlengrube arbeiten. Die Zwangsarbeiter hausten in einer Baracke in einem einzigen Raum mit 150 bis 200 Mann, die meisten davon Russen. "Viele Kameraden starben an Unterernährung", sagt Bornschein.

     Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) handelte den Sowjets im September 1955 in Moskau die Freilassung von 10 000 Kriegsgefangenen und 20 000 Zivilinternierten ab und holte sie in einer legendären Aktion nach Hause. Auf Adenauers Forderungsliste stand auch der Name Bornschein. Am 13. Oktober 1955 traf Bornschein im Heimkehrerlager Friedland bei Göttingen ein - nach rund sechseinhalb Jahren in der Hand der Sowjets.

     Angestoßen durch die deutschen Entschädigungsverfahren zu Gunsten ehemaliger Zwangsarbeiter nach der Wiedervereinigung meldete Bornschein nach etlichen Irrwegen am 1. November 1999 seine Ansprüche über die Russische Botschaft in Berlin beim damaligen Vorsitzenden des Ministerrats der Russischen Föderation an: beim heutigen russischen Präsidenten und früheren KGB-Geheimagenten in der DDR, Wladimir Putin. Als keine Antwort kam, schaltete Bornschein die deutschen Behörden ein und wickelte alles über die hilfsbereite Botschaft in Moskau ab, die Rat erteilte und Übersetzungen veranlasste.

     Vier Jahre dauerte es, bis er einen ersten Erfolg erreichte: Der russische Generalstaatsanwalt rehabilitierte ihn, bestätigte ihm ein "besonders schweres Schicksal" und schickte ihm eine so genannte Rehabilitierungsurkunde. Bornschein ließ nicht locker. Schließlich erwirkte er einen Bescheid, dass er Anspruch auf eine Entschädigung habe. "Die Höhe der zustehenden Entschädigungssumme berechnet sich nach Artikel 15 des Gesetzes der Russischen Föderation über die  Rehabilitierung von Opfern politischer Repression und beträgt 75,- Russische Rubel pro Monat", ermittelte die Botschaft. Für 78 Monate seien das 5850 Rubel. Bornschein: "Für jeden der 2340 Tage sind das 2,5 Rubel."

     In den Augen Bornscheins, der es nach der Russlandheimkehr zum Vorstandsmitglied einer großen deutschen Autohandelsgesellschaft brachte, ist die Entschädigungsofferte der Russen ein Politikum. "Die Summe empfinde ich als perfide Verhöhnung", sagt er. Vorigen Sonntag schrieb er ans Auswärtige Amt und forderte: "Falls die Repräsentanten meines Landes eine solche Vorgehensweise aus politisch-taktischen Erwägungen widerspruchslos tolerieren, dann würde ich eine solche Handlungsweise als Verrat empfinden."

   Vollständige Url des Artikels: http://www.wams.de/data/2003/12/14/210689.html

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