KREISGEMEINSCHAFT BRAUNSBERG (OSTPREUSSEN) e.V.

 

Hans-Werner Janz

 

AUS MEINEM LEBEN UND ERLEBEN

 

Professor Dr. med. Hans-Werner Janz (1906 - 2003) war zuletzt ärztlicher Direktor am Klinikum Wahrendorff in Ilten bei Hannover. Seine Frau Antonia lebt in der Nähe von Hannover.

 

Wir schätzen uns glücklich, daß wir die Möglichkeit haben, seine Aufzeichnungen auf unserer Braunsbergseite den interessierten Landsleuten und Freunden zugänglich zu machen. Auf diese Weise wird der Verstorbene noch lange unter uns sein!

 

In den folgenden "Kapiteln" berichtet er zunächst vom "Anfang", dann über seine Zeit als Gymnasiast in Braunsberg 1917 – 1924, und schließlich über sein Studium u. a. in Königsberg.

 

Teil 1: Von Masuren bis nach Leipzig

 

Frühe Kindheit in Masuren

"Einen Finger nehm' ich nicht", soll ich als Dreijähriger mit weggezogener Hand gesagt haben, als unser Gemeindevorsteher, ein großer, wuchtiger Mann, mir zur Begrüßung von oben herab seinen Zeigefinger hinstreckte - ein frühes Zeichen gesunden "Selbstwertgefühls", wie man heute sagen würde?

"Wir träumten in der Johannesnacht und meinten, es wäre Schaum. Nun freuen wir uns, als wir erwacht, daß sich erfüllt der Traum: Euch blüht aus der Johannesnacht ein Röslein zart und fein, und wenn über ihm der Himmel lacht, so werden wir uns freu'n!" Mit diesem poetischen Bukett begrüßte das Pfarrer-Ehepaar W i s k i den Eintritt in mein Erdendasein am 24. Juni (Johannes der Täufer) 1906 in dem Marktflecken Widminnen, Kreis Lötzen (heute Wydminy und Gizycko).

Meine Mutter vertraute die mit dem Bilde einer roten Rose geschmückte Glückwunschkarte der Titelseite eines - noch erhalten gebliebenen - PhotographieAlbums an und versah sie mit zwei in weißer Tinte handgeschriebenen Zitaten: "Das Mutterherz ist der schönste und unverlierbarste Platz des Sohnes, selbst wenn er schon graue Haare trägt - und Jeder hat im ganzen Weltall nur ein einziges solches Herz." (Adalbert Stifter) und: "Mit einer Kindheit voll Liebe kann man ein halbes Leben hindurch für die kalte Welt haushalten" (Jean Paul). Zwar sollte der Himmel über dem späteren Leben des "Röslein zart und fein" (Geburtsgewicht: 9 Pfund!) keineswegs immer lachen. Aber seine Kindheit stand unter dem Glücksstern einer festen Geborgenheit in der elterlichen Liebe. Dieses Glück mag zur Entfaltung eines kräftigen, weder zu Ober- noch zu Unterschätzung des eigenen Wertes neigenden Selbstbewußtseins beigetragen haben, soweit es nicht auf einem von beiden Elternseiten her bestimmten genetischen Code beruht. Etwas davon scheint sich auf Photographien widerzuspiegeln, die den knapp vierjährigen Sprößling hoch zu Roß und am Steuer des ersten väterlichen Automobils - eines der ersten in Masuren überhaupt! - zeigen, eines "Piccolo" genannten, mit Außenschalt- und Bremsgestänge, Anwerf-Kurbel, GummiHupe und Karbid-Scheinwerfer ausgestatteten Vehikels.

Widminnen, inmitten der Wälder und Seen Masurens gelegen, war der erste Sitz der Arztpraxis meines Vaters, die er von einem Corpsbruder der Königsberger "Littuania", dem später zum Geheimen Sanitätsrat ernannten Dr. Joseph Sinnecker, übernommen hatte. Meine frühesten Erlebnisse verbinden sich mit den Elementen des Wassers und Feuers: Im Widminner See wäre ich einmal beinahe ertrunken, und ein anderes Mal drohte ich in ein Torfloch zu fallen. Eines Nachts brach im Laden des Kaufmanns Gustav MichaIowski..., in dessen Haus mein Vater seine Praxis ausübte, Feuer aus. Ich erinnere mich dunkel, in Decken gehüllt und fortgetragen worden zu sein. Den Brandgeruch glaube ich heute noch zu spüren. Er war es, der mir jäh in die Nase stieg, als ich nach dem ersten schweren Fliegerangriff auf Leipzig am 3. Dezember 1943 durch die noch raucherfüllten Straßen ging, um nach meinen Patienten in der Psychiatrischen Universitätsklinik zu sehen, die durch Brand- und Sprengbomben zerstört war. Wasser und Feuer haben seit jeher eine von Gefühlen der Zuneigung wie der Bedrohung gemischte Anziehungskraft auf mich ausgeübt.

Ich war und blieb einziges Kind, wurde aber vor dessen seelischen Gefährdungsmöglichkeiten bewahrt durch die pädagogisch kluge Erziehungsweise meiner Mutter und durch die Spielgemeinschaft mit den drei Kindern unseres Hausbesitzer MichaIowski. Er, selbst nicht Jude, hatte sich aus Liebe zu seiner jüdischen Frau mosaisch taufen lassen und galt damit im "Dritten Reich" als "Gesinnungs"- also "Voll-Jude". Mein Umgang mit seinen Kindern und der meiner Eltern mit dem Ehepaar M. war völlig unbefangen und ließ mich von früh an gefeit sein gegen jeden Anflug von Antisemitismus.

Nach 1933 gelang es dem ältesten Sohn Alfred noch rechtzeitig in die USA zu entkommen, der jüngere, Walter, ein Apotheker, konnte sich bis zum Kriegsende in Berlin versteckt halten und entging so dem Tode. Die Tochter Dora, die kleine lockenköpfige Gespielin meiner Kindheit, nahm sich 1943 das Leben.

Onkel Bruno, der von mir sehr geliebte Bruder meines Vaters, heiratete noch vor dem Ersten Weltkrieg Frieda MichaIowski, und so waren wir denn, wie es später unseligen Angedenkens hieß, "jüdisch versippt". Der Name MichaIowski begegnete mir dann wieder in einem russischen Arzt, in dessen Haus ich als Reserve-Sanitätsoffizier der Luftwaffe im August 1941 Quartier bezogen hatte. Seine Frau war Jüdin und bemutterte und bekochte mich rührend. Ich konnte sie vor Unheil bewahren: Als am frühen Morgen zwei ukrainische "Milizionäre", schwer bewaffnet, an die Haustür klopften und von mir verlangten, ich soll "die Frau" herausgeben, war sie mit ihrem Mann verschwunden! Er hatte mir ein Zettelchen hinterlassen, auf dem er sich in russischer Sprache (und kyrillischer Schrift) bei mir bedankte ("Arzt Janz guter Mann!") - nach 1945 einer der "Persilscheine", die mir beim "Entnazifizierungsverfahren" gute Dienste leisteten! Ich hoffe, seiner Frau dadurch das Leben gerettet zu haben, daß ich ukrainische Milizionäre, die sie nachts abholen wollten, nicht hereinließ.

Meine frühkindliche Vorstellung von der Muttergestalt verschmolz offenbar mit dem Bilde einer unbekleidet bäuchlings auf einem Eisbärfell liegenden Frau, das in der Wohnung meiner Eltern hing, sinnenfreudig und keusch zugleich, dem damaligen Zeitgeschmack entsprechend. Einem Besucher, der das Bild betrachtete, erklärte ich es zum Entsetzen meines guten "Mamchens" mit den Worten: "Das is de Mama!" Einem anderen Besucher, der mich fragte, wo mein Vater sein, antwortete ich: "Der Papa ist zu einer kleinen Entbindung!" Dieser Papa war als "Praktischer Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer", wie es auf dem Schild an der Haustür lautete, viel, auch nachts, unterwegs. Sein kleiner "Piccolo" blieb dabei nicht selten in den masurischen Sandwegen stecken und mußte dann dank hilfreicher Bauern "zweispännig" zurückbefördert werden. Sie kannten schon das Huptsignal, das mein Vater aus der Gummihupe ertönen ließ - es soll dem "Tatütata!" ("Für unser Geld!°) geähnelt haben, das die Annäherung des kronprinzlichen Automobils signalisierte! -, und wußten, es sei Zeit, anzuspannen und den Doktor mit seinem Auto aus dem Dreck zu ziehen!

Alle diese sehr frühen kleinen Geschichtchen weiß ich nicht aus eigener Erinnerung, sondern aus Erzählungen des Onkels Bruno und eines Freundes meiner Eltern, Dr. Med. Erich StadIer. Aber an ein Erlebnis erinnere ich mich recht genau: Als ich eines Nachts wieder einmal alleine zu Hause bleiben mußte - "Mamchen" begleitete meinen Vater hin und wieder auf seinen Praxisfahrten -, erwachte ich, stellte fest, daß ich alleine war, erschrak, kroch aus dem Bettchen und vergrub mich in das warme, weiche Fell unseres riesigen Bernhardiners "Hatto". Hier fühlte ich mich geborgen und muß wohl eingeschlafen sein, bis meine Eltern zurückkehrten. Außer "Hatto", der mich auch in einem kleinen Wagen wie ein Pferdchen zog, besaßen meine Eltern noch einen Dackel, der nach den Afrikaerlebnissen unseres Gemeindevorstehers Kempe und eines Studienfreundes meines Vaters "Buschmann" genannt wurde. An dessen biologischen Lebensäußerungen muß ich lebhaften Anteil genommen haben: Als ich von meinen Eltern zusammen mit "Buschmann" zum erstenmal auf eines der masurischen Rittergüter mitgenommen wurde, hob ich trotz wiederholter Ermahnungen meiner Mutter beim Essen immer wieder das Tischtuch hoch und begründete dieses durchaus ungehörige Interesse mit dem entwaffnenden Ausspruch: "Der Buschmann sitzt unter dem Tisch und pischt!" Mein Debüt in dem vornehmen Hause war zwar mißlungen, wurde aber mit freundlicher Nachsicht belächelt.

Die Liebe zu Hunden gehört als "frühe Prägung", wie Konrad Lorenz sagt, zu meinem Leben. Ohne sie wäre es ärmer. Zum Glück teile ich sie mit meiner Antonia. Mit einer "kynophobisch" - neurotischen Partnerin hätte ich nicht zusammenleben wollen und können.

Mein Vater entschloß sich, angeregt und ermutigt durch den Lötzener Kreisarzt  Dr. ZeIIe, trotz seiner Beanspruchung als vielbeschäftigter Landarzt, einen Lehrgang mit dem Ziel des Kreisarzt-Examens zu absolvieren, bestand dieses und wurde 1912 als "Kreisassistensarzt" nach Willenberg, Kreis Ortelsburg (heute: Wielbark und Szcutno), berufen. Dr. ZeIIe, sein freundschaftlicher Gönner und Förderer, war eine vielseitig begabte und gebildete Persönlichkeit. Er hatte als Amateur-Historiker ein Werk über die Befreiungskriege 1812 - 15 verfaßt, das ich in einer schon gebundenen, reich illustrierten und großformatigen Ausgabe später geradezu verschlungen habe. Zum Geburtstag meines Vaters am 6. September 1911 gratulierte Dr. ZeIIe ihm mit folgenden Zeilen: "... Nur wenige Ausgewählte umstehen heute Ihren Thron, die `Creme de la Crem' Widminnens und seiner Umgebung. Mit geistigem Auge sehe ich dioskurenartig erscheinen: Micha (lowski) und Heumann, Brandt und Reck, Burau und Lubowski, von Streng und Steputat, Saager und Pawlick pp. Eine unabsehbare Reihe, die alle der Wunsch treibt, ihrem lieben Doktor zum Geburtstag Glück zu wünschen. Sie alle wünschen, daß Sie auch in Zukunft der billi -denkende Arzt bleiben mögen, der Sie ihnen fünf Jahre gewesen sind. Die wenigen Jahre, mein lieber Herr Kollege, die uns trennen - es sind 38 weniger 35 gleich 3 Jahre (Reaumur gerechnet!) - berechtigen mich nicht zu väterlichen Wünschen, sondern zu freundschaftlichen und brüderlichen.

Ich wünsche vor allem, daß Ihnen Ihre schöne harmonische Häuslichkeit erhalten bleibt; geleitet von einer Frau mit seltenen Herzensgaben, sind Sie glücklich und werden es bleiben!

Nicht in rauschenden Festlichkeiten liegt das Glück, nur in der Familie. Credite experto! [Hier hatte Dr. Z. den Satz eingefügt: "Möge der Himmel Ihnen auch Kraft und Zeit geben, den Lieblingswunsch Ihres lieben kleinen Hans-Werner zu erfüllen ..." (Dieser Wunsch, ein Schwesterchen, ist leider unerfüllt geblieben, woran weder Mangel an "Kraft" noch an "Zeit" schuld gewesen sein mögen!)] Auch Ihre Versetzung und Ihre Ernennung zum Kreisassistensarzt wird ja im neuen Jahre kommen, möge diese Veränderung Ihrer Lebensbahn ein wahrer gradus ad Parnassum (Fortschritt) sein!

Treue im Kleinen, Herzensgüte und der Wille zum Großen werden Ihnen in jeder Laufbahn eine angesehene Stellung erringen, auch in der Kreisarztkarriere, wo die Konkurrenz sehr scharf ist.

Gestatten Sie mir den Wunsch und die Bitte, daß Sie auch in im neuen Jahre nicht aufhören, zu Ihren aufrichtigen Freunden zu zählen Ihren ergebensten                       Zelle ."

Im Januar 1914 wurde mein Vater als Kreisarzt nach Neidenburg (heute Nidzica) versetzt. Am Eingang des Hauses, das die Regierung dem Kreisarzt er war damals noch so etwas wie ein "medizinischer Landrat" - als Ganzes, Amtssitz und Wohnung, zur Verfügung stellte, prangte ein Schild mit dem preußischen Schwarzen Adler und der stolzen Aufschrift "Königlicher Kreisarzt". Zu jener Zeit kursierte in Ostpreußen ein kleiner Vers, der den Stint, ein in den dortigen Seen und Flüssen heimisches, billiges und deshalb als Volksnahrung verbreitetes Fischchen, in Verbindung mit dem kreisärztlichen Amtsträger brachte. Es lautete: "Der Stint, der ist jeweeniglich - der Kreisarzt, der ist keeniglich!"

Die Widminner und Willenberger Jahre waren die glücklichsten meiner frühen Jugend. Zu den schönsten Erinnerungen jeder Zeit gehört das Weihnachtsfest: Weihnachtsbaum, mit "Lametta und Engelshaar" geschmückt, Lichterglanz (natürlich noch mit Wachskerzen) und reichlich gedeckter Gabentisch bedeuteten mir herrliche Verzauberungen. Sie wurden auf erregende Weise gekrönt durch das Erscheinen des "Weihnachtsmannes", der mich emporhob, an sich drückte und mir einen Kuß aufdrückte, wobei sein großer, weißer Vollbart ein wunderschönes Kitzelgefühl hervorrief. Ich hatte nie Angst vor ihm, zumal ich später erfuhr, daß es mein geliebter, immer zu Späßchen aufgelegter Onkel Bruno (von mir wohl wegen des etwas schwierigen Vornamens "Onkel Bau" genannt) war, der sich hinter dem "Weihnachtsmann" verbarg. An mir selbst habe ich erfahren, wie wichtig die Erinnerung an den geheimnisvollen, immer neu mit Spannung erwarteten Zauber eines solchen Weihnachtserlebnisses für das spätere Leben, bleiben kann. Es war eingehüllt in die Gefühle der Wärme, der Geborgenheit und Liebe - und noch kein "sentimentaler Ausrutscher", wie ein heutiger Zeitgenosse das kommerzialisierte, seines Sinns beraubte Weihnachten einmal genannt hat. Mit der "Kindheit voll Liebe", die meine Mutter ("Mamchen") mir mitgab, habe ich nicht nur - mit Jean P a u I - ein "ein halbes", sondern ein ganzes Leben hausgehalten. Meinen Vater liebte ich nicht weniger, aber wohl anders. Auch er war warmherzig und dazu - ähnlich wie sein Bruder "Onkel Bau" - mit köstlichem Humor begabt, aber im Unterschied zu Mamchen ein "religiös gestimmter Freidenker", später Mitglied und "Meister" einer Freimaurerloge, während meine Mutter in den letzten Jahres ihres Lebens dem katholischen Glauben zuneigte. Besonders gerne erinnere ich mich an die Besuche der Schwester meines Vaters, Helene, aus unerfindlichen Gründen "Nauz" genannt, eine ungewöhnlich schöne Frau, die mich bis in meine späten Mannesjahre ihren "lieben Hansi" nannte und das Haus mit strahlender Munterkeit erfüllte. Bei ihrer Hochzeit mit einem aktiven Offizier, späteren Oberst, Heinz F r e y e r , auf dem Truppenübungsplatz Jüterbog bei Berlin durfte ich als 10jähriger Junge stolz ihre Schleppe tragen. Die anziehende Ausstrahlung ihrer Schönheit und ihres Wesens hätte zuvor fast einmal Anlaß zu einem Duell meines Vaters mit einem ihrer Verehrer gegeben!

Hier am Ende meiner ersten Kindheitsjahre, will ich, falls spätere Generationen in diesem Lebensbericht hineinschauen sollten, einen Exkurs über die

 

Geschichte Masurens

 

anfügen. "Wohl keine andere Landschaft in Europa erweckt durch die bloße Erwähnung ihres Namens so viele Gefühle und Empfindungen wie Masuren. Ein Stück versunkener Geschichte, verlorener Heimat für die einen; wiedergewonnenes Land, Symbol des Neubeginns, Zeichen nationaler Hoffnung für die anderen ...", so beginnt Klaus Bednarz seinen Beitrag in dem von ihm herausgegebenen Buch "Masuren", 1984 im Hamburger Ellert und Richter Verlag erschienen. Ich folge damit weitgehend seiner Darstellung sowie der von Herbert Reinoß und Hans-Joachim Kütz in: "Das Land der tausend Seen - Erzählungen aus Masuren =', Edition Erdmann in K. Thienemanns Vertag, Stuttgart, 1984.

"Masuren" ist kein politischer Begriff, sondern eine - wenn auch etwas unbestimmte - Landschaftsbezeichnung. Sie umfaßt den südlichen und südöstlichen Teil Ostpreußens etwa zwischen Neidenburg (Nidzica) und Goldap (das auch heute noch so heißt). Das "Land der tausend Seen" - Statistiker haben genau 3312 gezählt, der größte von ihnen, der Spirdingsee (Spiardwy) war nach dem Bodensee Deutschlands größtes Binnengewässer - bildet geologisch eine Hinterlassenschaft der jüngsten Eiszeit: Die nach Norden abgezogenen Gletscher ließen Stau- und Endmoränen zurück, Ausläufer des uralisch-baltischen Höhenzuges, der in der Kernsdorfer Höhe (Gora Dylewska) immerhin stolze 313 Meter erreicht. In den tiefen Furchen zwischen diesen "Buckeln" sammelten sich die Schmelzwässer der Gletscher und in den "glazialen Staubecken" bildeten sich die großen "masurischen Meere". Die Geschichte Masurens beginnt mit dem Deutschen Ritterorden, der unter seinem Hochmeister Hermann von SaIza von Herzog Konrad von Masovien, einer seit langem zum Christentum bekehrten polnischen Provinz, im Jahre 1226 gegen die noch heidnischen Pruzzen zu Hilfe gerufen wurde, jenem Volksstamm, aus dem sich später der Name "Preußen" herleiten sollte. Ein Teil der Pruzzen wurde ausgerottet, ein anderer vertrieben. Wer überlebt hatte und nicht vertrieben wurde, mußte den katholischen Glauben annehmen. Die heidnische GötterTrias Perkunos, Potrimpos und Pikollos, die unter der Heiligen Linde von Romove, auf der Teufelsinsel im Spirdingsee, verehrt wurde, verschwand im Dunkel der Geschichte. Reste dieser vorchristlichen Glaubenswelt haben sich allerdings in Masuren länger als bei anderen Volksgruppen in Deutschland erhalten!

Die Urwälder Masurens, die Seen und Sümpfe bedeuteten für den Deutschen Orden einen natürlichen Schutz, Wälder durften nicht gerodet, Siedlungen nicht errichtet werden. "Die Polen ihrerseits sahen im Deutschen Orden ihren Staatsfeind Nummer eins, nicht zuletzt, weil ihnen durch die Besetzung Ostpreußens der Weg zum Meer abgeschnitten war." "Nachdem das Land durch den Orden entvölkert", "leer und wüst" geworden war, wie es einer seiner eigenen Chronisten vermerkt hatte, holte man polnische Siedler heran, Bauern aus der Nachbarprovinz Masovien, die zusammen mit den verbliebenen Pruzzen und den zuwandernden deutschen Siedlern die "Urväter der Masuren" bildeten. Die ständigen Auseinandersetzungen des Ordens mit Polen und der zunehmende Widerstand der eigenen Untertanen gegen seine immer rücksichtslosere Machtpolitik führten mit der verlorenen Schlacht von Tannenberg (1410) und dem Zweiten Thorner Frieden (1466) zum unaufhaltsamen Niedergang. 1525 wurde der Ordensstaat aufgelöst und seine östliche Hälfte mit Masuren in ein preußisches Herzogtum unter polnischer Lehnshoheit umgewandelt. Zugleich führte der neue Landesherr, Herzog Albrecht von Brandenburg, die Reformation ein. Als Freund und Förderer der Künste und Wissenschaften gründete er 1544 die Universtität Königsberg, die nach ihm benannte "Albertina" .

Das angrenzende Ermland blieb katholisch. In der Folgezeit wurde Masuren von Kriegen, Vertreibungen, Pest-Epidemien, Hungersnöten heimgesucht. Mal brachen die Schweden ins Land ein, mal die Polen - am schlimmsten aber war der Tataren-Einfall 1656 - 57.1806 wälzte sich Napoleons Armee auf dem Weg nach Moskau durch Masuren, 1812 fluteten die geschlagenen Reste dieser Armee auf dem gleichen Wege zurück. Und im August 1914 verwüsteten russische Armeen weite Teile Masurens - Alexander SoIschenizyn hat es eindrucksvoll beschrieben: "10 000 Zivilisten verloren damals ihr Leben oder wurden nach Sibirien deportiert, 400 000 Menschen wurden zu Flüchtlingen" (Bednarz). (Diese Schätzzahlen beziehen sich offenbar auf ganz Ostpreußen).

Unter den Flüchtlingen waren meine Mutter und ich.

1945 wurde zum dunkelsten Jahr in der Geschichte Ostpreußens und Masurens: "Ostpreußen war das erste deutsche Gebiet, auf das die sowjetischen Truppen stießen - nach einem Marsch tausende Kilometer durch zuvor von deutschen Truppen verwüstetes Land. Zehntausende deutscher Zivilisten Männer, Frauen und Kinder - kamen bei der Flucht aus Ostpreußen ums Leben, starben an Hunger, Erfrierungen, Erschöpfung oder durch Tieffliegerangriffe, unzählige Frauen fielen Ausschreitungen sowjetischer Soldaten Zum Opfer, viele ertranken beim Marsch über das zugefrorene Frische Haff oder gingen mit Flüchtlingsschiffen unter, die von sowjetischen U-Booten torpediert wurden. Tausende von anderen verschwanden - häufig für immer - in den Weiten Sibiriens oder an der Küste des Nördlichen Eismeeres. Ostpreußens Städte und Dörfer versanken in Schutt und Asche. Von den rund 2,6 Millionen Ostpreußen sind etwa 500 000 nicht mehr lebend ermittelt worden. Ostpreußen hörte auf, als deutsche Provinz zu existieren.

Ja, - und dann kam das über Ostpreußen und Masuren, was zu erwarten war: Haß und Vergeltung für "die schrecklichen Verfehlungen und Terrorakte des Hitlerregimes" (Rudolf HageIstange). Es kam zur Vertreibung der Menschen aus Masuren, sie wurden "davon gejagt wie Gesindel" (Herbert Reinoß). "Das polnische Verhalten bei Kriegsende den Masuren gegenüber gehört zum Unverstehbarsten in jeder wölfischen Zeit", und dies nachdem die Polen Jahrzehnte hindurch die Masuren als nahe Verwandte bezeichnet hatten, deren "polnische" Sprache man erhalten wollte, die nicht "germanisiert", sondern "repolonisiert" werden sollten! Im Jahre 1920 hatten sich bei der letzten Volksabstimmung fast 100 % der Masuren zum Deutschen Reich bekannt. Heute gibt es in Masuren so gut wie keine Deutschen mehr. An ihre Stelle traten polnische Siedler, die zumeist aus den Ostgebieten kamen, die Polen nach 1945 an die Sowjetunion abtreten mußte. Nach der Vertreibung der Deutschen gingen die Polen eilends daran, "alle Erinnerungen an die deutsche Vergangenheit radikal zu tilgen - bis hin zu den Grabsteinen" (Hans Joachim Kürtz). In polnischen Verlautbarungen ist dies als "endgültige Befreiung Masurens" bezeichnet worden! Mit Recht ist zu fragen: "Wer wünschte denn dort ,befreit' zu werden" und zweitens: "Die Befreiung der Menschen erfolgte zu dem Zweck, sie aus dem Land zu treiben" ( Herbert Reinoß).

Inzwischen ist es Zeit geworden, an die Stelle der Vergeltung die Versöhnung zu setzen! Max Töppen hat in seinem 1870 erschienenen Werk über die Geschichte und die Menschen Masurens gesagt: "Masuren breitet sich auf der Grenze deutschen und slawischen Volkslebens aus. Früh unter deutsche Herrschaft gestellt und früh von Polen bevölkert, weist es in seiner ganzen Geschichte den Gegensatz und die Versöhnung beider Nationen aus." Ohne daß der Gegensatz zwischen der geschichtlichen Tradition oder dem wirtschaftlichen Gefälle von West zu Ost verwischt werden kann, wächst heute die Bereitschaft zu Ausgleich und Versöhnung bei Polen und Deutschen. Sie äußert sich in der Freundlichkeit und Gastfreundschaft, mit der deutsche, namentlich auch westdeutsche Besucher, von polnischen Familien in Masuren empfangen werden, sie wird deutlich in der Würdigung, die man einem großen Deutschen, Johann Gottfried Herder, in Mohrungen (Morag), an der Grenze von Ermland und Masuren, erwiesen hat, wenn die Straße, in der er wohnte, statt Koscielna, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg hieß, in "Herderstraße" umbenannt wurde, sie zeigt sich darin, daß die Bücher des mitten zwischen den masurischen Wäldern und Seen, im Forsthaus Kleinort Kreis Sensburg geborenen bedeutenden Erzählers Ernst Wiechert jetzt in polnischer Sprache erscheinen! Dies alles läßt hoffen!

 

Hoffen läßt auch die von den Schrecknissen der Vergangenheit unberührt gebliebene Schönheit der Landschaft Masurens! "Masuren - das ist Natur, das ist bäuerlicher Friede (mit dem Dorfbild von einst), das ist stilles Wasser und rauschender Wald ..." (Gerhard Eckert). Obwohl ich als Flieger die Tempelstädte Kambodschas, die Urwälder Brasiliens, die Buschsteppen Afrikas kennengelernt habe, zieht es mich immer wieder nach Masuren zurück, zu diesem letzten Flecken europäischer Erde, wo die Natur noch einigermaßen heil und in Ordnung ist." (Rudolf Braunburg). "Eine heile Landschaft - eine der letzten in Europa. Dazu gehören auch die endlosen Wälder, die Reste der einstigen ,Wildnisse' Masurens ... (Hans Joachim Kürtz). "Masuren ist tatsächlich unvergleichlich, heute mehr denn je". ".. die von Menschen nicht entstellten Landschaftsbilder (Masurens) ... sind von einer nirgendwo überhöhten, sich in den Mittelpunkt drängenden, sondern einer ganz ungekünstelten, geradezu etwas schüchtern wirkenden Schönheit ... . Diese Landschaft hat einen ganz eigenen, kaum beschreibbaren Zauber ... . Doch das ist nicht alles. Die Landschaft Masurens befindet sich ökologisch gesehen tatsächlich fast noch im Idealzustand ... . Noch brüten dort Schwäne und Haubentaucher und Graureiher und Kormorane in geradezu paradiesischer Ungestörtheit - nicht zu vergessen die zahllosen Störche. Den Storch hat man ja das Wappentier Masurens genannt." (Herbert Reinoß).

Die Menschen, die aus den "zivilisierteren" Gegenden westlich der Elbe nach Masuren kommen, sollten sich daran zu erinnern versuchen, daß die Bewohner Masurens von alters her ein inniges Verhältnis zur Natur hatten, das "in vielen Bräuchen bis hin zu allerhand bitterernstem Aberglauben, Ausdruck  fand." Der Chronist Masurens, Max Töppen, hat dies indirekt mit der Feststellung bestätigt, "daß in Masuren die Mächte der Natur länger das Obergewicht über die Kultur behauptet haben als anderwärts. Masuren war jahrhundertelang nicht nur der abgelegenste, sondern wie beiseitegelegte, wohl ärmste Landstrich Preußens und Deutschlands." "Noch der 1858 in einem Forsthaus bei Goldap geborene masurische Schriftsteller Fritz Skowronnek erwähnt, daß das Land in seiner Jugendzeit mehr als ein volles Jahrhundert hinter der wirtschaftlichen Entwicklung des übrigen Deutschland zurückgeblieben sei. Es habe damals durch ganz Masuren keine Eisenbahn und keine einzige befestigte Straße gegeben!" Daher stammt das in Ostpreußen einst viel zitierte Wort: "Wo sich aufhört das Kultur, da sich anfängt der Masur!" Doch erlebte Fritz Skowronnek dann beglückt, daß in nur drei Jahrzehnten so gut wie jeder Rückstand aufgeholt wurde, in kultureller wie in wirtschaftlicher Hinsicht. Die Masuren ergriffen "alle Errungenschaften der Neuzeit". Meine Mutter hat Skowronnek, den von der Literaturgeschichte viel zu wenig beachteten, seit 1889 als freier Schriftsteller in Berlin lebenden Schilderer Masurens und seiner Menschen, während des Ersten Weltkrieges besucht, als wir, Flüchtlinge aus dem masurischen Neidenburg (Nidzica), in Berlin-Friedenau lebten. Sie kannte und schätzte seine und seines Bruders Werke, die ihr, die aus dem Norden Ostpreußens, Tilsit, stammte, das Leben und Wesen der Masuren nahebrachten.

Ich selbst bin nur einmal in meine masurische Geburtsheimat zurückgekehrt: Bei unserer Hochzeitsreise nach Rudzanny am stillen, von Wäldern umstandenen Niedersee! "Mein Herz, o sage, was webst du für Erinnerung in goldengrüner Zweige Dämmerung? Alte unnennbare Tage." (Eduard Mörike).


Als Flüchtlinge im Ersten Weltkrieg


Vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges am z. August 1914 ist mir nur in Erinnerung geblieben, daß ich in Neidenburg auf dem Heimweg von der Schule in eine größere, erregte Menschengruppe geriet, in der "Hurra"! gerufen wurde. Mein Vater wurde schon am ersten Mobilmachungstage als Sanitätsoffizier der Reserve zum Heer eingezogen, hat dann die "Schlacht bei Tannenberg" als Bataillonsarzt mitgemacht, ist knapp der Gefangenschaft entgangen, als sein 59. Infanterieregiment bei dem Dorfe Waplitz in undurchdringlichem Nebel zum Angriff ansetzte und schwere Verluste erlitt, und ist - ich weiß nicht aus welchen Gründen - mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse ausgezeichnet worden. Er selbst sprach kaum über seine Kriegserlebnisse. Sie müssen ihn wohl tief getroffen haben. Nachdem er auch an der darauffolgenden "Winterschlacht in Masuren" teilgenommen hatte, wurde er Ende 1914 krankheitshalber beurlaubt, um sich im Privatsanatorium "Haus Schönow" des Psychiaters Prof. Laehr in Berlin-Zehlendorf zu erholen. Anscheinend hatte er auf die Konfrontation mit den Toten und Verwundeten in beiden Schlachten mit einem depressiven Verstimmungs- oder Erschöpfungszustand reagiert. (Auf eine gewisse Disposition zur erlebnis- oder konfliktreaktiven Depression weist das Schicksal seiner anderen Schwester Gertrud hin, die sich nach der Auflösung ihres Verlöbnisses mit einem Apotheker im Park des elterlichen Gutes Wenzischken bei Tilsit erschossen hat!). Laehr, der Sohn eines der Pioniere der frühen Anstaltspsychiatrie, war der erste Psychiater, dem ich, acht Jahre alt, begegnet bin. Er war sehr freundlich zu mir und schenkte mir ein Buch über "Die Heerführer des Weltkrieges". Seine Oberin oder Hausdame war eine Frau von Ardenne, deren Schicksal Theodor Fontane zu der Titelgestalt der "Effi Briest" angeregt haben soll. (Für die Richtigkeit dieses Hinweises kann ich mich freilich nicht verbürgen. Ich habe auch nicht erfahren können, in welchem Verwandtschaftsverhältnis der geniale Physiker und Erfinder Manfred von Ardenne zu ihr steht).

Die gütige Gestalt des Professor Laehr, der noch zur Generation der "Bart-Psychiater" gehörte, hat sich meinem kindlichen Bewußtsein als ein wohltuend vertrauenerweckendes Erlebnis ähnlich eingeprägt wie mich einige Jahre zuvor der Ausbruch einer offenbar schizophrenen Psychose unseres Widminner Kutschers erschreckt hatte. Ich konnte nicht ahnen, daß die Psychiatrie einmal von mir und ich von ihr professionellen Besitz ergreifen würde, und dies seltsamer Weise auch in meiner Tätigkeit als Leiter einer privaten Nervenklinik, deren Besonderheit zum Teil dem Laehrschen "Haus Schönow" vergleichbar war! Meine Mutter hatte mit mir kurz nach der Mobilmachung mit dem letzten noch fahrplanmäßig verkehrenden Zuge Neidenburg, das wegen seiner Nähe zur Grenze unmittelbar gefährdet war, verlassen. Es wurde am 12. August 1914 von russischen Truppen eingenommen. "Von schwerem Brandgeruch umweht, tauchte vor ihnen Neidenburg auf` schreibt Alexander SoIschenizyns in seinem großartigen Werk "August Vierzehn". Zu diesem Brandgeruch hatte auch das Feuer beigetragen, dem unser Haus zum Opfer fiel. Wir fanden es nach der Wiedereinnahme Neidenburgs ausgebrannt und ausgeplündert vor. Am 13. August hatte der General der Kavallerie Samsonow, Oberbefehlshaber der Zweiten russischen Armee, seinen Stab nach Neidenburg vorverlegt und einen Trinkspruch auf "die Besetzung Berlin" (!) ausbringen lassen. In einem dokumentarischen Abschnitt seines "Romans", dem ich alles Nähere, was ich über den Russeneinfall in Ostpreußen weiß, verdanke, läßt SoIschenizyn die Geschichte und ihre Deutung sprechen: ".. Und auch der Schatten der Vorsehung fiel auf die gleiche Befestigungslinie bei Mühlen (einem Dorf unweit Tannenberg, nordwestlich von Neidenburg), auf dieselben Felsen am See und fünfhundertjährigen Tannen der schützenden und beschützten Heimaterde, wo jetzt närrisch und nackt die russische Zweite Armee vorrückte: genau an dieser Stelle sammelten sich im Jahr 1410 die vereinten slawischen Kräfte und schlugen in der Nähe des Dörfchens Tannenberg, zwischen Hohenstein und Usdau, den Deutschritterorden aufs Haupt. Nach einem halben Jahrtausend fügte es sich schicksalhaft, daß Deutschland das Strafgericht vollstreckte." Als die Katastrophe der russischen Zweiten Armee und damit des russischen Heeres nicht mehr aufzuhalten war, hat Samsonow sich am 30. August erschossen! (SoIschenizyns hat die Worte "Vorsehung" und "das Strafgericht" im Originaltext in deutscher Sprache geschrieben!)

Wenn der deutsche Sieg bei Tannenberg 1914 ein Akt der "Vorsehung" und ein "Strafgericht" gewesen sein sollte, so könnten diese beiden "metahistorischen" Begriffe mit gleichem Recht, wenn auch mit weit schrecklicheren Folgen auf die Einnahme Ostpreußens durch die sowjetische Armee 1945 angewandt werden!

Inzwischen war meine Mutter mit mir zunächst nach Pritzwalk in der Preignitz, nördlich von Berlin, geflüchtet. Wir wurden dort wenig freundlich aufgenommen und, weil wir aus Ostpreußen kamen, als "Polacken" verspottet! Wegen ihres schwarzen Haares und brünetten Teints geriet "Mamchen" sogar in den Verdacht, eine russische Spionin zu sein! Ich selbst hatte bei Schlägereien unter den dortigen Schülern das Nachsehen, weil ich gezwungen wurde, als "Russe" zu kämpfen! Ein besonders kräftiger Schlag auf mein Haupt - die Kämpfe wurden mit Holzlanzen und -schwertern ausgetragen! - hinterließ zum mütterlichen Schrecken ein blutende Platzwunde und Schwindelgefühle, also eine leichte Gehirnerschütterung. (Im späteren Leben habe ich noch mehrfach "eins auf den Kopf bekommen", teils beim Hinfallen oder durch Anstoßen an ein unbeachtetes Hindernis, teils durch wohldosierte Schicksalsschläge. Ich mußte erst lernen, nicht nur "zu den Sternen aufzublicken", sondern auch "acht auf die Gassen zu haben"!)

Der Abschied von Pritzwalk fiel uns nicht allzu schwer, als wir im Dezember 1914 nach Berlin-Friedenau, Peter-Vischer-Str. 19, übersiedelten. Dort haben wir bis 1917 die schwere Kriegszeit mit Lebensmittel- und Kohlenknappheit erlebt. Jahre, die für mich Einzelkind eine strenge Erziehung zur Genügsamkeit und Hilfsbereitschaft bedeuteten. Ich erwarb mir dabei zwar eine heut noch nicht überwundene Abneigung gegen Weißkohl und "Wruken" (Steckrüben), .aber auch die Fähigkeit zum Verzicht. "Der Verzicht nimmt nicht. Der Verzicht gibt. Er gibt die unerschöpfliche Kraft des Einfachen." Die Wahrheit dieses Wortes in Heideggers "Feldweg" habe ich damals schon erfahren. Nach den satten Vorkriegsjahren hieß es, sich in allem einzuschränken. Ich mußte - und wollte - meiner gesundheitlich zarten Mutter die Mühe abnehmen, bei winterlicher Kälte stundenlang in Menschenschlangen anzustehen, um Butter, Fleisch, Briketts auf Karten einzukaufen. Ich lernte auch so etwas wie "Ritterlichkeit" der Mutter als schützenswerter Frau gegenüber. Als ich einmal von unserem Fenster aus hörte, wie Berliner "Bowkes" sich auf der Straße anzügliche Bemerkungen über mein schönes und geliebtes "Mamchen" erlaubten, schrie ich sie wütend an und verbat mir derartige Unverschämtheiten.

Zu den helleren Seiten der Kriegs- und Flüchtlingszeit gehörten die seltenen Besuche meines Vaters - er war inzwischen nacheinander als Garnisonsarzt in Mitau, Libau und Riga tätig und hatte "Kurland" so in sein Herz geschlossen, daß er, wenn der Kriegsverlauf es zugelassen haben würde, dort gerne einen Arztsitz, ein "Doktorat", wie man es nannte, gegründet hätte. Mit den Deutschbalten verbinden uns Ostpreußen einige Gemeinsamkeiten, namentlich die Großzügigkeit im mitmenschlichen Umgang nach der Devise "Leben und leben lassen!" und die Gastfreundschaft. Ein deutschbaltischer Freund nannte unser Haus, in dem die Gäste ein- und ausgingen, das "baltische Hochzeitshaus", weil die Hochzeitsfeiern im Baltikum mehrere Tage zu dauern pflegen, an denen man jederzeit kommen und auch wieder gehen kann.

In den Berliner Jahren - ich fühle mich seitdem ein wenig als "halber Berliner" - besuchte meine literarisch lebhaft interessierte Mutter, wenn ich mich recht erinnere, die damals hochberühmten, heute nahezu vergessenen Ostpreußen Hermann Sudermann und Fritz Skowronnek. Sudermann, der vom Vater her, einem Brauereimeister in Matzicken bei Heydekrug in der Memelniederung, - wie auch meine väterlichen Vorfahren einer holländischen Mennonitenfamilie entstammte, hatte nach den Riesenerfolgen seiner Erstlingsdramen "Die Ehre" und "Heimat" außer einer Villa in Berlin-Grunewald das Schloßgut Blankensee bei Trebbin erworben. Paul Fechter, bedeutender, aus Elbing gebürtiger Publizist, Kunst-, Literatur- und Theaterkritiker, Biograph und Erzähler, hat ihn dort noch um 1900 sehen können, wie er "im weißen, leichten Anzug, den Panama auf dem vollen, dunklen Haupthaar, um das Gesicht den berühmten großen, schwarzen `Sudermann-Vollbart', der "bis auf die Brust fiel", im Park, auf den Feldern und am Ufer des Sees einherschritt - nach freudloser, entbehrungs- und enttäuschungsreicher Jugendzeit endlich am - freilich kurzlebigen - Ziel seines jungen Lebens angelangt. Als Max Slevogt ihn 1927 malte - das berühmte Porträt hängt in der Nationalgalerie der Staatlichen Museen in Berlin-Ost - hatte er sich seit langem von seinem schwarzen "Fußsack", dem Ausdruck eines übersteigerten Selbstwertgefühls, getrennt, und in dem Antlitz des nun Siebzigjährigen spiegelt sich die Bitterkeit über die Abkanzelung und Verhöhnung seiner Bühnendichtungen wider. (Alfred Kerr: "Herr Sudermann, der D... D... Dichter!") - Jürgen Fehling, "der letzte große Regisseur der großen Zeit des Berliner Theaters, schreibt Fechter, habe in S Sudermann den "großen, noch unentdeckten Dramatiker des kommenden Menschenalters" gesehen, den "dramatischen Balzac des deutschen Ostens, dessen Wirklichkeit nicht die bloße äußere Realität, sondern die geträumte Wirklichkeit seiner eigenen Seelenspiegelungen vor dieser heute so fernen, versunkenen Welt des preußischen, des deutschen Ostens war." Fehlings Verdienst bleibt es, mit einer wunderbaren Neuinszenierung von Sudermanns "Johannisfeuer`, seiner "letzten großen Berliner Regietat", den verkannten, den wirklichen Sudermann gezeigt zu haben. Es ist die Geschichte von dem Mädchen, das sich einmal im Jahr, zur Johannisnacht, sein Recht auf Liebe und auf den Geliebten nimmt. Mein Braunsberger Schulfreund und langjähriger, immer anregender Briefpartner, der ermländische Historiker und Publizist Dr. Hans Preuschoff, hat diese denkwürdige Aufführung im Jahre 1943 erlebt und eindrucksvoll im "Ostpreußenblatt" vom 8. Mai 1982 geschildert. Sie fand in dem von Bomben schwer getroffenen Schinkelbau des Berliner Staatlichen Schauspielhauses am Gendarmenmarkt statt. "Die Liste der Mitwirkenden wurde von Paul Wegener, Marianne Hoppe , Maria Koppenhöfer angeführt, drei der besten Kräfte des Hauses, gewiß des deutschen Theaters schlechthin." Die Rolle der "Trude", eines "trautsten Schafchens, um es auf ostpreußisch zu sagen", spielte die soeben erst von Fehling für die deutsche Bühne entdeckte blutjunge Rumänin Joana Maria Gorvin. "Gutsbesitzer Vogelreuter" war der großartige Paul Wegener, selber Sohn eines Rittergutsbesitzers aus Bischdorf im ermländischen Kreise Rössel. Er spricht die ersten Worte des Stückes: "Aeh! Heut früh is wieder der Deiwel los!" und gibt mit ihnen die Grundstimmung des Dramas an: In der Nacht, zwischen den beiden Tagen, an denen es spielt, der Johannisnacht, ist wahrhaftig "der Deibel los". In ihr lodern die Feuer, die Johannisfeuer, und Vogelreuters Neffe Georg, der dessen Tochter Trude am nächsten Tage heiraten wird, aber Manikke, die Tochter des "versoffenen Litauerweibes" Weßkalnene (Maria Koppenhöfer ) liebt - Georg hält, von festlicher Bowle beschwingt, eine Ansprache: "Einmal im Jahr ist Freinacht, und was dort lodert, wißt ihr, was das ist? Das sind die Gespenster unserer ertöteten Wünsche, das ist das rote Gefieder der Paradiesvögel, die wir hätten hegen dürfen vielleicht ein Leben lang, und die uns weggeflogen sind - das ist das alte Chaos, das ist das Heidentum in uns. Und mögen wir noch so glücklich sein im Sonnenschein und Gesetz, heut ist Johannisnacht. Ihren alten Heidenfeuern gehört mein Glas, heute sollen sie flammen hoch und abermals hoch und abermals - hoch ... Stößt keiner mit mir an?"

 

Was bewegt mich so an dem Sudermannschen "Johannisfeuer" und seiner denkwürdigen Berliner Aufführung? "Die Gespenster ertöteter Wünsche" sind es sicherlich nicht. Eher könnte es das "Heidnische" in mir sein, das Archaische der Johannisnacht, in der ich beim Schein der alten Heidenfeuer, die auch in Masuren brannten, zur Welt gekommen bin. Vielleicht ist es auch die Erinnerung an Paul Wegener, den ich in den Zwanziger Jahren in der Hauptrolle einer Bühnenfassung der Novelle "Krasny smeck", "Das rote Lachen" , des russischen Dramatikers und Erzählers Leonic Nikolaevic Andreew gesehen habe, einer Schilderung der Schrecken des Krieges, die den Menschen an die Grenzen des Wahnsinns treiben können. Unvergeßlich sind mir die Worte geblieben, die Wegener mit unverkennbar ostpreußischem Akzent, allein auf der Bühne, sprach: "Ich simuliere oder ich bin wirklich verrückt!" Als junger Student wußte ich noch nicht, daß damit ein Problem berührt wurde, das in den sogegenannten Kriegsneurosen und -psychosen psychiatrische Bedeutung erlangen würde. Paul Wegener war es auch, der einmal geschrieben hat: "Das, was ich geworden bin, hängt aufs allerengste, mit meinem heimatlichen Empfinden zusammen. Ich glaube, daß das des Ostpreußen Bestes ist, daß er sich nicht auf- und nicht des Scheines wegen nachgibt, sondern den Mut und die Kraft hat, er selbst zu sein. Ich bin der Heimat dankbar, daß sie mir diese Kraft gegeben hat." Mit Maria Koppenhöfer, deren "phänomenale künstlerische Leistung" als "Weßkalnene" von Hans Preuschoff gerühmt wurde, verbindet uns eine persönliche Erinnerung: Sie war mit der Skaisgirrer Pfarrerstochter Ulla WessoIIek befreundet, der Schwester Susannes, Antonias liebster Jugendfreundin; sie besuchte uns 1938 zum Frühstück in Königsberg, im Nachtzug aus Berlin gekommen, nach einer Aufführung im Staatstheater noch im Bühnengewande, einem langen, schwarzen Abendkleide mit goldenem Hals- und Armschmuck angetan, menschlich schlicht und sympathisch wirkend. Viel zu früh - mit 47 Jahren - ist diese große Schauspielerin gestorben.

Zurück zu Sudermann. Prof. Erhard Riemann, aus Königsberg stammender Volkskundler und Mundartenforscher hat ihm im "Ostpreußenblatt 1991" endlich eine Sudermann-Renaissance vorausgesagt! Sie läßt auf sich warten und wird vielleicht nicht mehr zustande kommen. Aber:

In einem Gedenkbuch "Zum hundertsten Geburtstag des Dichters Hermann Sudermann" (1957 bei Cotta erschienen) hat Paul Fechter seinen Glauben an dessen Sendung noch bekräftigt: "Es ist in der Literatur ein ganz seltenes Ereignis, daß die Werke eines Dichters noch an seinem hundertsten Geburtstag in Saft und Kraft - und im Herzen seines Volkes stehen!" Dr. Ludwig GoIdstein, Feuilletonredakteur der Königsberger "Hartungschen Zeitung", die schon Kants Lektüre war, und Begründer des dortigen Goethe-Bundes, geistvoller Mittelpunkt des Kulturlebens der ehemaligen ostpreußischen Hauptstadt, schildert in seinem Erinnerungsbuch, wie er Sudermann 1917 zu einer Vorlesung im Goethe-Bund eingeladen hatte, die mit der "Reise nach Tilsit" aus den "Litauischen Geschichten" von nahezu 1800 Hörern "mit rauschender Begeisterung" aufgenommen wurde. Sudermann war sein denkbar bester Vorleser, bevor ein Kehlkopfleiden ihn mit plötzlicher Stimmlosigkeit bedrohte. Der Ertrag aus der Vorlesung wurde einem wohltätigen Zweck, den Hinterbliebenen der Gefallenen des Ersten Armeecorps, zugeführt, da es "in dieser Zeit soviel Not zu lindern gab, daß eine Kraft, die nur literarischen Zwecken dient, verschwendet erschien". Ich habe aus zwei Weltkriegen ein Exemplar der 1917 bereits in 26. - 40. Auflage, ebenfalls bei Cotta, erschienenen "Litauischen Geschichten" retten können. Es trägt die von meiner Mutter geschriebene Widmung: "Mammchen ihrem geliebten Pappchen. Weihnachten 1917", und ich vermute, daß sie es unter dem Eindruck ihres Besuches bei dem Dichter erworben hat. In denn Litauischen Geschichten" (Die Reise nach Tilsit, Miks Bumbullis, Jons und Erdme und Die Magd) zeichnet Sudermann meisterhaft, in knappen Strichen und gerade deshalb so lebendig Eigenarten und Schicksale der litauischen Menschen rings um Heydekrug und in der Memeiniederung am Kurischen Haff. Noch heute kann ich mich eines leisen Gerührtseins nicht erwehren, wenn ich die Geschichte von Ansas und Indre, die Geschichte von Schuld, Liebe und Tod in der "Reise nach Tilsit" lese. Das hat nichts mit Sentimentalität zu tun. Es ist auch die Erinnerung an Tilsit, die Stadt, in der meine Mutter ihre Kindheit und Jungmädchenzeit verbrachte und in der sie wie auch Antonia die Luisenschule besucht hat. "Tilschen, mein Tilschen, wie schön bist du doch! Ich liebe dich heute wie einst! Die Sonne wär' nichts wie ein finsteres Loch, wenn du sie nicht manchmal bescheinst." So singen Ansas und Erdme auf dem Karussell in "Jakobsruh", dem Park, den meine Großmutter in ihrem Alter so liebte. Sie singen es, lachend und selig, nachdem Erdure sich "all die ausgestandene Angst von der Seele geweint" hat, weil sie nun weiß, daß Ansas das nicht tun wird, um das sie in Todesangst gebangt. "Mein Ansuttis, mein Ansaschen, bitte, bitte tu mir nichts, tu mir nichts." Auf der Heimfahrt auf dem Memelstrom mit ihrem Kahn hören sie auf einmal Musik. Das sind die Dzimken, die ihre Triften während der Nacht am Ternpfahl festbinden müssen. Es sind die litauischen Flößer, von denen mir meine Mutter erzählt hat. Sie singen das hübsche Liedchen "Meine Tochter Symonene", das jeder kennt, in Preußen wie im Russischen drüben. Sie singen ihre "Dainas": "Unterm Ahorn rinnt die Quelle, Wo die Gottessöhne tanzen nächtlich in der Mondenhelle mit den Gottestöchtern". Dies alles läßt Sudermann uns nacherleben, die wir im Innern mit dem nördlichen Teil unserer ostpreußischen Heimat verbunden bleiben, auch wenn wir sie niemals mehr sehen werden!

Indes gebührt der Verdienst, das Wesen und Leben der litauischen Bevölkerung dieser Gegend als Erster der deutschen Literatur erschlossen zu haben, dem Richter und Dichter "Ernst Wichert (ohne "e"), der schon 1881 "Litauische Geschichten" - Ansas und Grita, die Schwestern, Ewe und »Der Schacktarp" - veröffentlicht hat. Schwächer als Sudermann in der dichterischen Gestaltung, aber nicht weniger lebensnah schildert er »das Völkchen der Litauer im preußischen Staat" allerdings vornehmlich in seinen weniger anziehenden Eigenschaften, wie er sie als Kreisrichter in Prökuls erleben konnte: Ihre Dickköpfigkeit, ihre Neigung zu Prozessen zwischen Landwirten und Altsitzern, ihre Unbedenklichkeit in der Bereitschaft zum Meineid (hinter dem Rücken wird mit der nach unten gestreckten Hand der Eid mit der "Schwurhand" "abgeschworen!"), ja, auch zum Giftmord (das "Altsitzerpulver" enthielt Arsen in Kuchen oder Brot hineingebacken!), ihren sittlichen Verfall, der mit dem in der Agrarwirtschaft einherging, den Grenzschmuggel, die leichte Sinnesweise im Verkehr der beiden Geschlechter miteinander", die Vergnügungssucht, Arbeitsscheu und Neigung zum Trunke bei den litauischen Frauen. Aber Wichert erwähnt auch die "Dainos" (oder "Dainas"), "Gesänge voll eines innigen und zarten. Naturgefühls", die beweisen, "in wie hohem Grade die litauische Sprache des dichterischen Ausdrucks fähig ist". "Die Litauer waren dem Namen nach Christen, evangelische Christen geworden". Aber die Kirche hatte noch Jahrhunderte lang gegen den heidnischen Glauben zu kämpfen, und Reste davon haben sich bis heute erhalten".

Dies galt auch für die Masuren, deren halbchristliche, halbheidnische Frömmigkeit Paul Fechter in seiner unvergänglichen "Komödie" "Der Zauberer Gottes'`, der dichterisch umgestalteten Geschichte des masurischen Landpfarrers Michael PogorzeIski, der Nachwelt überliefert hat. Ihre Uraufführung wurde nach einer erfolgreichen Generalprobe im Januar 1941 von der SS verboten wegen "Verherrlichung eines eigenständigen masurischen Volkstums"! Die Inszenierung hatte der Königsberger Dramaturg Dr. Karl PempeIfort, den ich noch persönlich gekannt habe, übernommen. Zur Strafe für den "Skandal, ein solches Werk überhaupt gefördert zu haben," wurde er an die Front versetzt, etwa 2 1/2 Jahre später kam es zur Anklage gegen Fechter.

Der damalige Preußische Finanzminister Johannes Popitz, der Fechter in der "Mittwochs-Gesellschaft" nahestand, hat dann eine Verbindung zu Rechtsanwalt Langbehn hergestellt, der schließlich die Einstellung des Verfahrens erreichen konnte. Zu der Mittwochs-Gesellschaft" gehörten Männer wie Pinder, Spranger, Heisenberg, Sauerbruch, der Kirchenhistoriker Lietzmann, der Geograph Penck, Generaloberst Beck. Beck und Popitz wurden nach dem Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 ermordet. Fechter hatte im Anfang der NS-Jahre durch sein "Danziger Tageblatt" Herrmann Rauschning - den Verfasser der "Gespräche mit Hitler" - gegen das Regime schützen wollen. Hans Knudsen hielt es - mit Recht - für angebracht, für Fechter, u. a. 1933 bis 1940 Mitbegründer und -herausgeber der Wochenzeitung "Deutsche Zukunft", gegen politische "Anschwärzungen und Anbräunungen" einzutreten (in einer Neuausgabe des "Zauberer Gottes", 1987 im Gerhard Rautenberg Verlag, Leer).

Erst am 23. Oktober 1948 fand die Uraufführung des "Zauberer Gottes" im Deutschen Schauspielhaus im Hamburg statt, der in rascher Folge weitere Inszenierungen auf westdeutschen Bühnen folgten, häufig mit dem Schauspieler Vasa Hochmann, der die Hauptrolle mehr als 1.300 mal gespielt hat!

Ich erliege hier der Versuchung, einige Antworten des Schulrektors PogorzeIski wiederzugeben, die Fechter ihm bei der Prüfung des Konsistoriums auf seine Eignung zum Amt des Geistlichen in herrlich - masurisch - deutschem Kauderwelsch in den Mund legt! Sie bedürfen keines Kommentars: Auf die Frage des Pfarrers Naujoks, eines verknöcherten, humorlosen Theologen, nach dem heiligen Abendmahl: "Schwierig, sehr schwierig, schwieriger wie Heilige Dreieinigkeit. Einen sagt so, einen sagt anders - Kalvin und Luther und den Papst ... viel zu wenig Zauber in Lutherkirche ... Menschlicher Lebben lebt von Zauber; wo keinen ist, ist keinen Lebben ... Geht nicht ohne Zauber. Pfarrer haben Zaubermantel an auf Kanzel, König haben Zauberstab in Hand -geht nicht ohne!" Von DrygaIskii , dem PogorzeIski wohlgesonnener Geheimer Oberkonsistorialrat, Vorsitzender der Prüfungkommission: "Preuße, alter Heide, Götzenanbeter!" PogorzeIski: "Binnen ich nicht, Herr Rat, binnen ich nicht. Preußen können hexen, klix, klax, brack. Können nicht zaubern. Zaubern sehr schwer, können nicht lernen, gibt lieber Gott und gibt nicht. Helfen keine voluntas, keine Willen, nur gratia, nur Gnade". DrygaIski: "Was Sie zaubern nennen, ist etwas ganz Natürliches." PogorzeIski: "Allen Zauber natürlich, allen Natur Zauber. Frühling Zauber, Sommer Zauber, alles Zauber. Müssen nur wissen. Heiliger Augustinus wußte." Naujoks: "Doktor Martin Luther hat all dieses Unwesen mit Feuer und Schwert verfolgt und vertilgt." PogorzeIski: "Luther auch alter Hexenmeister". DrygaIski: "Kein Zauberer?" PogorzeIski (nach einer Pause): "Zu dick!" Auf Naujoks Frage nach der Definition der Nächstenliebe: "Definieren? Aber Herr Rat. - Lassen sich Liebe definieren? Ist sich nicht Bestes an Liebe, daß bloß zu leben, nicht zu sagen? Ist sich Mensch glücklichster, wenn können lieben ... Ist Herr Christus gekommen, hat gesagt, liebe deinen Nächsten, ist sich schönstes Gebote, viel schöner als zehn Gebote, machen viel mehr Spaß, viel mehr Glück. Finden kleinen frierenden Katz - Herr Rat, helfen kleines Tier, geben Futter, geben Wärme, bis schnurrt wie kleinen dicken Brummstopf. Finden Kind, krankes, weint, - Herr Pfarrer gehen hin und helfen, bis wieder lacht, nicht weil befohlen, weil Freude macht. Gut sein zu wem nicht geht gut, beinah so schön wie Lieben, Herr Rat. Nicht ganz so, aber beinah. Ist sich so schön, weil sich ist bloß tun, nicht reden . ... Nächstenliebe nicht immer leicht. Ist nicht bloß geben und helfen, ist auch richtiges Tachtel an richtiges Fleck . ... Wer nicht hat der Liebe oder wenigstens der Nächstenliebe, bleiben sehr armes Hund, Herr Rat. Ist sich keine Definition von Nächstenliebe, ist sich aber vielleicht kleines Wirklichkeit von ihr". Darauf DrygaIski: "Herr Rat, ich glaube, die Predigt war der beste Befähigungsnachweis des Kandidaten." Naujoks: "Richtiges falsch gesagt." DrygaIski: "Ihnen ist nicht zu helfen. Meine Herren, Ihre Stimme?" Alle: "Bestanden, bestanden!"

Michael PogorzeIski hat tatsächlich gelebt, geboren am 4.9.1737 in Lepacken, Kreis Lyck. Es gab viele Pogorzelskis in Masuren. Michael wuchs als Bauernjunge auf, hütete die Gänse und verrichtete auch schwere Landarbeit. Er wurde Schüler des Altstädtischen Gymnasiums in Königsberg, studierte Theologie an der dortigen Universität und erhielt die Stelle eines Rektors" in Kutten, jetzt Kuty, etwa 20 Kilometer von meinem Geburtsort Widminnen entfernt. Mit 43 Jahren ist er zum Pfarrer in Kallinowen (Dreimühlen), einem "Grenzdorf zum damaligen polnischen Großherzogtum Litauen", berufen worden. Er erkrankte schwer, nachdem er im Winter 1787/88 unter Lebensgefahr Menschen und Pferde vor dem sicheren Tode auf dem brüchigen Eis des Skomant-Sees gerettet hatte, und starb am 29. April 1798, "Beispiel und Vorbild bis in den Tod". "Michael PogorzeIski ist einer von vieltausend ostpreußischen Dorflehrern und Dorfpfarrern, die zumeist auch so dachten, lebten und zupackten, Originale, Zauberer in vielen Künsten", schreibt H. WaIsdorff in seiner Biographie des Pfarrers von Kallinowen ("Der Kreis Lyck, ein ostpreußisches Heimatbuch", Leer 1981).

Nun bin ich doch wieder in meine Geburtsheimat Masuren zurückgekehrt! Gehörte vielleicht der Widminner Pfarrer Wiski, der mich getauft hat, auch zu jenen "PogorzeIskis"? Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht mehr, was meine Mutter über ihren Besuch bei dem masurischen Försterssohn Fritz Skowronnek berichtet hat. Er ist im "Lexikon der Weltliteratur" als "Erzähler von Jagdgeschichten und Unterhaltungsromanen, auch Dramatiker, seit 1898 freier Schriftsteller in Berlin", etwas unzureichend deklariert. Dafür erinnere ich mich, daß sie einmal zusammen mit dem Widminner Ehepaar MichaIowski an einer Berliner Aufführung des kurz zuvor, 1914, entstandenen Trauerspiels "Armut" von Anton WiIdgans teilnahm. Als Gustav MichaIowski, ostpreußischer Flüchtling wie wir, vor Beginn des Stückes, neben ihm seine pelz- und perlengeschmückte Ehefrau Ida, den Titel im Programmheft las, rief er in breitestem Ostpreußisch aus: "Hab' ich nötig, zu sehen ausgerechnet Armut! Armut hab' ich genug zu Hause!" Mamchen drohte vor den erschrocken aufhorchenden Umsitzenden zu versinken!

 

Harzreise mit Heinrich Heine

Im Herbst 1916 durfte ich mit ihr eine Reise in den Harz erleben. Sie hatte die Heinesche "Harzreise" mitgenommen und las mir daraus vor. "Schwarz Röcke, seidene Strümpfe, weiße, höfliche Manschetten, Sanfte Reden, Embrassieren - Ach, wenn sie nur Herzen hätten ... !", so klingt es noch in meinem Ohr. Vieles an dieser unvergänglich gebliebenen, geist-, ironie- und witzsprühenden Prosa-Poesie-Dichtung Heinrich Heines habe ich als 10jähriger Junge natürlich noch nicht recht verstanden. Verwundert und amüsiert war ich über die ersten Sätze: "Die Stadt Göttingen, berühmt durch ihre Würste und Universität, gehört dem Könige von Hannover und enthält 999 Feuerstellen, diverse Kirchen, eine Entbindungsanstalt, eine Sternwarte, einen Kanzler, eine Bibliothek und einen Ratskeller, wo das Bier gut ist...". Heute, da ich dies niederschreibe, habe ich dien Harzreise" wieder gelesen - voller Entzücken! Meine Eindrücke von dem frühesten Landschaftserlebnis meines Lebens, dem Harz, wurden erneut lebendig und gegenwärtig: Goslar, Schierke, "Elend", die "Roßtrappe", der "Brocken" - wie erhoben und erhaben fühlte ich mich damals, als unter mir die Wolken dahinzogen! Am stärksten ergriff mich die Wanderung an der lieblichen "Ilse" entlang, dem Bächlein, das in unzähligen Wasserfällen und wunderlichen Windungen das Bergtal hinabrauscht." In der Sage erscheint sie als "lachende und blühende Prinzessin", und ich verfiel selbst ein wenig diesem Zauber, als meine Mutter mir ihr liebstes Gedicht aus der "Harzreise" vorlas: "Ich bin die Prinzessin Ilse und wohne in Ilsenstein; komm' mit nach meinem Schlosse, Wir wollen selig sein .... Dein Haupt will ich benetzen Mit meiner klaren Well, Du sollst deine Schmerzen vergessen, du sorgenkranker Gesell." Ein solcher war ich damals zwar nicht, aber ich habe es meiner Mutter zu verdanken, daß sie mir den Zugang zu Heinrich Heine erschlossen hat. Ihm fühlte ich mich innerlich verwandt in meiner knabenhaft verschwommenen, schwärmerisch-wehmütigen Sehnsucht nach dichterischer Verzauberung der Wirklichkeit und in ersten Ansätzen in meiner späteren Verachtung eng-bürgerlichen Spießertums. "Unendlich selig ist das Gefühl, wenn die Erscheinungswelt mit unserer Gemütswelt zusammenrinnt und grüne Bäume, Gedanken, Vogelgesang, Wehmut, Himmelsbläue, Erinnerung und Kräuterduft sich in süßen Arabesken verschlingen." Dies war die eine, die dichterisch verklärende Seite, die mich ebenso anzog, wie die andere, die entromantisierende, ironische: "im allgemeinen werden die Bewohner Göttingens eingeteilt in Studenten, Professoren, Philister und Vieh, welche vier Stände doch nichts weniger als streng geschieden sind. Der Viehstand ist der bedeutendste...", heißt es über die Stadt, die "einem am besten gefällt, wenn man sie mit dem Rücken ansieht". Herrlich frech auch der Schlußsatz der "Harzreise":

"Es ist der erste Mai, der lumpigste Ladenschwengel hat heute das Recht, sentimental zu werden, und dem Dichter wolltest du es verwehren?" Als Geleit gab Heine der "Harzreise" - sie ist Fragment geblieben - die schönen Worte Ludwig Börnes mit, den er noch nach dessen Tode mit einer haßerfüllten Schmähschrift bedacht hat: "Nichts ist dauernd, als der Wechsel; nichts ist beständig , als der Tod. Jeder Schlag des Herzens schlägt uns eine Wunde, und das Leben wäre ein ewiges Verbluten, wenn nicht die Dichtkunst wäre. Sie gewährt uns, was uns die Natur versagt: eine goldene Zeit, die nicht rostet, einen Frühling, der nicht abblüht, wolkenloses Glück und ewige Jugend." Würden Börne und Heine Ähnliches auch von der heutigen Dichtung sagen können? Sollen wir Verlorenem nachtrauern, wenn wir lesen, daß Heines Herz "in der Frühe eines Tages schon so stark duftete, daß es ihm betäubend zu Kopfe steigt" und er "nicht mehr weiß, wo die Ironie aufhört und der Himmel anfängt?" Diesen Widerspruch zwischen "Ironie" und "Himmel" hat er in seinem letzten (dritten) Testament aufzuheben versucht in dem "Glauben an einen einzigen Gott, den ewigen Schöpfer der Welt, dessen Erbarmen ich anflehe für meine unsterbliche Seele."

Leider hat Paul Fechter einer "Anbräunung" seines Urteils über Heinrich Heine nicht widerstanden. Er war zwar kein chauvinistischer "Heinefresser" - und ich bin kein romantischer" "Heineschwärmer" mehr -, aber er schreibt in seiner "Geschichte der deutschen Literatur", 1941 (!) bei Knaur erschienen, über den Dichter, "den ersten, für den Literatur Beruf im heutigen Sinne wird, der den Übergang zum Journalismus auf allen Gebieten vollzieht" : "Ein sehr geschicktes jüdisches Worttalent ohne Hemmungen bemächtigt sich schon in jungen Jahren der Formeln der Echtheit, benutzt sie, aber vermag nicht, neue aus sich zu schaffen." Woher nimmt Fechter sich das Recht, über Echtes und Unechtes in der Dichtung Heines zu urteilen, wenn nicht aus seinem Vorurteil über das Jüdische in ihm? Erst jetzt, da ich dieses niederschreibe, entdecke ich in Fechters "Deutscher Literaturgeschichte" einen Abschnitt über Adolf HitIers "großes Bekenntnisbuch" "Mein Kampf` ! (In einem schlimmen Geschwafel über die "große allgemeine Volksseele", von der dieses Buch redet, kommt er, ohne ein Wort über den Inhalt zu verlieren, zu dem allerdings richtigen, wenn auch von ihm so nicht erwarteten Schluß: "Hitler liest man, und das Eigentliche beginnt erst !" Obwohl - oder weil ! - die meisten Deutschen "Mein Kampf' nicht gelesen haben, hatte "das Eigentliche" schon längst begonnen, als Fechter diesen literarischen Hymnus auf den Diktator verfaßte! Schrecklich ist auch das, was er anschließend zu Alfred Rosenbergs "Mythos des 20. Jahrhunderts" sagt: Er habe Houston Stewart ChamberIains "Grundlagen des 19. Jahrhunderts" aufgenommen und zu einer "neuen Weltgeschichte" vollendet! Das Germanische, das nordische Blut sei für  Rosenberg das "entscheidende Element aller Geschichte", es stelle "jenes Mysterium dar, welches die alten Sakramente ersetzt und überwunden hat: es ist überall das Letzte als Träger von Willen, Charakter, Dynamik, die formenden Elemente aller politischen und geistigen Geschichte!"

Zurück zu uns beiden Flüchtlingen: Da ich durch die Berliner "Kohlrüben-Winter" abgemagert und geschwächt war, suchte meine gute Mutter mir wenigstens mit Hilfe eines "Medico-mechanischen Institutes" zu muskulärer Kräftigung zu verhelfen. Durch sinnreich erdachte Apparaturen wurden Bewegungs- und Widerstandübungen mit Armen und Beinen ermöglicht, und ich glaubte deren erfolgreiche Wirkung durch häufiges Betasten meines Musculus biceps und dessen vermeintliche oder tatsächliche Volumenzunahme nicht ohne Stolz feststellen zu können. Ein anderes knabenhaftes Erlebnis, das meinem Selbstbewußtsein guttat, erfuhr ich durch einen Eisennagel, den ich für die Opferung einer Goldmünze - "Gold gab ich für Eisen!" - in die gigantische Holzstatue des "Eisernen Hindenburg" an der Siegessäule im Berliner Tiergarten, auf einen hohen Podest geklettert, einhämmern durfte!

 

 

Gymnasialzeit in Braunsberg

 

Am 1. Februar 1917 wurde mein Vater in den Zivilstand zurück- und als Kreisarzt nach Braunsberg versetzt. Die Geschichte dieser "Hauptstadt des Ermlandes" ist interessant als wichtiger Teil der Geschichte der Kolonisation Ostpreußens, der Reformation und Gegenreformation, der preußisch-polnischen Beziehungen wie der politischen, Kultur- und Bildungsgeschichte des Ostens. Ich will sie daher in Daten und Stichworten zu skizzieren versuchen: 1240 oder 1241 erste Deutschordensburg "Brunsberg" an der Passarge, einem in das Frische Haff mündenden Flüßchen, an dessen Ufer ein preußischer (altpreußischer) Ort "Brusebergue" bestanden hatte. 1242: Ordensburg durch Preußenaufstand zerstört. 1243: Päpstlicher Legat Wilhelm von Modena teilt Deutschordensland in vier Diözesen. Eine von ihnen ist das Ermland. 1250: Neben einer neuen Ordensburg werden Deutsche angesiedelt. 1260: Burg und Siedlung bei neuem Preußenaufstand vernichtet. 1274: Neue Stadtgründung. 1. April 1284: Eigentlicher Gründungstag (Handfeste nach Lübischem Recht durch Bischof Heinrich den Ersten Fleming erteilt) 1358: Braunsberg Hansestadt! 1410: Polen erbeuten in der für sie siegreichen Schlacht bei Tannenberg das Braunsberger Stadtbanner und hängen es in der Schloßkirche in Krakau auf. 1454 - 1466: Städtekrieg zwischen dem Deutschen Ritterorden und dem von Polen unterstützten "Preußischen Bund", dem Braunsberg angehörte. Schreckensregiment des tschechischen Söldnerführers John SchaIski über die Stadt. 1466: Der Deutsche Orden muß im 2. Thorner Frieden Westpreußen an Polen abtreten. Ermland mit Braunsberg unterwirft sich der polnischen Krone. 1520: Im "Reiterkrieg" zwischen dem Deutschen Orden und Polen wird Braunsberg vom Hochmeister Albrecht von Brandenburg besetzt, der es 1525, nach dem Krakauer Frieden, wieder räumt. 1523: Die Reformation beginnt in Braunsberg Fuß zu fassen. Sie wird zwar vom Bischof Mauritius Ferber, unterstützt durch König Sigismund von Polen, mit drakonischen Maßnahmen eingedämmt, ergreift aber weitere Kreise, vor allem in der gehobenen Schicht. 1551: Ein von deutschen Eltern gebürtiger, später zum Kardinal ernannter Geistlicher aus Krakau wird Bischof von Ermland und erfolgreichster Vorkämpfer der Gegenreformation im Osten: Stanislaus Hosius. Die von Hosius gerufenen Jesuiten gründen im leerstehenden Franziskaner-Kloster ein Gymnasium mit fünf Klassen und zusätzlicher Ausbildung in den theologischen und philosophischen Disziplinen. 1567: Gründung eines Priesterseminars zur praktischen Ausbildung der Alumnen. 1579: Gründung eines päpstlichen Seminars in Braunsberg zur Ausbildung von Missionaren mit dem Ziel der Wiedergewinnung der nordischen Länder für den katholischen Glauben. 1583: Die Regeln der von der Braunsberger Bürgertochter Regina Prothmann gegründeten, nach der Patronin der Pfarrkirche benannten Kongregation, den Katharinerinnen, werden von Bischof Kremer bestätigt. (Meine Mutter ist von einer Nonne des Katharinenklosters - sie wurden "Kathaschinchen" (mit weichem "sch"! genannt) - der guten Schwester Gonsalva, in rührend-liebevoller Weise bis zu ihrem Tode gepflegt worden!) 1624: Eine Pest-Epidemie fordert zahlreiche Opfer. 1626: König Gustav Adolf von Schweden zieht in Braunsberg ein. Für die katholische Stadt folgen neun Jahre schwerster Heimsuchungen. 1635: Braunsberg wird seinem bischöflichen Landesherrn zurückgegeben. 1637 – 1657: In der Altstadt von Braunsberg werden Frauen und ein Mann als angebliche Hexen verbrannt, in der Neustadt 23 Personen als Hexen hingerichtet. 1655 - 1663: Im 2. Schwedisch-Polnischen Krieg erneut schwere Schäden. Verlegung der theologischen Fakultät nach Wilna. 1656: Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der große Kurfürst, erhält vom Schwedenkönig das Ermland als Lehen, räumt es aber nach einem Jahr wieder. 1703: Im Nordischen Krieg besetzt König Karl der Zwölfte von Schweden Braunsberg. Kurz zuvor war Zar Peter der Große hier Gast des Jesuitenkollegs gewesen. Hunger, Pest und Kalte wüten in der Stadt 1743 – 1771. Die Jesuiten erbauen das Gymnasium (aus dieser Zeit stammt der Bau des "Gymnasium Regium Varmiense Brunsbergae", der auf einem Stich über meinem Schreibschrank aus dem Jahre 1830 abgebildet ist!). 1772: Erste Teilung Polens. Braunsberg wird mit dem übrigen Ermland dem preußischen Staate einverleibt! 1773: Papst Clemens XIV hebt den Jesuitenorden unter dem Druck katholischer Mächte auf! Friedrich der Große beläßt aber den Jesuiten auch weiterhin die von ihnen geführten Anstalten! Doch es fehlt ihnen an Nachwuchs. 1811: Das Bildungswesen der ermländischen Hauptstadt wird unter der Ägide des Bischofs Joseph von Hohenzollern neu aufgebaut. Das im Geiste Wilhelm von Humboldts reorganisierte humanistische Königliche Gymnasium wird am 29. Dezember feierlich eröffnet. Kurator ist der "Königliche Kommerzienrat" Johannes Östreich, der sich um die Gründung des Gymnasiums hoch verdient gemacht hat. Zu seiner Zeit erlebte die Stadt eine wirtschaftliche Blüte, von der die schönen Speicher am Passargefluß zeugen. Erster Direktor des Gymnasiums: Der Münsteraner Heinrich Schmülling. Die bildungsgeschichtlichen Beziehungen zwischen Braunsberg und Münster, im besonderen der gemeinsame katholische Glaube und nicht zuletzt auch die Wesensverwandtschaft zwischen ostpreußischen und westfälischen Menschen, führten im Jahre 1954 zur Patenschaft Münster-Braunsberg. Das "Paulinum" in Münster wurde die Patenschule unseres Gymnasium Hosianum. 1812: Napoleon kommt durch Braunsberg. Er will die große Glocke der Pfarrkirche St. Katharina nach Paris schaffen. Sie hängt heute im Glockenturm der ehemaligen Benediktiner-Abtei Kornelimünster bei Aachen. 1813: Die Schüler der Oberstufe des Gymnasiums werden mit einer "flammenden Rede" des Oberlehrers Gerlach in den Befreiungskrieg entlassen. 1821: Das "Königliche Lyceum Hosianum" wird als eine mit ihrer theologischen und philosophischen Fakultät den Universitäten gleichgestellte Hochschule eröffnet und dient vor allem der Ausbildung des ermländischen Priesternachwuchses, seit 1912 "königlich", seit 1918 "Staatliche Akademie". Das Attribut "Hosianum" wird nach dem ersten Weltkrieg vom Gymnasium übernommen. 1837: Eröffnung der nach den Plänen der Schinkelschen Schule erbauten Evangelischen Kirche. 1842: Eröffnung des Bischöflichen Konvikts. 1848: Bürgerwehr schlägt revolutionäre Erhebungen nieder. 1852: Eröffnung der Teilstrecke Marienburg-Braunsberg als ältester Eisenbahnlinie Ostpreußens in Anwesenheit des Königs Friedrich Wilhelm IV - damit Ende der Braunsberger Handelsschiffahrt! 1854: Einweihung der Synagoge, die 1939 in der sogenannter "Kristallnacht" niedergebrannt wurde. 1871: Einstellung der Unterrichtstätigkeit der Katharinenschwestern an der Katholischen Mädchenschule auf Grund der Kulturkampfgesetze. Ende des Kulturkampfes durch Papst Leo III und das Einlenken Bismarcks! 1879: Braunsberg wird Sitz eines Amts- und Landgerichtes, 1890 - 91 eines Landgestütes. 1887: Errichtung einer Landwirtschaftsschule als einer der ersten in Ostpreußen. 1914: Bei Kriegsausbruch werden 100 der 347 Gymnasiasten "zu den Fahnen gerufen". Bis Kriegsende sind 400 Braunsberger Bürger gefallen. 1922: Vereinigung der Braunsberger Höheren Mädchenschulen zur "Elisabethschule" (unter ihrer bedeutenden, von uns Gymnasiasten wegen ihrer strengen Observanz über die Schülerinnen ungern respektierten, Leiterin Elisabett Schroeter). 1922: Das Lehrerseminar wird durch die zum Abitur führende "Aufbauschule" ("Schloßschule") abgelöst. 1933: Die städtische Selbstverwaltung wird durch eine Verwaltung nach dem "Führerprinzip" ersetzt! Ortsgruppen-, Kreisleiter und andere Parteiinstanzen treten als maßgebliche Faktoren neben die alten Behörden. 1935: Mit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht wird Braunsberg wieder Garnisonsstadt. 1937: Das Gymnasium Hosianum wird in eine "Deutsche Oberschule" mit dem Namen "Hermann-von-Salza-Schule" umgewandelt. Februar - März 1945: Bei den Kämpfen um Ostpreußen wird Braunsberg (mit der herrlichen Pfarrkirche St Katharina, einem der schönsten backsteingotischen Kirchenbauten des Ostens, und dem Rathaus mit figurengeschmückten Barockgiebel) weitgehend zerstört, von der Sowjet-Armee erobert und im Oktober mit dem südlichen Ostpreußen einschließlich des Ermlandes den Polen überlassen. Braunsberg heißt jetzt Branjewo.

 

Die Geschichte des Braunsberger humanistischen Gymnasiums, in dessen Quinta ich 1917 vom Helmholtz-Realgymnasium in Schöneberg überwechselte - mein vierter Schulwechsel -,  ist eng verbunden mit der Geschichte der Beziehungen zwischen dem katholischen, noch unter der polnischen Krone stehenden Fürstbistum Ermland und dem evangelischen Herzogtum und späteren Königtum Preußen. Auf der einen Seite hatten die Jesuiten in Königsberg und Tilsit Niederlassungen gegründet, auf der anderen kehrten die preußischen Herrscher, Regenten und Adligen auf dem Wege von Königsberg und Berlin wiederholt im gastlichen Jesuitenkolleg Braunsbergs ein. Auch sonst gab es damals ständige Berührungen mit dem geistigen Leben der Zeit, z B. dadurch, daß die Braunsberger Jesuiten im 17. Jahrhundert mit den Dichterkreisen um Martin 0pitz und Simon Dach in Verbindung standen und "Wettgedichte" verfassten. Der Geist des abendländischen christlichen Erbes war noch lebendig geblieben, und es hatte sich schon das entwickelt, was wir heute wieder mühsam suchen und anstreben: Eine deutsch-polnische Schicksalsgemeinschaft. Dies hat die Diözesan-Archivarin Frau Dr. phil. Anneliese Triller, Tochter des früheren Ordinarius für Ophtalmologie in Königsberg, Prof. Birch-Hirschfeld (von dem ich 1930 im Staatsexamen geprüft wurde), in ihrem Beitrag "Das Jesuitenkolleg in Braunsberg 1565-1772" im Jahre 1965 geschrieben. Ich kam also in eine Schule mit bedeutender humanistischer Tradition, in der "christlicher Geist und neuhumanistische Ideale in glücklicher Vereinigung der ermländischen studierenden Jugend die Grundlagen für eine spätere akademische Ausbildung vermittelten", wie ein anderer Chronist unseres Gymnasiums, Bernhard-Maria Rosenberg, feststellen konnte. Obwohl ich kein gebürtiger Ermländer und nicht katholisch war, habe ich mich in Braunsberg nicht als "Zugewanderter" oder konfessioneller Außenseiter gefühlt. Es herrschte vielmehr ein Geist gegenseitiger Toleranz, der auch meinem Vater als dem - nach meiner Erinnerung - einzigen höheren Beamten evangelischen Glaubens in Braunsberg, vielleicht sogar im Ermland, die Umstellung erleichterte. Allerdings war auch er selbst frei von Vorurteilen und wußte durch seine verbindliche und humorvolle Art die Zuneigung und Wertschätzung der Menschen in Stadt und Kreis Braunsberg zu gewinnen. Meine Mutter neigte mehr und mehr, namentlich auf ihrem jahrelangen Krankenlager, im Innersten berührt von der tiefen Frömmigkeit ihrer Freundin Hedwig Jagdt, zum katholischen Glauben. Sie würde sich sogar zur Konversion entschlossen haben, wenn sie nicht Rücksicht auf die "freigeistige" Haltung meines Vaters genommen hätte, die ihm mit einer konfessionellen Bindung nur schwer vereinbar erschien. Auch seine Zugehörigkeit zu einer Freimaurerloge mag dabei mitgesprochen haben. Die Herzens- und Geistesfreundschaft, die meine Mutter mit der weit jüngeren, menschlich vorbildlichen Oberschullehrerin, einer begnadeten Pianistin, Musikpädagogin und Chorleiterin, verband, hat in und nach dem zweiten Weltkriege als enge freundschaftliche Verbundenheit zwischen unserem "Hedchen" und Antonia und mir weitergelebt und unser Leben bereichert. In einem Nachruf, der in den "Braunsberger Schulheften" veröffentlicht wurde - sie starb 1968 mit 72 Jahren in Andernach am Rhein - habe ich versucht, ihr Wesen und Wirken, ihr an Erfolgen und Anerkennung, aber auch an Opfern und Verzichten reiches Leben nachzuzeichnen. Ihr verdanke ich es, dass sie mir bei allem Verständnis für meine überkonfessionelle Haltung als "Weltkind in der Mitten" zu einer Annäherung an das katholische Glaubensdenken verholfen hat, die durch den "Genius loci Brunsbergensis" vorgeprägt war. Es schmerzte sie immer ein wenig, wenn ich versuchte, die kritische Sonde der Kantischen Ratio an das dogmatische Gefüge christliche-mythologischer Überlieferungen zu legen und mich eine Zeitlang für "linke", "humanistische" Richtungen zu interessieren. Aber sie glaubte mir nicht recht, daß ich mich zum intellektuellen advocatus diaboli eigne, und sie wußte, daß mir das Mythische nicht weniger bedeutet als das Logische. Sie kannte die "naive", in der Kindheit und mütterlichen Frömmigkeit verwurzelte Seite meines Wesens. Sonst hätte sie mir nicht die "Gebete großer Seelen" aus dem "Ars sacra"-Verlag mit ihrem Namenszug geschenkt, die heute noch auf meinem Nachttisch liegen. Sie hat mir den Zugang zu Thomas  von Aquin eröffnet, dessen "Studiengebet" sie mir aufschrieb, und die innere Begegnung mit dem großen Beter Kardinal John Henry Newman mit Gertrud von le Fort, mit Theodor Haecker, Reinhold Schneider, Josef Pieper vermittelt. Nach einem schweren Bombenangriff auf Leipzig im Dezember 1943 schickte sie uns Werner Bergengruens Gedicht "Himmlische Rechenkunst", das mich durch Zeiten der Not und Gefahr, im Rußlandkriege, in der Sorge und Entbehrung der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre, in der Emigration aus der DDR, im schweren Neuanfang getreulich begleitet hat: "Was dem Herzen sich verwehrte, laß es schwinden, unbewegt, allenthalben das Entbehrte wird dir mystisch zugelegt. Liebt doch Gott die leeren Hände, und der Mangel wird Gewinn, immerdar enthüllt das Ende sich als strahlender Beginn!" und "Jeder Schmerz entläßt dich reicher Preise die geweihte Not! Und aus nie geleertem Speicher nährt dich das geheime Brot." Hedwig Jagdt hat den geheimen Segen der - nicht aller! - Not an sich selbst erfahren, als sie im Februar 1945 ihre todkranke Mutter im sterbenden Braunsberg zurücklassen mußte und wie durch ein Wunder auf der Flucht über das Eis des Haffs errettet wurde: Ein Hund hatte sich – zufällig? - des Nachts auf sie gelegt und sie mit seinem dichten Fell vor dem Erfrieren bewahrt. Zu ihrem Geburtstag am 22. Oktober 1962 konnte ich ihr für Antonia und mich schreiben: "Ohne Dich wäre unser Leben um etwas Unersetzbares ärmer!"

 

Erste Bildungsquellen und politische Eindrücke

 

Das erste Tagebuch meines Lebens beginnt mit einer Eintragung vom 24. Juni 1920: "Heute mein vierzehnter Geburtstag, ich bekam viel geschenkt, vor allem `Theoderich´, `Unter den Fahnen Friedrichs des Großen´, `Der Ritter vom schlafenden Leoparden´, `Spitzwegs bürgerlicher Humor´, `Aus der Kinderstube der Tiere´, `Erdalter und Tierwelten´, `Die Zelle´, `Erinnerungen eines alten Mannes´(Kügelgen), außerdem ein Kästchen mit `Ex libris´ für meine Bücher, ein Notenheft: Mendelssohn, Lieder ohne Worte, Federhalter, Bleistifte, Federn, Radiergummi etc., zwei Quartettspiele und zu guter Letzt auch noch dieses Tagebuch." Mit der Aufzählung dieser Geschenke sind meine wesentlichen Interessen und Neigungen schon frühzeitig umrissen. Lesen, Schreiben, Musik. Die Freude am Schreiben bekundete sich dann gleich in der Eintragung zwei Tage später: "Heute bekamen wir unseren Klassenaufsatz zurück, ich habe ihn `sehr gut´, der beste Aufsatz, worüber ich mich natürlich mächtig freute". "Nicht so mächtig gefreut" habe ich mich in den oberen Klassen des Gymnasiums über die Zensuren in Mathematik, die sich zwischen "mangelhaft, teils besser", und "ungenügend" bewegten. Am Helmholtz-Realgymnasium Berlin-Schöneberg war "Rechnen (Algebra, Geometrie)", wie auch auf der Quarta und Quinta des Braunsberger Gymnasiums noch mit "gut" bewertet worden. Meiner Eltern und meine Freude über die sonst guten, in Deutsch meist sehr guten Noten wurde leicht gedämpft dadurch, daß ich seit der Obersekunda im "Betragen" von "Sehr gut" auf "Gut" absank und mir auf der Obertertia die Bemerkung einhandelte: "Er mußte wegen seiner unruhigen Haltung und seines vorlauten Wesens getadelt werden"!: Lümmeljahr! Vorpubertät!

 

Das Tagebuch berichtet weiter von meinen neuen Freunden Heinz Riege und Ottomar Janzen, Gutsbesitzersöhnen aus Auhof und Rosenort bei Braunsberg, und Otto Gramsch, Sohn des früheren Regierungspräsidenten von Königsberg, und Franz HiIdebrandt, genannt "Brutscher" = "Brüderchen", Jüngster einer großen Kinderschar des Braunsberger Pfarrhauses. Heinz Riege wurde Hals- Nasen- und Ohrenarzt und aktiver Sanitätsoffizier der Wehrmacht, Otto Gramsch war der Urenkel des Generals Albrecht von Stosch, der als Begründer der prußisch-deutschen Kriegsflotte und einer der Gegner Bismarcks eine wichtige politische Rolle spielte, wie der historisch interessante Briefwechsel mit seinem Freund, dem badischen Staatsmann Freiherr von Roggenbach, bekundet. Otto Gramsch, juristisch, diplomatisch und wirtschaftspolitisch hochbegabt, war im Dritten Reich als rechte Hand des Reichspräsidenten Schacht (seines "Stehkragen-Chefs") und während des Zweiten Weltkrieges als Beauftragter des "Hermann-Göring-Planes" in der rumänischen Erdöl-Industrie tätig. Franz HiIdebrandt hat sich nach dem Kriege als Kirchenpräsident in der DDR große Verdienste um die Abwehr des Kampfes der kommunistischen Regierung gegen die evangelische Kirche erworben. Ottomar Janzen ist im späteren Leben gescheitert. In der Ziegelei des Gutes RodeIshöfen, die Vater Gramsch - er hatte den ihm von Kaiser Wilhelm II. für seine Verdienste um den Aufbau der Provinz Posen-Thorn angebotenen Adelstitel aus Bürgerstolz abgelehnt! - von seiner Schwiegermutter Frau von Stosch übernommen hatte, brannten wir Jungens allerlei von uns aus Ton geformte Figuren, darunter eine Art von Venus von Milo, die aber eher der steinzeitlichen "Venus von Millendorf" glich, und gedachten sie in einem kleinen "Museum" (Eintritt eine Mark!) auszustellen. Dazu ist es nicht mehr gekommen.

 

Von der alten, ehrwürdigen Frau von Stosch Ottos Großmutter, die mich und die ich sehr gerne mochte - sie nannte mich mit meinem Kosenamen "Mofchen" - wurde folgende wahre Geschichte erzählt: Sie hatte sich einmal entkleidet, um in der an Rodelshöfen vorbeifließenden Passarge zu baden, wurde dabei von dem Gärtner des Gutes gesehen und reagierte erschrocken mit einem lauten "Huh!". Der Gärtner beruhigte sie mit den Worten: "Frau Barone war mi oock nuscht Nijet mehr wiese" ("Frau Baronin werden mir auch nichts Neues mehr zeigen'"). Zu meinen zaghaften Versuchen bildnerischer Betätigung gehörten Bleistift- und Federzeichnungen, später auch Aquarelle, meist Landschafts- und Städtebilder. "Das Bildchen ist ganz nett geworden", lautete ein Eintrag in meinem Tagebuch zum Geburtstag meines Vaters 1920, dem ich eine kleine Zeichnung schenkte. Anleitungen dazu hatte ich unserem vorzüglichen Zeichenlehrer Herrn Heider zu verdanken, der später, bei der Aufführung der Antigone des Sophokles durch uns Schüler eine geradezu geniale Inszenierung mit den einfachsten Mitteln zustande brachte. Mein Sinn für Malerei wurde auch durch die Braunsberger Volkshochschule angeregt. Ich erinnere mich an den Vortrag eines Berliner Kunsthistorikers Dr. Köppen mit einer Einführung in die Kunstgeschichte, in die ich mich mit Hilfe eines "Seinem lieben Hans­Werner vom alten Onkel Wollermann" zur Einsegnung geschenkten kunstgeschichtlichen Werkes vertiefte. (Der Geheime Medizinalrat Dr. Karl Wollermann war als früherer "Kreisphysikus" und Chefarzt des Johanniter­-Krankenhauses in Heiligenbeil, der Nachbarkreisstadt Braunsbergs, ein verehrter und geliebter Freund meiner Eltern). So sehr ich den Impressionismus, namentlich auch den französischen, liebte, so "greulich" fand ich die "überkandidelten" Formen des Expressionismus, die mir als "Mißgeburt der Malerei" erschienen. Mein Verständnis für ihn erwachte erst viel später.

 

Der Übergang vom Kaiserreich zur Republik 1918 habe ich nur soweit erlebt, als ein Mitglied des "Arbeiter- und Soldatenrates" der Stadt meinem Vater Rache für ein seiner Meinung nach ungerechtes Gutachten angedroht hatte. Als ich das erfuhr, lief Ich ein paar Tage lang mit einem halb aufgeklappten Taschenmesser in der Hosentasche herum, um mein "Papchen" notfalls zu verteidigen. Mit den damaligen "Revolutionären" hatte ich nichts im Sinn. Ich empfand mehr Ekel als Schrecken vor dem primitiven Klassenhaß, der damals in dem Ruf "Licht aus, Messer raus, Bürgerblut muß fließen!" Ausdruck fand. Ich fühlte und dachte durchaus patriotisch-bürgerlich und war empört über die Schmach, die uns Deutschen durch den Vertrag von Versailles angetan worden war. Unter dem 2. September 1920 trug ich in mein Tagebuch ein: "So weit ist es schon gekommen, daß von der Interallierten Kommission verboten wurde, den Sieg bei Tannenberg am 2. September zu feiern, weil damit der Anschein einer Sedan-Feier erweckt worden wäre!" Auf der anderen Seite war ich zutiefst empört über die Ermordung des Reichsministers des Äußeren Dr. Walther Rathenau am 24. Juni 1922, meinem 16. Geburtstage: "Eine verabscheuungswürdige Tat", heißt es in meinem Tagebuch, "die allenfalls nur durch die jugendliche Unüberlegtheit der Täter entschuldbar ist"…"Die Mörder sind sich der Tragweite des Verbrechens sicher gar nicht bewußt geworden. Sie wollten eine linksgerichtete Empörung über den Mord, damit eine rechtsseitige Opposition und daraus folgend eine staatliche Umwälzung erreichen...Der Plan hat aber das Gegenteil bewirkt: Die Regierung erläßt die Ausnahmegesetze zum Schutze der Republik, die nun fester denn je dasteht[", so schrieb ich damals.

Meine frühe Verehrung für Rathenau hat mich auch später nicht verlassen. Ich war und bleibe bis heute gefesselt von seiner spannungsreichen Persönlichkeit, seinem faszinierenden Geist, seiner reinen Gesinnung. Die Empörung über den Mord war übrigens keineswegs allgemein verbreitet. Der frühere Kaiser Wilhelm II hat gesagt: "Geschieht ihm recht!" Die moralisch eigentlich Schuldigen, unter ihnen die ultrakonservativen Ludendorff und HeIfferich, werden frohlockt haben. "Ein sehr beträchtlicher Teil der Nation war gar nicht empört, zuckte die Achseln, schmunzelte heimlich, jubelte laut", schreibt Golo Mann in seiner "Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts". Es gab Damen der Großbourgeosie, gute Christinnen, muß man annehmen, welche die Nachricht von Rathenaus Ermordung sehr lustig stimmte. War der Mann nicht Demokrat? "Erfüllungspolitiker"? Jude obendrein? Daß er nebenbei der heißeste Patriot war und einer der ganz wenigen geistig schöpferischen Staatsmänner dieser Epoche, daß seine große Planleistung die deutsche Industrie 1914 erst kriegsfähig gemacht hatte - es ging unter in der entmenschten Hetze gegen ihn, fand nicht Eingang in die verrohten, vergifteten Seelen" (Golo Mann). "Knallt ab den Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau!" war der Kehrreim eines Liedes, das die Mannschaften des "Oberschlesischen Selbstschutzes" sangen! Ernst von SaIomon, der wegen Beihilfe zu dem Mord - er hatte einen Chauffeur für das Mordauto besorgt - zu fünf Jahren Zuchthaus und fünf Jahren Ehrverlust verurteilt wurde, hat sich in seinem 1951 erschienenen "Fragebogen" zu seiner Mitschuld an dem "hundeelenden, gemeinen, hinterlistigen Mord" bekannt und ihn als "Pubertätserscheinung" eines Neunzehnjährigen zu erklären versucht, für die das Gefühl, sich für eine große Sache zu opfern, wie Karl Moor "die Erde an den Mond zu sprengen", viel wichtiger war als das Resultat.

 

Obwohl damals selbst in der Pubertät, war ich vor Gefühlen solcher Art bewahrt geblieben. Anlaß zur Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus-Problem gab ein Vorfall im Januar 1924, der die Bürger Braunsbergs höchst erregte und in zwei Lager spaltete: Zwei junge jüdische Männer, ein Jurastudent und ein Kaufmannssohn, wurden in der Silvesternacht mit dem Ruf "Judenpack raus!", "Nach Palästina mit Euch!" beschimpft, angerempelt und mit einem Silvester-Scherzdolch aus Holz bedroht. Der Student, Mitglied der jüdischen Akademikerschaft "Makkabäa", gibt nach einem Schreckschuß mit seinem Revolver vier gezielte Schüsse ab und töten einen der Provokateure. Gegen die Entscheidung des Staatsanwaltes, den Täter wegen "Putativnotwehr" und mangelndem Fluchtverdachts nicht zu verhaften, protestierte ein größerer Teil der Bürger. Man beruhigt sich erst wieder, als der Unglücksschütze in Untersuchungshaft genommen wurde. Leider ist mir der Ausgang des Strafprozesses nicht in Erinnerung geblieben.

 

Meine jugendlich-patriotische Gesinnung wurde tief verletzt von der Besetzung des Rheinlandes durch französische Truppen Anfang März 1921. Ich begeisterte mich für den erfolgreichen Verteidigungskampf Gneisenaus um die Festung Kolberg 1807, mit dem er der Napoleonischen Armee den Nimbus der Unbesiegbarkeit genommen hatte. Wie bei dem Politiker Rathenau bewunderte ich bei dem Soldaten Gneisenau die geistige Haltung, die literarische Belesenheit, den musischen Sinn. Aber erst später erfuhr ich, daß Gneisenau nicht nur als junger Leutnant Verse auf Lessings Tod verfaßt, Theaterstücke geschrieben und gespielt, sondern auch seinen Kant gelesen hatte. Aus der belagerten Festung Kolberg schrieb er: "Was können wir glauben, was sollen wir hoffen, was müssen wir tun? Diese drei Kantischen Fragen lassen sich füglich auf uns anwenden." (Die vierte Frage Kants: Was ist der Mensch'" stand offenbar nicht zur Diskussion). Unser Deutschlehrer, Dr. Candidus Barzel, Vater des späteren CDU-Politikers, erteilte mir den Auftrag, einen Vortrag über die Stadt und Festung Kotberg zu halten und zur Einführung eine Skizze der Stadt an die Wandtafel zu zeichnen. Dieser erste Vortrag meines Lebens - mit 14 Jahren – "klappte gut", wie ich meinem Tagebuch anvertraute mit dem Zusatz: "…Einer (der Mitschüler) sagte sogar, Barzel selbst hätte es nicht so gut gemacht. Wollte mir wohl etwas schmeicheln!"

 

Bei allem pubertär glühenden Nationalgefühl konnte ich es nicht unterlassen, am 1. Mai 1923 aus reiner Neugier eine kommunistische Maifeier in der Königsberger Stadthalle gemeinsam mit meinem Freunde Otto Gramsch zu besuchen. Mit einer roten Blume im Knopfloch geschmückt, erlebten wir die Deklamation eines von einem sechsjährigen Knirps vorgetragenen Gedichtes mit dem Aufruf zur Weltrevolution, sodann musikalische Darbietungen des "Freien Arbeitergesangvereins" und ein "Festspiel in acht Bildern" mit dem Titel "Proletarier erwache!" Diesem martialischen Spektakel ging voraus die flammende Ansprache eines Genossen mit Aufforderungen zum "Niederhauen des Kapitals" und zur Verbrüderung mit der Sowjetunion. Das Feststück, so verkündete er, sei kein Werk bürgerlicher, sondern proletarischer Kunst. Denn jene könne wie die bürgerliche Wissenschaft vom Proletariat nicht anerkannt werden! Bild Eins: Im verdunkelten Saal werfen Scheinwerfer blaues Licht auf einen gelben Pfahl - "Das Kapital" -, an den eine Gestalt - "Der Prolet" - geschmiedet ist. Er wehrt sich in schauerlichen Krümmungen gegen die Versuche des "Demagogen", der "Presse", des "Staates" ihn zu befreien, bis eine Dirne in rotem Kleid - "Die Revolution" - mit ihm den Ehebund vereinbart. Dieser soll der glücklichste der Welt sein und ein Kind hervorbringen, das "Freiheit" heißen wird! Die weiteren sieben Bilder blieben uns erspart, da wir es vorzogen, anschließend eine meisterhafte Aufführung der Goetheschen "Iphigenie auf Tauris" im Schauspielhaus mit der gefeierten Maria Fein in der Titelrolle zu erleben - beglückende Erholung von den grausigen Darbietungen "proletarischer Kunst".

 

Die Begegnung mit der kommunistischen Massenveranstaltung erweckte in mir einen tiefen Abscheu von einer - nicht nur kommunistischen! - Ideologie, die den Anspruch erhebt, der Menschheit einen Glauben an alleingültige Wahrheiten als neue Heilslehre aufzuzwingen. Von bürgerlich-freiheitlich-preußischer Tradition geprägt, wehrte ich mich, wie es in einem Tagebucheintrag heißt, dagegen, daß "eine Herde von Menschen hinter gewissenlosen Führern her rennt", die "die heiligen Güter bekämpfen": Das Recht auf persönliches Eigentum, auf die eigene Scholle, auf die Liebe zum Vaterland, auf religiöse Freiheit! Ich konnte nicht ahnen, daß zehn Jahre später eine "Herde von Menschen hinter gewissenlosen Führern her rennen" würde, die den gleichen Absolutheitsanspruch im Namen der "heiligsten Güter" vertreten sollten. Sehr früh wurde in mir allerdings der Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit wach, ohne daß er schon klar umrissene Formen angenommen hätte. Die Bekanntschaft mit einem vielseitig begabten, aber sozial gescheiterten Apotheker festigte den idealistischen Vorsatz des Sechzehnjährigen, sich "mit Tatkraft und Fleiß in den schönen, großen Dienst der Menschheit zu stellen." Von einer nationalsozialistischen Partei und ihrem Vorsitzenden Adolf Hitler erfuhr ich zum erstenmal im Jahre 1923 oder 24 von einem aus Württemberg stammenden Studienrat unseres Gymnasiums, der vor allem dessen mitreißende Redekunst zu preisen wußte. Das interessierte mich zwar, aber ich hielt mich fern von den "Niederungen der Politik". Um so mehr begeisterte mich alles, was zur Welt der Literatur, des Theaters und der bildenden Kunst gehört.

 

Um mit dem Theater fortzufahren: Nachdem ich mich bei Liebhaberaufführungen in einigen Rollen auf der Bühne des Katholischen und Evangelischen Vereinshauses in Braunsberg präsentiert hatte (als Lüttowscher Offizier, jugendlicher Liebhaber, als Kutscher und litauischer Fischer mit Südwester, Teerhosen, stinkender Seemannsjacke, breites Litauisch-Ostpreußisch sprechend) ereilte mich durch ein "Macht"-Wort unseres ansonsten milden Gymnasialdirektors Dr. Jüttner der Auftrag, in einer Schüleraufführung der "Antigone" des  Sophokles die Rolle der Titelheldin zu übernehmen. Alle Darsteller außer mir waren Oberprimaner, unter ihnen Heinz Riege als Antigones Schwester Ismene, Otto Gramsch als Chorsprecher, Hans Preuschoff, mein späterer Geistes- und Herzensfreund, als Kreon, Antigones Onkel. der dem Regisseur, unserem Zeichenlehrer Heider, zunächst "nicht dämonisch genug" erschienen war. Ich mußte als Unterprimaner "ausgeborgt" werden, da unter den Älteren niemand als so recht geeignet für diese delikate Rolle befunden wurde. Wenn ich an die großartige Darstellung der "Iphigenie" Maria Feins dachte, war mir beklommen zumute. Welche Herausforderung, welches Wagnis für mich! Aber gerade deshalb vertiefte ich mich in die Gestalt der "Antigone", bewunderte ihre heldenhafte Haltung gegenüber dem "Tyrannen" Kreon und dem Sinn ihrer Sendung, mit dem ich mich zu identifizieren wußte: Es war "das Widerspiel zwischen dem Göttlichen und dem Politischen", wie Karl Reinhardt in einem 1956 gehaltenen Vortrag unser heutiges Verhältnis zur "Antigone" des Sophokles zu verstehen suchte. Namentlich das berühmte "Nicht mitzuhassen - mitzulieben bin ich da!" hatte es mir angetan. "Nirgends ruhet des Glückes Bau fester denn auf der Weisheit Grund. Darum vermesse kein Mensch sich je, zu sündigen wider die Gottheit. Des Übermütigen großes Wort büßet am Ende mit tiefem Fall. Da naht, wenn Alter ihn niederbeugt, auch ihm die Stunde der Weisheit." Diese Schlußworte des Chorführers stehen mir heute, da "Alter mich niederbeugt", näher als sie dem Unterprimaner gestanden haben. Die Aufführung der Tragödie wurde das, was man einen "vollen Erfolg" nennt, nicht zuletzt dank des geradezu genialen Einfallsreichtums unseres Amateur-Regisseurs Heider, der mit einfachsten Mitteln erstaunliche szenische Wirkungen erzielte. "Ganz Braunsberg war anwesend….Brausender Beifall des offensichtlich ergriffenen Hauses (des Katholischen Vereinshauses) war unser Lohn...", schrieb Hans Preuschoff.. 1977 im Mitteilungsblatt der Braunsberger Schulen. In einer Rezension der "Ermländischen Zeitung" vom 2. November 1923 hieß es: "...besonders die Frauengestalten Antigone und Ismene sahen sich vor eine recht schwierige Aufgabe gestellt, die sie aber so meisterlich lösten, daß man wirklich glaubte, das Phantasiebild antiker Frauengestalten verwirklicht zu sehen..." und weiter: "Namentlich Antigone verstand es, sich neben der Gestalt des Kreon im Mittelpunkt der Handlung zu behaupten..." Als der Beifall verrauscht war und die Spannung sich löste, fühlte ich mich den Tränen nahe vor Anstrengung und Ergriffenheit über mein eigenes Spiel. Die Ergriffenheit verging aber rasch, als ich mich - etwas mühsam - der weiblichen Unterkleidung entledigen mußte, mit der mein gutes Mamchen mich versehen hatte: Spitzenjupons, Untertaille, seidene Damenstrümpfe (deren einer verloren ging!). Das teils Heikle, teils Komische einer von Männern gespielten Frauenrolle ging mir gar nicht erst auf, da dies ja dem antiken Brauch entsprach. Indes heimsten meine Eltern die Lobsprüche und Gratulationen ein. Alle, Publikum und Darsteller, waren tief bewegt von dem Erlebnis dieser denkwürdigen Aufführung, die auf besondere Art einen Höhepunkt meiner Schülerjahre bedeutete. Viele hatten gedacht, in schwerer Zeit Gipfel der Inflation, drückende Last des Versailler Vertrages,  Arbeitslosigkeit würde die Düsterheit einer antiken Tragödie die allgemeine Stimmung noch mehr dämpfen. Das Gegenteil geschah: Man fühlte sich in eine höhere Welt entrückt durch die Schönheit der Sprache und die Geister der herrlichen Dichtung des Sophokles. Erst viel später - 1947 - wurde mir aus eigenem Erleben im Kriege und in der Nachkriegszeit durch die schöne Schrift Wolfgang Schadewalds "Sophokles und das Leid" deutlich, daß in der Trauer sich eine "tief freudige Weisheit offenbart". Das Leid rückt den Menschen in das richtige Verhältnis zu sich selbst, es rückt ihn auch ins rechte Verhältnis zu seinem Gott. Es entrückt ihn der "Hybris" und hält ihm das "Erkenne dich selbst" des Gottes von Delphi entgegen, läßt seine Nichtigkeit in seiner Mächtigkeit erkennen. Der Mensch tauscht so für die Hybris, die ihn hinriß, die Nüchternheit der "Sophrosyne" ein, welche, als eine Art Zu­sich-kommen, der festeste Grund des Menschseins ist." Was sich in Sophokles zum Erstaunen herrlich darstelle, ist die griechische Harmonie des Freudigen und der Trauer, des Festlichen und des namenlosen Leids. "Harmonie" - ein heute abgegriffenes, seines ursprünglichen Gehaltes entkleidetes Wort – "ist der wundervolle Name für ein…aus widerstrebenden Kräften zusammengebändigtes Gefüge." Schadewaldt schließt seine Schrift mit dem "Sophokles" überschriebenen Epigramm Hölderlins ab, das alles, was er "hier auseinanderzulegen suchte, das Freudigste freudig zu sagen, Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus."

 

Ich hätte es nicht zu träumen gewagt, daß ich viele Jahre später, 1959, eine Aufführung der Antigone des Sophokles im Athener Theater des Herodes Attikus in neugriechischer Sprache erleben würde! Es kam so: Der Neffe eines Chemikers aus Athen suchte mich auf Bitten seines Onkels in Ilten auf, um sich wegen einer schizophrenen Psychose beraten zu lassen, an der dessen Tochter erkrankt war. Ich sagte ihm, daß ich auf einer Urlaubsreise Mitte September nach Athen kommen und gerne bereit sein würde, die Patientin dann selbst zu untersuchen. Ich wußte allerdings nicht, daß sie bereits in ambulanter Behandlung des dortigen Psychiaters Prof. Stringaris stand, der an der Psychiatrischen Universitätsklinik in München bei Geheimrat Bumke gearbeitet hatte und durch seine Monographie über die Haschischpsychosen bekannt geworden war. Bei meinem Besuch im Hause des Athener Chemikers begrüßte Herr Stringaris mich mit höflicher Zurückhaltung – verständlich, da er als führender griechischer Psychiater nicht gerade begeistert darüber sein konnte, daß ein deutscher Fachkollege hinzugezogen wurde. Nach dem im beiderseitigen Einvernehmen vollzogenen Consilium baten die - wohlhabenden - Eltern der Patientin um meine Liquidation. Ich lehnte ab, da ich die Beratung ja in meine Urlaubsreise eingefügt hätte. Darauf wurde ich gefragt, ob man mir auf andere Weise eine Freude machen könnte. Nur zum Spaß antwortete ich: "Mit einer Aufführung der Antigone des  Sophokles!" Die Frau des Hauses: "Ich werde sehen, was sich machen lässt!" Am Nachmittag wurden zwei Karten für Plätze in der ersten Reihe zur Aufführung der Tragödie im Theater des Herodes Attikus in unser Hotel gebracht! Es war die letzte in diesem Jahr!! Antonia wollte zunächst nicht mitkommen, weil sie den griechischen Text nicht verstehen würde. Sie folgte meiner Überredungskunst und war von dem Erlebnis des Abends im spätantiken Theater der Herodes Attikus nicht weniger ergriffen als ich. Ich hatte den Sophokleischen Originaltext auf die Reise mitgenommen und konnte die Handlung von der ersten Strophe an verfolgen, die ich auf der Bühne des Katholischen Vereinshauses in Braunsberg selbst gesprochen hatte (nach der Heider'schen Regieanweisung: Hervorhuschen, stehen bleiben, umschauen, Stufen hinabschreitend, etwas rechts vom Souffleurkasten!): Zur Schwester Ismene gewandt. "Du, meine Schwester, unauflöslich mir verknüpft durch Blutes Bande, sprich, Ismene: Weißt du ein einziges von all den Übeln, die unser Vater Oidipus gesät, ein einz'ges, das uns Zeus, solang' wir leben, nicht reifen ließ?" Würde die Übersetzung ins Neugriechische nicht eine Enttäuschung sein, fragte ich mich. Nein - sie war es nicht. Zwar büßt das Altgriechische mit dem Ersatz der Diphthonge durch Konsonanten an Musikalität ein. Aber die Chöre klangen auch im Neugriechischen wundervoll, und die Aufführung wurde für uns zum unerwarteten Höhepunkt der "klassischen Hellasreise". Einige Tage danach besuchten wir das Amphitheater von Epidauros, von der Athener Kunsthistorikerin Nena Pappakonstantinou geführt. Sie fragte, ob einer aus unserer Reisegruppe vielleicht von der "Orchestra", also von unten aus, etwas deklamieren wolle. Von dieser Stelle her sei dank der einzigartigen Akustik - ein Geheimnis der damaligen Architekten! - das leise Rascheln eines Blattes bis in die höchsten Sitzreihen - man zählt 10 bis 20 000 Sitze! - zu hören. Die deutschen Besucher pflegten dann etwa Verse von Wilhelm Busch zu zitieren oder auch "0 Täler weit, o Höhen, o schöner grüner Wald . ." von Eichendorff. Ich erhob mich zum Erschrecken Antonias, stieg die Stufen hinunter und sprach den Hymnus an die Sonne aus der "Antigone", den ich heute noch auswendig hersagen kann.

 

"...aktis aeliu to kalliston heptapylo phanen qhbai ton proteron phaos ephantes pot o chryseos..."

 

"Strahl der Sonne. schönstes Licht. Das je Theben erschienen! Golden leuchtet dein Himmelsglanz. Dort, wo Dirkes Quellen rauschen…" Dieses Theater, das größte und schönste Griechenlands, ja der ganzen Welt, bildete mit dem Heiligtum des Asklepios von Epidauros eine Einheit von Religion und Gottesdienst, "so wie es überhaupt nichts in Griechenland gab, was sich über die Niederungen des Alltags erhob und nicht Götterdienst gewesen wäre", wie Erhart Kästner in seinem schönen Griechenlandbuch, einem "Buch aus dem Kriege" 1943, schrieb Mein "Auftritt" im Theater von Epidauros war für mich eine "Sternstunde", wenn sie auch nur eine halbe Minute gedauert hatte.

 

Meine frühe Liebe zum Theater erfuhr im Oktober 1923 eine nachhaltige Belebung durch die Gastspiele der Blachetta-Gruppe" in Braunsberg. Walter Blachetta, seine Frau, eine Schülerin der Choreographin Lise Abt,  Fräulein Morgenbesser, die aus der Loheland-­Schule kam, Herr Völker, ein junges, später sehr erfolgreiches Regietalent - er wurde danach Dramaturg und Spielleiter der Kölner Volksbühne -, und zwei weitere Schauspieler, Jeschke und Vogel, spielten an zwei Abenden Andersens Märchen "Die Geschichte einer Mutter" und Bechsteins "Gevatter Tod", schließlich zwei Hans­-Sachs-Schwänke und "Die Zaubergeige" von  Blachetta selbst. Das Ehepaar Blachetta und Herr Völker waren Gäste meiner Eltern, und es wurde höchst lebhaft und anregend über Kunst, Theater, Religion, Philosophie, im besonderen über die Zielsetzung der Gruppe diskutiert: Absage an das herkömmliche Theater, an alle stilistischen Experimente der Bühne, an Expressionismus, Naturalismus, Klassizismus, dafür Hin- oder Rückwendung zum darstellerischen Ausdruck des ursprünglichen "geistigen Lebens", das "in der Volksseele pulsiert!" In dem einen sollte das "Christus-Schicksal des geknechteten Deutschlands", in dem anderen das "frevelhafte Jagen nach dem Mammon" symbolisiert werden. Beide Stücke sind im bürgerlich-konservativen Königsberg ungnädig, im proletarisch-kommunistischen Sachsen begeistert aufgenommen worden. Ich selbst war als 17-Jähriger fasziniert und skeptisch zugleich: Fasziniert von der Idee, die Blachetta mit geradezu priesterlichem Sendungsbewußtsein ("Künstler sein heißt Priester sein!", sprach er weihevoll) verkündete, skeptisch in Hinblick auf die Zukunft dieser avantgardistischen Vorhaben, dessen Missionaren es gewiß nicht an Ideen und Idealismus, wohl aber an dichterischem Stoff zu fehlen schien. Ich weiß nicht, was aus den Blachettas geworden ist.

 

Die Neigung zum Theater ließ mich eine Aufführung des Dramas ,Stein unter Steinen' von Hermann Sudermann mit innerer Bewegung erleben. Es handelt von einem Mann, der wegen "Mordes" hart bestraft worden ist, obwohl er in Notwehr gehandelt hat. Nach seiner Freilassung wird er als vermeintlicher Mörder beargwöhnt und gemieden, bleibt ein "Stein unter Steinen", auf ein Leben unter "gesellschaftlich Ausgegrenzten', wie man heute sagen würde, angewiesen. Als der Darsteller der Hauptrolle, Oskar von Xylander vom Königsberger Stadttheater am Ende des dritten Aktes "einen seiner interessanten Schauspielertrümpfe ausspielte", wie ich in meinem Tagebuch vermerkt habe, brach die gesamte Besetzung der Stehplatzzuschauer auf der "Bullerloge" des Braunsberger Katholischen Vereinshauses in tosendes Gelächter aus - eine Ungeheuerlichkeit, die mich zutiefst empörte. Offenbar fehlte diesen Leuten das Gefühl für menschliche Solidarität mit einem moralisch zu Unrecht Verurteilten.

 

Zum inneren Erlebnis in gleichnishafter Bedeutung für mein eigenes Lebensbild wurde mir Ibsens "Peer Gynt". Mit meinen Freunden Heinz Riege und Otto Gramsch war ich im Oktober 1923 nach Königsberg gefahren - vierter Klasse für 56 Millionen Mark! -, um das Drama in einer vorzüglichen Aufführung des Schauspielhauses zu erleben. Schon die Inszenierung des Regisseurs Brandenburg faszinierte mich. Ich beschreibe sie in meinem Tagebuch in bilderreicher Anschaulichkeit: Norwegischer Bauernhof, die einsame Hütte der Ase, die Halle des Dovrealten, die arabische Küste, Abenddämmerung, dunkelbläuliches Licht, dann rosenfarbene Morgenhelle, weiße Birkenstämme mit zartem Grün, blauer Sonnenhimmel über dem alt gewordenen Peer Gynt, der, heimgekehrt, den Kopf im Schoße seiner greisen Solveig, ausruht von Kämpfen, Unrast und Enttäuschungen - ein Bild, das heute noch vor meinem inneren Auge steht. Ich fühlte mich selbst als Peer Gynt, als jugendlicher, nach Ruhm, Herrschaft, Sinnenlust stürmender Ich-­Mensch, Träumer und Phantast, der am Ende seines Lebens heimfindet zur Überwindung der Welt, zur Selbstbesinnung und Menschenliebe - nur ein Adoleszententraum? Vielleicht ist es nicht überflüssig, die Namen der Künstler festzuhalten, die ihre Rollen meisterhaft spielten Hanns Peppler als Peer Gynt, Grete Christianus als Solveig, Tessa Wolter-Felder als Ase. Die Peer-Gynt-Suite von Edvard Grieg, namentlich "Solveigs Lied" und "Solveigs Wiegenlied" blieben lange Zeit meine Lieblingsstücke, die ich immer wieder den Tasten des Steinway-Flügels zu entlocken suchte, den meine Eltern mir geschenkt hatten.

 

Auch die Oper, namentlich Richard Wagner, erschien mir als Offenbarung aus einer höheren Welt: Mein Vater lud mich zu einer "Lohengrin"-Aufführung im Königsberger Stadttheater ein, und ich schwelgte in der "berauschend schönen" Gestaltung der Grals-­Erzählung durch den damals berühmten Heldentenor Robert Hutt. Die "Elsa" der Lilien von Granfeldt begeisterte mich. "Ihrem kleinen Jungmädchenmündchen hätte ich eine solch gewaltige Stimme gar nicht zugetraut", "im Piano süß, weich und schmelzend" "im Fortissimo Chor und Orchester übertönend, allerdings mit leicht metallischem Klang", wie ich schwärmend und kritisch zugleich meinem Tagebuch anvertraute Der Beifall war so stark und andauernd, daß zuletzt die "Schupo" (Schutzpolizei) einschreiten mußte, um ihn zu beenden. Aber auch Mendelsohns Chorwerk "Elias" beglückte mich derart, daß ich es zweimal anhören mußte, Mozarts "Figaro", den ich in der Königsberger Oper zusammen mit meinem Freunde Otto Gramsch erlebte, bedeutete mir mit meinen 17 Jahren eine "von Leben sprühende, zum Leben geborene" und damit unvergängliche Entrückung des Menschen aus seiner Gebundenheit an das Jahrhundert der Technik! Für die ganze Tiefe und Fülle des Mozart'schen Werkes wurde ich erst viel später reif. Am Abend nach dieser "entzückenden Aufführung" tranken Otto und ich Blutsbrüderschaftl

 

Die Einführung in die Welt der Musik verdanke ich unserer Hedwig Jagdt, meiner Klavierlehrerin, der mein Vater mich mit der Empfehlung präsentierte: "Hier bringe ich Ihnen einen jungen Liszt!" Nun - es reichte zwar nicht ganz zum Liszt, aber wenigstens zum Einüben leichterer Beethoven-Sonaten, Chopin-Walzer. Schubert-Impromptus - eines von ihnen konnte ich sogar zu meiner Einsegnung auswendig vortragen - und zum Vierhändigspielen der "Slawischen Tänze" von Dvorak, der "Ungarischen Tänze von Brahms, der "Beliebten Stücke" von Johann Sebastian Bach und der beliebten Petersburger Schlittenfahrt". In meinem Elternhaus wurde noch Hausmusik gepflegt: Hedchen Jagdt, Werner Kreth, Domvikar und Domorganist in der Bischofsstadt Frauenburg, als Pianisten und die Lehrerin Maria Weiß als Sopranistin haben uns und unsere Gäste oft mit größtenteils konzertreifen Darbietungen erfreut. Werner Kreth pflegte dabei seine Zigarre nicht ausgehen zu lassen, die bei den Fortissimi der "Pathetique" oder der "Waldstein-Sonate" in bedenkliche Schwingungen geriet und ihre Aschenreste auf die Tasten fallen ließ!

 

Liebe zur Natur und Musik waren die Kräfte, die mich erfüllten und sich mit einem nicht konfessionsgebundenen Gottesglauben verbanden. Am 9. April 1922 wurde ich gemeinsam mit meinen Freunden Otto, Heinz und Franz eingesegnet. Mein Konfirmationsspruch lautete "Meine Lehre ist recht mein, sondern des der mich gesandt hat! "Zwei Jahre später versah ich dieses Christuswort in meinem Tagebuch mit der Randbemerkung: "Ich weiß nicht ganz, was dieser Spruch für mich zu bedeuten hätte!" Ich zweifelte an der Unanfechtbarkeit des Anspruchs Christi, im Namen Gottes, seines Vaters, die alleingültige Wahrheit zu verkünden.

 

Erst jetzt - 1990 - lese ich in Schalom Ben-Chorins Buch "Bruder Jesus - Der Nazarener in jüdischer Sicht", daß Jesus nach seiner und Bultmanns Ansicht sich selbst nicht als "Gottes Sohn", als Prophet" im alttestamentarischen Sinne, als "Messias" verstanden habe. Die Bezeichnung "Gottes Sohn" findet sich nur bei Matthäus. Jesus habe keinen "neuen Glauben" verkündet, sondern gelehrt, den Willen Gottes zu tun, der für ihn wie für die Juden im Gesetz und in den übrigen heiligen Schriften stand. Als der "Menschensohn" stehe er nicht als Prophet oder Messias vor uns, sondern als unser Bruder, der nach Lukas 9. 18 - 21 die Frage an seine Jünger, die Frage des Menschen schlechthin, stellt "Wer bin ich?" Als Petrus ihm antwortet: "Du bist der Christus Gottes", bedrohte er sie und gebot, daß sie das niemand sagten.

 

Meinem Versuch, ein "Christus-Epos" in Hexametern zu verfassen, bereitete ich zum Glück ein vorzeitiges Ende. Skepsis hatte sich in mir schon beim Abendmahl geregt, das der Einsegnung folgte Die Einverleibung des Leibes und Blutes Christi durch Oblate und Wein empfand ich als peinlich und unhygienisch. Sie erschien mir - oberflächlich genug - als ein Mittel, dessen sich Menschen bedienen, um ihre Frömmigkeit vor sich und den Anderen zu beweisen. Die symbolisch-mythologische Bedeutung der Eucharistiefeier ist mir erst viel später aufgegangen. Weit mehr bedeuteten die 35 Bücher, die mir zur Konfirmation geschenkt wurden, darunter der Gundolf´sche "Goethe", in den meine Eltern die anspruchsvolle Widmung hineinschrieben "Mache den Begriff des Guten und Schönen zum Leitstern Deines Denkens und Handelns und meistere Dein Leben im Goetheschen Geist" Gundolfs "Goethe" ist für mich heute noch eine nahezu unerschöpfliche Quelle neuer Einsichten in das Riesenwerk dieses ,.echten Göttersohnes" wie Gundolf ihn in seiner Rede zu dessen hundertstem Todestag genannt hat: "Das Werdende, das ewig wirkt und lebt, Umfaß euch mit der Liebe holden Schranken, und was in schwankender Erscheinung schwebt, befestiget mit dauernden Gedanken", dieses Wort, mit dem Gundolf seine für die Pariser Universität niedergeschriebene, aber nicht gehaltene Rede - er starb zuvor - empfand und empfinde ich als gleichsam "religiöses" Vermächtnis unseres - pathetisch gesprochen - größten Genius. Die Goetheverehrung gehörte bei uns zur Familientradition. Meine Urgroßmutter väterlicherseits soll "den halben Faust" auswendig zitiert haben können. Mein Vater hatte seiner Verlobten, meiner Mutter, eine "Faust"-Ausgabe in höchst dekorativer Jugendstil-Gestaltung geschenkt, und am ersten Ostertage wurde alljährlich der "Osterspaziergang" vorgelesen. "Mein Gott ist die Natur!", dachte ich in Anlehnung an Goethe, ohne schon Spinoza gelesen zu haben, in pantheistischer Anbetung der Schönheit und Ordnung des Kosmos. Ich glaube an Gott und die Natur und an den Sieg des Edlen über das Schlechte, aber das war den frommen Seelen nicht genug, ich sollte auch glauben, daß Drei Eins sei und Eins Drei, das aber widerstrebte dem Wahrheitsgehalt meiner Seele, auch sah ich nicht ein, daß mir damit auch nur im mindestens wäre geholfen gewesen. Diese Worte Goethes, die Eckermann unter dem 4. Januar 1824 notiert hatte, entsprachen genau meiner eigenen Einstellung. Sie entsprachen auch dem, was mein Vater unter Goethe´schem Geist" verstand. Dies hinderte ihn nicht, sich dem strengen Zeremoniell einer Freimaurer-­Loge zu unterwerfen, deren Mitglied er, dem Einfluß und Rat seines jüdischen Freundes Walter Lichtenstein folgend, bis zur Würde eines "Meisters" wurde. Aber auch Goethe war Freimaurer gewesen!

 

Zu näherer Auseinandersetzung mit religiösen Fragen wurde ich angeregt durch einen Vortrag über "Dante und Dostojewski", den der Jesuitenpater Friedrich Muckermann 1922 im Braunsberger Katholischen Vereinshause hielt. Er war als Literaturkritiker und Herausgeber der Zeitschrift "Der Gral" bekannt geworden und wurde nach seiner Emigration 1933 einer der Hauptführer des Katholischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. M. hat ein gedanklich feines, erfreulich und sprachlich schönes, theologisch konzipiertes "Goethe"-Buch (nach dem Gundolf´schen mein liebstes) geschrieben, in dem er auch auf Goethe als religiösen Menschen eingeht und vorsichtig andeutet, daß dieser bei "hier und da protestantischen Sympathien" "mehr einer gewissen katholischen Grundhaltung" - nicht dem Katholizismus! - zuneigte. Friedrich Muckermanns Bruder Hermann, ebenfalls Jesuitenpater, war damals ein berühmter Vermittler sozialbiologischer und eugenischer Fragen und hat seine wissenschaftliche Arbeit später, seit 1948, als Professor an der freien Universität Berlin und Leiter des Instituts für natur- und geisteswissenschaftliche Anthropologie fortgesetzt. Friedrich M's Vortrag "formvollendet, feinsinnig, tiefschürfend", wie ich in meinem Tagebuch vermerkte - hat bei mir einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Dante... - so etwa ist er mir in Erinnerung - läßt das Heil und wahrhafte Glück in Beatrice suchen, der reinen, göttlichen Jungfrau, in deren Schoße sich Religion und Kultur vereint und versöhnt wiederfnden. Sie sei das Sinnbild der Katholischen Kirche.

 

Dostojewski stellt im "Großinquisitor" der "Brüder Karamasoff" das Unheil dar, das den wiedergekehrten Christus und damit den Geist der "Großen Liebe" nicht anerkennt. Ich wußte nicht, daß Dostojewski in der Legende vom Großinquisitor das epochale Phänomen des Nihilismus gesehen hat, mit dem ich mich viel später in seinen psychopathologischen Aspekten auseinandersetzen sollte. Es ist jener "kluge Geist", der "furchtbare Geist der Zerstörung und des Todes", der die Menschen des Geheimnisses beraubt, sie belügt und betrügt, damit "diese armseligen Blinden nicht merken, wohin sie geführt werden und sich wenigstens auf dem Weg (ihres Lebens) für glücklich halten". Die beiden Welten, Dante als Repräsentant des römischen Abendlandes, Dostojewski als Vertreter des russischen "Morgenlandes", könnten nach Muckermann nur in einer Verschmelzung der Völker zu einem Ganzen, im katholischen Glauben, zueinander finden! Dann erst werde auch die Gesundung des zerrissenen Deutschlands möglich sein! (Muckermann hat übrigens in einem Abschnitt "Goethe, Dante und Dostojewski" seines 1931 erschienenen Goethe-Buches nicht mehr diesen missionarischen Gedanken vertreten, sondern die drei Großen der Weltliteratur bei aller Verschiedenheit ihrer Welten von der Gemeinsamkeit ihres Bildes vom Menschen her verstehen wollen!). Ich hatte damals schon meine Zweifel nicht nur an der Realisierbarkeit, sondern auch an der Wünschbarkeit jener Muckermann'schen Vision. Meine Bedenken erschienen - und erscheinen auch heute noch - begründet durch das Fehlen einer Bereitschaft beider Kirchen, bestimmte Grundpositionen - gemeinsame Eucharistiefeier, Priesterehe usw. - im Dienst einer konsequenten Ökumene aufzugeben. Im Grunde geht es dabei um einen stillen Machtkampf der Konfessionen, in dem der Protestantismus gegenüber der geistigen und geistlichen Macht des katholischen Glaubensgefüges und seiner Tradition der schwächere von beiden ist. Warum und gegen "was" sollte er noch protestieren? Womit will er seinen Anspruch auf eine eigene Konfession heute noch, mehr als 400 Jahre nach Luther rechtfertigen? Die geistige Unebenbürtigkeit der protestantischen Kirche schien mir damals schon allein bestätigt zu sein durch einen Bericht über den Muckermann´schen Vortrag im "Evangelischen Sonntagsblatt". Man hatte seinen Thesen nicht viel mehr entgegenzusetzen als die Berufung auf das Lutherlied "Ein feste Burg ist unser Gott .. das Reich muß uns doch bleiben!" Auf der anderen Seite vermochte ich dem alleinigen Wahrheits- und damit auch Machtanspruch der katholischen Kirche, des Christentums überhaupt, gegenüber den nichtchristlichen Religionen keine Überzeugungskraft abzugewinnen. Ich neigte immer schon zu einer überkonfessionellen Haltung und träumte von einer "neuen Welt-Religion", in der eine Synthese der Gemeinsamkeiten aller Religionen, auch der nicht-religiösen Lehrer wie der des Konfutse und des Laotse anzustreben, ja zu vollenden sein müssen. Nicht ahnen konnte ich, daß dieser utopische Gedanke viele Jahrzehnte danach in einem meiner Lieblingsbücher konkretere Gestalt annehmen würde: In dem Werk des großen indischen Religionshistorikers und -philosophen und späteren Staatspräsidenten Sarvepalli Radhakrishnan. "Die Gemeinschaft des Geistes - östliche Religionen und westliches Denken". Hier begründet eine der, wie ich denke, bedeutendsten Persönlichkeiten unserer Zeit mit sorgfältig religionsgeschichtlich fundierten Argumenten, daß den verschiedenen Glaubensinhalten eine gemeinsame Wahrheit zugrunde liegt, die auf keine Kirche und keinen Tempel beschränkt werden kann! Keine, auch nicht die christliche Religion könne Anspruch auf die Gnade des Besitzes göttlicher Offenbarung erheben. "Wir dürfen nicht als unbeachtlich das Gefühl für die Erhabenheit Gottes und die daraus folgende Ehrfurcht in der Gottesverehrung übersehen, die für den Islam kennzeichnend sind, das tiefe Mitgefühl für das Leid der Welt und die selbstlose Suche nach einem Weg, ihr zu entgehen, im Buddhismus, das Verlangen nach der Berührung mit der höchsten Wirklichkeit im Hinduismus (dem Radhakrishnan selbst angehört) und den Glauben an eine geistige Ordnung im Universum und die konsequente Forderung nach einer moralischen Lebensführung bei Konfizius. Das Gleiche gelte für die jüdisch-christlichen und allerdings nur bedingt - auch für die griechisch-römischen Glaubensbekenntnisse. Die "Gemeinschaft des Geistes" bedeute aber keinen "Synkretismus", keinen Mischmasch der verschiedenen Religionen, sondern eine "Gemeinschaft der Glaubenden" unter Wahrnehmung der Eigenart ihrer Religionen, also gegenseitige Toleranz und Ablehnung von Absolutheitsansprüchen! Ich hatte auch noch nicht bei Arnold Toynbee gelesen: "Die Zukunft der Menschheit hängt davon ab, ob sich die in den Hochreligionen übermittelte Offenbarung als stark genug erweist, die Egozentrik ihrer kirchlichen Institutionen zu überwinden." Als 17-Jähriger lieh ich mir aus der Bibliothek der Staatlichen Akademie in Braunsberg - Bücher zu kaufen war wegen der Inflation unerschwinglich! - ein Büchlein des Japaners Chuichiro Gomyo, eines Konfutse-Anhängers und eines buddhistischen Studenten des Meji Gakuin' in Tokyo, mit dem verheißungsvollen Titel "Die Wesenseinheit der Menschheit", ein Appell an die männliche und weibliche Jugend der Welt. "Die Welt Ist ein einziges Sein", hieß es darin, zunächst geographisch, dann in Bezug auf das Wachstum der Menschheit, das derselben Regel folgt, die sich uns beim Entfalten einer Blüte offenbart, und schließlich auch in ihrer Beziehung auf die einzelnen Blätter dieser Blüte, die Religionen. Alle Religionen, jeder Glaube hätten bei noch so verschiedenartigen Interpretationen des Lebens ein und dasselbe Ziel: das Ideal der Menschheit zu erreichen, möge es das "Jihi' des Buddhismus, das "Jin" des Konfutse, die Liebe" des Christentums oder die "Ahimsa" des Hindu­-Glaubens sein. Die Folgerung aus der Erkenntnis einer "Wesenseinheit der Menschheit" richte sich auf die große Verantwortung der Jugend. Jeder junge Mensch solle "als begnadeter Künstler" mit dem Meißel in der Hand den "großen Marmorstein der Zukunft" behauen und gestalten! So werde der ewige Frieden der Menschheit gesichert werden! Das war mir dann doch etwas zu verschwommen, und ich begnügte mich mit einem "0 weh!" in meinem Tagebuch.

 

Ein anderes Buch bewegte mich so, daß ich mit ihm geradezu eine "Weihestunde" erlebte, der ich eine innere Läuterung und geistige Klärung zu verdanken glaubte. Es war das Werk Wilhelm Liepmanns, eines jüdischen Professors der Gynäkologie und Geburtshilfe in Leipzig, mit dem Titel: "Nicht Wissen - Weisheit - Kosmisch - biologische Gedanken in schwerer Zeit". Ich war auf dieses Buch durch eine frühere Schrift Liepmanns "Weltschöpfung und Weltanschauung" aufmerksam geworden und mußte es mir aus der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin ausleihen. So verband sich für mich eine frühe, durch meinen Vater nahegelegte Neigung zur Medizin mit der Bewunderung eines Arztes, der wie Liepmann seine praktische Arbeit in einem großen, weltanschaulich, biologisch und kosmologisch geprägten Zusammenhang zu sehen versteht. Ich beschäftigte mich damals auch mit anthropologischen, paläoontologischen, prähistorischen Fragen, suchte mich mit Phylogenese, Ontogenese, Selektions-, Deszendenz-, Pithecoidentheorien vertraut zu machen, wollte einen Aufsatz oder Vortrag über die Kultur des Diluvialmenschen, der La Têhe- und Hallstattperiode ausarbeiten - was ich später auch getan habe - und begann natürlich die "Welträtsel" von Ernst Haeckel (1899 erschienen) zu lesen. Mit ihrer Hilfe gelang es mir, die christliche dualistische "Einseitigkeit", wie sie auch im Konfirmandenunterricht hervortrat, zu relativieren und mich in Haeckels Monismus-Lehre geistig zu "erholen". Aber mein Vater nahm mir den Haeckel, den er noch aus seiner Studentenzeit besaß, wieder weg - warum, weiß ich nicht recht. Vielleicht wollte er mich vor der anderen Einseitigkeit, einer materialistischen, im kirchlichen Sinne atheistischen Weltanschauung bewahren. Aber ich hatte bei Haeckel doch schon soviel "erschnuppert", daß ich meine pantheistische Ansicht "Gott gleich Natur" bestätigt zu sehen glaubte. Freilich konnte ich nicht wissen, daß Haeckels Monismus-Materialismus-Theorie für die ideologische Legitimierung des Marxismus in Anspruch genommen wurde. Bei seinem Tode am 9. August 1919 stand es im sozialdemokratischen "Vorwärts": "Was Voltaire für die Franzosen leistete, das soll auch zum Ruhme Haeckels gesagt sein. Er war der Vorbereiter der deutschen Revolution!" Dies allerdings hätte mir wenig gefallen, und es würde mich auch wenig überzeugt haben. Haeckel hat sich selbst als Vorkämpfer eines weltanschaulichen, nicht aber eines politischen Umsturzes verstanden.

 

Mit Begeisterung, wenn auch nicht ohne kritischen Vorbehalt, las ich als Oberprimaner Bücher von Raoul Heinrich Francé ("Die Wage des Lebens", "Bios", "Welt", "Erde und Menschheit") in denen eine "objektive Philosophie" auf biologischer Grundlage angeboten wurde. Ich hegte allerdings Zweifel an der Möglichkeit, aus den Entwicklungen und Erscheinungsformen in Natur und Kultur ein philosophisches System mit dem Anspruch auf "objektive" Wahrheit abzuleiten. Francé übte Kritik an der "überzivilisatorischen" Verfeinerung mit ihrer Entfremdung von der Natur und forderte die Rückkehr zu naturgemäßem Leben. Er erwies sich damit als Nachfahr Rousseaus und Vorläufer der heutigen "Grünen". Meine jugendliche Faszination von einer Idee der Gesundung der Menschheit durch die Hinwendung zum "Bios" wurde leicht gedämpft, als ich in der Wage des Lebens" Francés Kritik an meinem geliebten Goethe entdeckte: Er warf ihm vor, es habe ihm an dem höchsten menschlichen. dem "sozialen Trieb" gefehlt, und er hätte viel größer dastehen, der Menschheit und seiner Zeit weit mehr geben können, wenn er mehr Verständnis für das stille, tiefe Leiden eines alten, abgearbeiteten Mannes und die Not einer gebückten, zitternden Greisin gezeigt haben würde. Nun - die Geschichte der Philosophie, namentlich der Natur- und Lebensphilosophie - scheint inzwischen an dem gedanken- und umfangreichen Werk dieses in Wien geborenen, in Budapest 1943 gestorbenen Mannes vorübergegangen zu sein.

 

Meine biologischen Interessen waren zuvor, mit 15 Jahren, schon durch die "Sozialbiologischen Vorträge" des Jesuitenpaters Dr. Hermann Muckermann den Bruder Friedrichs, gefördert worden. In meinem Tagebuch notierte ich, daß M. als liebevoller, besorgter Volks- und Vaterlandsfreund", aus "warmem Herzen" über die Familie, "die einzige und wahre Grundlage eines gesunden, lebensfähigen Staates", gesprochen habe. Tief beeindruckt war ich von seinen - übrigens rhetorisch glänzenden - Ausführungen über das Leben vor der Ehe, die Entwicklung der Samen- und Eizelle, die Vererbung, die Volksseuchen, Alkoholismus. Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten, über Gattenliebe, Gattenpflichten und über "das größte Glück der seligen Harmonie des Familienlebens". Daß er den eigenen zölibatären Verzicht auf ein solches durch diese Idealisierungen zu kompensieren suchte, störte mich nicht.

 

Wir jungen Menschen fühlten uns auf den oberen Gymnasialklassen natürlich bewegt, ja aufgewühlt durch Oswald SpengIers 1919 bereits in vierter Auflage erschienenes Werk mit dem herausfordernden Titel "Der Untergang des Abendlandes". Der verlorene Krieg, die Not der Arbeitslosigkeit und Inflation, der Niedergang des Nationalgefühls, die politische Zerrissenheit, die Zeichen kulturellen Verfalls, Geldgier, platter Materialismus, Vergnügungssucht - - alle diese "Zeichen der Zeit' versetzten damals Viele - nicht nur uns - in eine Untergangsstimmung SpengIers Buch kam daher wie gerufen.

 

Wir Gymnasiasten gründeten einen von uns anspruchsvoll "literarisch-philosophisch-wissenschaftlich" genannten Arbeitskreis, in dem SpengIers Thesen diskutiert werden sollten. So verführerisch seine biologische Fundierung der "vergleichenden Kulturmorphologie" auch zu sein schien - Jugendblüte (Frühling), Reife (Sommer), Spätzeit (Herbst) und Untergang (Winter) der Kulturen - in unserem jugendlichen Optimismus und Tatendrang wehrten wir uns gegen die Voraussage, das Ende der abendländischen, "faustischen" Kultur stehe bevor. Wir befänden uns bereits in der "zivilisatorischen Dämmerzone" zwischen Herbst und Winter! Zudem meldeten sich bei aller Bewunderung der gedanklicher Kühnheit des Buches und der Beherrschung des gewaltigen Stoffes erste Zweifel an der Theorie einer Übertragung der Altersstufen des Lebens auf geschichtliche Entwicklungen. Otto Gramsch referierte und kommentierte im Rodelshöfener Gutspark SpengIers Riesenwerk, kam aber nicht über den ersten Band (1615 Seiten!) hinaus. Wegen der Vorbereitungen zum Abitur kam unser "Arbeitskreis" vorzeitig zum Erliegen, und mein Entwurf eines Vortrages über die Kulturentstehung seit der vorgeschichtlichen Zeit blieb - wie vieles andere in meinem Leben - unabgeschlossen. Inzwischen war mir eine von dem Kieler Religions- und Kulturphilosophen Heinrich Scholz verfaßte Gegenschrift in die Hände gefallen, in der das SpengIer´sche Buch als ein "Ereignis und Verhängnis zugleich" bezeichnet wurde. Es "bereichere den Geist und zerstöre das Gemüt!" Für mich traf nur der erste Teil dieses Urteils zu. Aber dem "heroischen Pessimismus" SpengIers vermochte ich nicht zu folgen. Das ändert natürlich nichts an der Richtigkeit bestimmter Aus- und Voraussagen im "Untergang des Abendlandes". An der Diagnose und Prognose des Nord-Süd-Konfliktes, des Herrschaftsanspruches der farbigen Völker, der zwei Weltrevolutionen Klassenkampf und Rassenkampf, der Diktatur des Geldes, der Ausbreitung des akademischen Proletariats, der "Emma"-Emanzipation, des von Nietzsche angekündigten Nihilismus als der Grundbewegung unserer Epoche mit seinen vielfältigen Signaturen (Suchten, Sex, Sensation) und mancherlei Varianten zivilisatorischer Dekadenz.

 

Wenn damals schon Arnold Toynbees Monumentalwerk "A Study of History" (1934-54) erschienen wäre, hätte ich mich allerdings diesem großen Geschichts-Wissenschaftler (der SpengIer nicht war!) uneingeschränkt zugewandt: Er führte den fruchtbaren Doppelbegriff "Challenge and Response", "Herausforderung und Antwort" ein und meinte damit die Herausforderung, die aus geistiger und materieller Not erwächst und als Antwort neue kulturschöpferische Leistungen entstehen läßt Toynbee hat auch die mitprägende Bedeutung der Großen Religionen für die Weltgeschichte erkannt und betont. Heute denke ich, daß sowohl den weltgeschichtlichen Deutungen SpengIers wie auch denen Toynbees ein Wahrheitsgehalt innewohnt. Jener sieht die späten Kulturen, die Zivilisationen" als Fragmente, zerfallende Bruchstücke als Abgeschlossenes, dieser versteht sie als Torsi, Keime, Vorgestalten kommender Entwicklungen. Ich neige mehr zu Toynbees  Grundgedanken: Geschichte im objektiven Sinne ist Wandlungsprozeß. Im subjektiven Sinne erforscht sie, wie und warum sich eine Situation in eine andere wandelt. Geschichte ist das "lebendige Kleid", das der Zeitgeist für die Menschheit "am sausenden Webstuhl der Zeit" ständig webt, wie Goethe im Ersten Teil des "Faust" sagt. Dies bedeutet, daß die schöpferische Kraft auch in einer zerfallenden Kultur nicht erloschen ist, sondern in Minoritäten (Philosophien, Universalstaaten, Universalkirchen) fortbesteht. Im Gegensatz zu SpengIers hartem Wahrheitsdogmatismus und seiner nationalistisch-konservativen Orientierung ("Jahre der Entscheidung", 1933! mit dem Motto Im Zwänge der Welt Weben die Nornen. Sie können nichts wenden noch wandeln" aus Richard Wagners "Siegfried"!) steht mir Toynbees geistige, menschliche, religiöse Haltung mit seinem Bekenntnis zu Demut und Ehrfurcht vor dem Geheimnis des menschlichen Lebens innerlich nahe. Die Herausforderung der Gegenwart sah er im atomaren Militarismus, die Antwort hierauf in der Gründung eines Weltstaates auf der Grundlage einer synkretistischen christlich-buddhistisch-islamischen Religion, einer utopischen Vision, die ihm bei seinen nüchternen englischen Landsleuten den Ruf eines "Pontifikalen" und "Propheten" eingebracht hat. China war für ihn die kommende Weltmacht. Die Pionierleistung seines Antipoden SpengIer hat er bewundert. Dessen Prophetentum erlitt allerdings eine beträchtliche Einbuße alleine dadurch, daß er Hitler als eine "Kreatur seiner Partei", die "mehr geschoben werde als daß sie selbst führe", völlig verkannt und dafür in MussoIini den "eiskalten und skeptischen Staatsmann", den "wirklich absoluten Herrscher" zu sehen glaubte. Dem sensationellen Erfolg des politisch-philosophischen Autors SpengIer folgte denn auch sein Scheitern als Politiker, der sich zugetraut und angemaßt hatte, dem Verhängnis des abendländischen Unterganges durch entschlossenes politisch-praktisches Handeln entgegenwirken zu können. GoebbeIs hatte ihn noch gebeten, anläßlich des "Tages von Potsdam", am 21. März 1933, als der Verfasser der Schrift "Preußentum und Sozialismus" eine Rundfunkansprache zu halten, um damit die Versöhnung von Preußentum und Nationalsozialismus, symbolisch ausgedrückt im Händedruck zwischen Hindenburg und HitIer, geschichtlich zu würdigen. Nach der Ermordung des Generals von Schleicher, des SA-Chefs Röhm und anderer "Verschwörer" am 30. Juni 1934 wandte SpengIer sich endgültig vom Nationalsozialismus ab und zog sich in die Position eines "resigniert Ohnmächtigen" zurück, wie es in einer SpengIer-Biographie von Detlef Felken (1988) bekundet wird (von Herfried MünkIer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Januar 1989 besprochen). Die Enttäuschung und Verbitterung des Untergangs-Propheten über dieses Mißlingen seiner "Sendung" hat sich in allmählich immer stärker hervortretenden physiognomischen Zügen erkennen lassen. Harry Graf Kessler, der Verfasser der großen "Rathenau"-Biographie, beschrieb sein Gesicht ziemlich lieblos als das "eines dicken Pfaffen mit einem fetten Kinn und brutalem Mund".

 

Der speziellen Vertiefung in kulturhistorische Fragen diente der ausgezeichnete Unterricht im Griechischen (Professor Reiter) und Lateinischen (Professor Radtke, von den Schülern wegen seines infolge einer schweren Wirbelsäulenverkrümmung unbeholfen langsamen Ganges höchst taktlos "Expreß" genannt), im besonderen auch die ungemein lebendige Bildungquelle, die wir unserem Deutsch-, Geschichts- und Klassenlehrer Dr. Arthur Motzki zu verdanken haben. Wenn ich mich heute der damaligen Aufsatzthemen erinnere, wundere ich mich, wie er es fertigbrachte, uns, namentlich auch mich, zu durchaus respektablen literarischen Leistungen zu befähigen. Die Themen lauteten etwa "Ein Besuch in einem altgermanischen Dorf" (als Novelle darzustellen, von mir nach eingehenden Vorstudien in einer Nacht hingeschrieben!), "Mögen Andere andres erstreben - ich will der Dichtkunst leben", "Klopstocks nationale Gesinnung", "Waren die alten Griechen glücklich?" (ein besonders heikles Thema mit schwierigen Versuchen, den Begriff "Glück" zu definieren!), "Iphigenie auf  Tauris des Euripides" (als Vortrag!) Motzkis Unterricht sprühte geradezu vom Geiste des "Eros paidagogos" und von seinem persönlichen Temperament, und ich werde ihm immer dankbar bleiben für das, was er mir an Bildungselementen für mein ganzes Leben mitgegeben hat. Heute noch besitze ich ein Büchlein, das er mir zum Abitur am 26. Februar 1925 mit persönlicher Widmung geschenkt hat: "Der Deutsche Genius" (mit einem Geleitwort von Rudolf Eucken). Es enthält Beiträge meist professoraler Autoren als Erwiderungen auf eine antideutsche Schmähschrift, in der Frankreich als "das Licht in der Nacht" gepriesen wird - Dokument alter, seit 1870 (Sedan) aufgeflammter, nach Versailles von Poincaré und CIemenceau geschürter, inzwischen überwundener Feindschaft! Rathenau hat sie bei den Verhandlungen in Genf 1922 zu spüren bekommen und durch seine geschickte, auf gesamteuropäische Interessen gerichtete und vom Geist der Versöhnung bestimmte Außenpolitik zu mildern versucht!

 

Motzki war es auch, der mir riet, Grabbe zu lesen, um mir zu einem weniger umständlichen, dafür knapperen und kräftigeren Stil zu verhelfen. Sein Rat bewirkte, daß aus einem anfänglichen "Gut" und "Recht gut" ein glattes und ziemlich beständiges "Sehr gut" der Zensuren meiner Aufsätze wurde. "Not entwickelt Kraft!", zitierte ich Grabbe nach diesem Erfolg in meinem Tagebuch. In Christian Dietrich Grabbe lernte ich einen der, vielleicht den - seit Kleist - begabtesten deutschen Dramatiker kennen, zugleich aber einen innerlich zerrissenen, von dämonischen Triebkräften heimgesuchten Menschen, Detmolds "betrunkenen Shakespeare", wie Heinrich Heine ihn nannte, dessen zügellos wildes, durch den Alkohol zerrüttetes Leben mich mit seltsamer Faszination ergriffen hatte. Ich empfand bewundernde Achtung" und "leidvolle Sympathie" für diesen genialischen Dichter fühlte mich abgestoßen von dem schaurig-wilden Erstlingsdrama des Gymnasiasten und Studenten Grabbe "Herzog Theodor von Gothland" und zugleich angezogen von dem "Tumult des Innenlebens", dem "tollkühnen Ehrgeiz", den Gewissensqualen des Titelhelden wie von der kraftvollen Sprache des Dichters - emotionale Resonanz meiner pubertären Knabenseele, die sich der des jungen Dramatikers verwandt fühlen mochte. Ich notierte damals Ludwig Tiecks zwiespältige Antwort auf Grabbes Bitte um ein Urteil über seine Tragödie: "Ihr Werk hat mich angezogen, sehr interessiert, abgestoßen, erschreckt und meine große Teilnahme für den Autor gewonnen, von dem ich überzeugt bin, daß er etwas viel Besseres liefern kann…" "…Ich bin einigemale auf Stellen geraten, die ich groß nennen möchte, Verse, in denen wahre Dichterkraft hervorleuchtet…" Aber: "Eben dadurch, daß Ihr Werk so gräßlich ist, zerstört es allen Glauben an sich und hebt sich dadurch also auf…" "…Das Gräßliche ist nicht tragisch: wilder roher Zynismus ist keine Ironie: Krämpfe sind keine Kraft, sondern entstehen oft (bei Ihnen glaube ich nicht) aus der Schwäche..." Als "schönen Denkstein eines Schaffens" vertraute ich meinem Tagebuch die Verse an, die Ferdinand Freiligrath dem toten Dichter nachrief: "Du loderndes Gehirn, so sind nun Asche deine Brände, Wachfeuer du, an deren sprühender Glut der Hohenstaufen Heeresvolk geruht, des Korsen Volk und der Karthager - die Mitwelt geht Einsam mit flammender Stirne der Poet. Das Mal der Dichtung ist ein Kains-Stempel. Es flieht und richtet nüchtern ihn die Welt. Und ich entschlief zuletzt - In einem Zelt träumt´ ich von einem eingestürzten Tempel."

 

Das Problem "Alkohol" das den "Tempel" Grabbe schließlich "einstürzen" ließ, sollte mich dann nicht mehr Ioslassen: Ich hatte mich an den Saufereien in den "Buden", den Pensionszimmern der älteren Braunsberger Gymnasiasten, vergraut und empfand eine Betrunkenheitsszene im Katholischen Vereinshaus, die ich zufällig miterlebte, als höchst abstoßend: Ein ehemaliger Mitschüler, Spekulant und Lotteriegewinner, eröffnete dort eine "Sektbude", in der die geleerten Flaschen unter wildem Gebrüll zerschellt wurden. Mich empörte dabei, daß damals - 1923 - unzählige Menschen als Opfer von Arbeitslosigkeit und Inflation in bitterer Not leben mußten und kaum genügend Geld für das tägliche Brot besaßen. Der grelle Kontrast zwischen sozialem Notstand und zügellosem Prassertum ließ mich nicht ruhen, und ich beschloß, wenigstens im engen Bereich der Schülerschaft zur Abwehr der Alkoholgefahren als einer beunruhigenden Teilerscheinung der Krisis dieser Zeit beizutragen. Ich tat dies in der Form eines Vortragsmanuskriptes über die Alkoholfrage, das ich nach entsprechendem Literaturstudium, namentlich der Veröffentlichungen der psychiatrischen Alkoholgegner KräpeIin und ForeI, an einem Tag und in einer Nacht ausgearbeitet hatte und meinem Vater am 6. September 1923 auf den Geburtstagstisch legen konnte. Nachdem ich den Text im engeren Familien- und Freundeskreise vorgelesen und dessen Zustimmung erhalten hatte, trug ich ihn 18 Tage später in einer Schülerversammlung unseres Gymnasiums und vor der versammelten Lehrerschaft vor. Es war keine Ironie, sondern ehrlich gemeint, daß der stellvertretende Vorsitzende der Schülerschaft, selbst ein kräftiger Potator, sich mit meinen Ansichten "völlig einverstanden" erklärte, und ein Studienrat als Schüler-Berater, der ebenfalls einem ausgiebigen Trunke zugeneigt war, mir zum Dank für den "glänzenden Vortrag" die Hand schüttelte und "begeistert" versicherte, ich hätte ganz in seinem Sinne gesprochen. Um meinen Worten praktisches Handeln folgen zu lassen, gründete ich ein "Goldenes Buch der Schnapsgegner', in das sich jeder Schüler eintragen konnte, der sich ehrenwörtlich verpflichtete, den Genuß harter Alkoholika zu vermeiden. Ich wollte keine Abstinenz, sondern Temperenz. Asketischer Fanatismus lag mir fern. Aber ich verabscheute den enthemmenden, das geistige und moralische Niveau senkenden Schnapskonsum. Alkoholische Exzesse unter den Schülern wurden dann auch seltener, allerdings weniger als Erfolg meines Appells als vielmehr durch Geld-Inflation. "Der Valuta-Drache versperrt nicht nur den Zugang zu alkoholischen, sondern auch zu harmloseren Genüssen", notierte ich in meinem Tagebuch. Einige Beispiele Im Juli 1923 - ich befand mich mit meinen Eltern im Urlaub in Oberbayern - berechnete der Pächter eines Unterkunftshauses des Deutsch-Österreichischen Alpenvereins am Herzogstand für ein Bett 32.000,-- Mark, der Ochsenbraten in einem Wirtshaus kostete 60.000,-, ein halber Liter Löwenbräu-Bier 12.000.-- Mark. Am 8. September 1923 forderte der Schneider für einen neuen Anzug, den ich dringend brauchte, bereits 155 Millionen Mark, ein Damenmantel für meine Mutter wurde mit einer Milliarde Mark berechnet, eine Bahnfahrt von Braunsberg nach Königsberg (etwa 60 km) in der vierten (!) Klasse kostete am 3. September 56 Millionen Mark, und am 12. November sollten meine Eltern für einen Platz im Königsberger Schauspielhaus 210 Milliarden Mark bezahlen, was ihnen denn doch zuviel erschien. "Man schaudert vor diesen arithmetischen Schreckgespenstern", schrieb ich ins Tagebuch. Ende 1923 wurde ihnen der Garaus gemacht durch die Einführung der Rentenmark gleich einer Billion (!) Papiergeld!

 

Der Höhepunkt der Inflation ging einher mit der Empörung über die Erniedrigung Deutschlands durch die Siegermächte des Weltkrieges. Ich erinnere mich, daß wir in dem bekannten Königsberger Weinrestaurant Kükken eine spontane Aufwallung "völkisch-nationaler Gefühle" erlebten, die am Nebentisch im donnernden Absingen des "Deutschland"-Liedes und des "Ehrhardtliedes" einer "Stahlhelm"-Runde kulminierten. Daß wir - meine Eltern und ich - uns nicht an diesem Gesang beteiligten, trug uns mißbilligende Blicke und Äußerungen der Tischnachbarn ein.

 

"Wer es nicht noch erlebt hat, macht sich heute kaum noch eine Vorstellung von der furchtbaren, nachhaltigen Schockwirkung, die der Friede von Versailles damals in Deutschland ausgelöst hatte. Versailles war für Deutschland, was Brest-Litowsk für Rußland gewesen war: zugleich eine schwere Verwundung und eine tödliche Beleidigung. Deutschland fühlte sich (zugleich) verkrüppelt und geohrfeigt. Es zitterte vor Schmach und ohnmächtiger Wut. Die wenigen Politiker…, die ihren Zorn hinunterschluckten und `Erfüllungspolitik´ trieben, spielten buchstäblich mit ihrem Leben." (Sebastian Haffner in: "Der Teufelspakt - Die deutsch-russischen Beziehungen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg", Manesse Verlag Zürich, 1988).

 

Reisen ‑ Berge, Städte und die See

 

Wenn heute Kinder und Jugendliche nach Teneriffa reisen, so ist das nichts Besonderes. Für mich als 15‑Jähriger bedeutete eine Reise in den Schwarzwald ein ungewöhnliches, bis heute nachhaltig gebliebenes Erlebnis. Meine Mutter mußte sich wegen einer nicht sehr schweren, aber doch therapiebedürftigen Lungentuberkulose einer Klimakur in Bad Herrenalb unterziehen. Ich durfte sie, allerdings unter der Bedingung, daß ich „fleißig und artig" bin und „eifrig Klavier übe", in den Sommerferien dort besuchen. Nachdem diese Bedingungen einigermaßen erfüllt waren, fuhr ich zusammen mit „Onkel Golling", einem Freund meiner Eltern, pensioniertem Oberstabsarzt und Junggesellen ‑ er nannte mich liebevoll "Mofchen mit den weichen Ohrchen" ‑ zunächst bis Berlin. Unterwegs hatten wir, wie ich notierte, „sehr nette Reisegesellschaft" : Einen 2jährigen Jungen, der unentwegt schrie und hin und wieder Pipi machte, eine junge Katze und ein idiotisches Mädchen, das unaufhörlich weinte. Nach der Übernachtung bei dem Bruder Onkel Gollings, einem General der Infanterie a. D. ‑ was mir sehr imponierte ‑, reiste ich allein weiter bis Stuttgart, wo ein Onkel meiner Mutter, Max 0sterode, ein großes, von ihm gegründetes und zu Ansehen gebrachtes Musikalien‑ und Musikinstrumentengeschäft in der Hauptstättenstraße 55 besaß. Dort wurde ich von ihm und seiner Frau, Tante Dorle, einer ebenso herzenswarmen wie wohl beleibten und geschäftstüchtigen Schwäbin, freundlichst aufgenommen. In Onkel Max' Geschäft bewunderte ich die Ansammlung von Klavieren, Flügeln, Hausorgeln, Harmonien, Blas- ­und Streichinstrumenten, Grammophonen, Mund‑, Hand‑ und Ziehharmoniken (Bandonien), die umfangreiche Musikliteratur, die zahlreichen Notenhefte und ‑alben. Die Grammophone ‑ ihr Erfinder Edison hatte sie „Phonographen" genannt ‑ , hatten in den zwanziger Jahren schon nicht mehr die riesigen Schalltrichter, sondern waren zu trichterlosen hölzernen Kästen vereinfacht worden, die bereits ein von Onkel Max' technisch begabtem Schwager Walter Urban entwickeltes, patentiertes Albstellgerät, den „VVumo" ( = Walter Urban, Max Osterode) ‑ Motor enthielt. Onkel Max schenkte mir später zwei einfach zu bedienende Musikinstrumente, eine "Lotosflöte" und eine „Singende Säge", mit denen ich als Student Schlagermelodien zu begleiten pflegte. Die Großstadt Stuttgart mit dem schönen Schloß, dem Aussichtsberg „Bopser" und der „Merinken‑Tante", berühmt durch ihre schwäbisch so bezeichneten „Baisers", bildete den Auftakt zu einer Fußwanderung durch den Schwarzwald von Herrenalb bis Albbruck am Rhein. Die von einer Begeisterung zur anderen schreitende Schilderung seiner Schönheiten, der Berge, Täler, Tannenwälder Seen, Wasserfälle füllt einen 19 Seiten langen Teil meines Tagebuches. Sie schließt mit der auf einer Dampferfahrt von Konstanz nach Lindau angesichts des ersten Blickes auf die Schweizer Alpen niedergeschriebenen Worten: „Es ist alles ganz wundervoll!" Über die Bodenseetage habe ich danach in einem Hausaufsatz „Ein Tag aus meinen Sommerferien" in der Form eines Briefes an meinen Freund Otto Gramsch berichtet. Der Schwarzwald ist seitdem nicht nur meinem Herzen, sondern auch meinem Geiste nahegeblieben: 1952 „pilgerte" ich zu Martin Heideggers Hütte bei Todtnauberg und trank, da er nicht anwesend war, „faute de mieux", ein paar beziehungsreiche Schlucke vom eiskalten Wasser, das dem hölzernen Brunnen vor dem Häuschen entströmte. Etwas später konnte ich in seinem Arbeitszimmer am Rötebuckweg in Freiburg mit ihm allein ein Gespräch führen, das mir dazu verhalf, mich von der „Magie" seines Denkens zu losen und in das, was Denken heißt, zu gelangen, „wenn wir selber denken". So lautet der erste Satz seiner kleinen Schrift .,Was heißt Denken“, die er mir mit der Widmung „Zur Erinnerung an das erste Freiburger Gespräch", 7. Oktober 1952, mitgab. Leider ist es dann nur zu gelegentlichem kurzem Briefwechsel, nicht mehr zu weiteren Gesprächen gekommen.

 

Vielleicht ist es nicht ganz überflüssig, meinen Erinnerungen an die Schwarzwaldreise eine kleine Notiz zu der Situation Europas im Jahre 1921 hinzuzufügen: Auf unserer Fahrt von Albbruck nach Konstanz mußten wir im Schweizer Städtchen Erzingen aussteigen, unsere Pässe vorzeigen und 20 Centimes, in deutscher Valuta 2,50 Mark, für die Ausstellung eines „Transitscheines" entrichten! In Schaffhausen durfte man zur Besichtigung des Rheinfalles den Zug nicht verlassen! Unser Gepäck hatten wir auf Schweizer Gebiet abliefern müssen, um es erst wieder auf deutschem Boden in Empfang nehmen zu können!

 

Freundlichere Erinnerungen verbinden sich für mich mit Wanderungen, die ich von Herrenalb aus in Gesellschaft eines jungen Mädchens, Liesel Gerster unternahm. Liesel verbrachte dort mit ihren Eltern die Ferien. Sie war lieb, aber nicht hübsch, und ich hielt die Spaziergänge mit ihr für nicht bedeutsam genug, um mit einem Vermerk in meinem Tagebuch bedacht zu werden. Interessanter war die ‑ ebenfalls, allein wegen zu großen Altersunterschiedes, platonisch distanzierte ‑ Begegnung mit einer Französin, Mademoiselle ChoIIet, die den Tisch meiner Mutter im Herrenalber „Haus Mayenberg“ teilte und mich später in ihren originell‑drolligen Aussprüchen an die „kirgisenäugige Clawdia", Madame Chauchat, in Thomas Manns „Zauberberg" erinnerte. Es war mir nicht lieb, daß meine Versuche, mit ihr alleine ins Gespräch zu kommen, durch die Rufe eines ungebärdigen kleinen Jungen "Scholli, Scholli, komm doch her“ vereitelt wurden. Während von "Scholli", der soviel Älteren, kaum eine Resonanz auf meine still bewundernde Zuwendung zu erwarten war, konnte sich mein jungmännlich erwachendes Selbstwertgefühl an den Worten zweier Berlinerinnen erfreuen: Nach einem weinseligen Abend mit meinen beiden Wandergefährten, einem Vetter meiner Mutter und seinem Freunde, hörte ich, wie die jungen Damen auf mich hinweisend leise sagten: „Der Kleenste, aber der ScheensteI"

 

Auch die begeisternden, bis in alle Einzelheiten geschilderten Eindrücke einer Reise mit meinen Eltern nach München und Oberbayern im Juli 1923 nehmen einen ansehnlichen Platz in meinem Tagebuche ein. München ist seitdem mit Berlin und Hamburg meine liebste deutsche Großstadt geblieben. Neben dem ‑ später in Flammen aufgegangenen ‑ Glaspalast hatten es mir besonders die Münchener Kirchen angetan. Im Glaspalast entdeckten wir Radierungen unseres ostpreußischen Landsmannes Daniel Staschus und eine Bronzeskulptur des Münchener Bildhauers Parzinger, von dem eine ‑ im Zweiten Weltkriege verlorengegangene ‑ Gipsbüste meines Kopfes stammte. Die Michaelishofkirche, der niedrige Bürgerbetsaal, die Theatiner‑, die Bonifatius‑, die Frauenkirche ‑ sie alle haben wir, zum Teil schon am frühen Morgen, besucht und andächtig bewundert, um zugleich die künstlerische Ärmlichkeit und schmucklose Nüchternheit der evangelischen Kirchen zu beklagen. Zur Enttäuschung wurde nur die Bonifatiuskirche in der Karlstraße, einer römischen Basilika „mit acht, die Vorhalle tragenden Säulen und einem Dach, von vergoldetem Balkenwerk überwölbt", die mich anachronistisch in die Zeit der frühen Christenheit zurücktraumen ließ, bis ich aus dem Baedeker erfuhr, daß sie ‑ Imitatio horribilis! ‑ 1835 bis 50 von Ziebland erbaut sei. Auch in die pseudo­romanische Synagoge hatten wir einen nachdenklichen Blick geworfen. Leider mußten wir eines Abends im Mathäserbräu lärmende Trunkenheitsszenen, bei denen meine immer noch schöne Mutter angepöbelt wurde, über uns ergehen lassen und die Flucht ergreifen. Seitdem gehe ich um den Mathäserbräukeller in großem Bogen herum. Eines Sonntags ganz früh ging es zum Kochel‑ und zum Walchensee, von Urfeld aus zu Fuß auf den Herzogstand. Vom Unterkunftshaus der Münchener Sektion des Deutsch‑Österreichischen Alpenvereins unterhalb des Gipfels aus ‑ verbilligter Preis für dessen Mitglieder „nur“ 9.500,‑‑ statt 32.000,‑ Mark „pro Bett und Nacht“ ‑ erlebte ich bei Sonnenaufgang zum ersten Mal den Anblick der schneebedeckten Gipfel der Alpen. Ein Eindruck der nach der ersten Überraschung in andächtiges Staunen und Schweigen überging und mich dem „grauen Alltag in dem dumpfen Tiefland" entrückte. Es folgten Wanderungen im Wetterstein‑ und Karwendelgebirge, durch das Isartal, die Partnachklamm, zum Badersee, durch Untergrainau, Garmisch‑Partenkirchen, Mittenwald und Krün, vielfältige, meist schöne Eindrücke. Weniger schön war die Unterkunft auf dem Heuboden eines Bauernhäuschens in geräuschvoller Nähe des Kuh‑, Schweine‑ und Hühnerstalls, wobei mein Vater sich eine gefährliche Heufeber-­Allergie zuzog; nicht gerade angenehm war auch die Übernachtung auf “Tourist‑Matratzen" in der offenen Veranda des später als "Kultururlaubsstätte" so beliebt gewordenen „Schlosses Elmau", und bedenklich hätte auch ein Absturz meiner Mutter von einer ziemlich steilen Felsplatte werden können. Es herrschte Not durch Inflation: Die Bäckerläden waren ausverkauft, wir wurden von Dörfern nach Mittenwald oder Krün beschieden, wo die Einwohner aber schon in langen Schlangen vor den Lebensmittelläden anstehen mußten, der „Nepp" hatte sich auch kleiner Bergdörfer bemächtigt (einmal Ochsenbraten im Wirtshaus 60.000,‑ Mark ein halber Liter Löwenbräu 12 000,‑ Mark, ein Pfund Butter 60.000,‑ Mark, Erdbeeren 20 000,‑ Mark, während in München ein Hackbraten im Hofbräuhaus „nur" 12.000,‑ Mark, ein ganzer Liter Hofbräubier „nur“ 8.400,‑ Mark kostete). Zur „Rekonvaleszenz“ von der Heufebererkrankung meines Vaters genossen wir im Kloster Ettal den Vespergesang der Mönche und die Orgelmusik in der herrlichen barocken Klosterkirche, um anschließend festzustellen, daß eine Flasche Ettaler Abteilikör für eine halbe Million Mark feilgeboten wurde!

 

Der im wörtlichen Sinne „Höhe" ‑ Punkt unserer Bayernreise war mein Aufstieg zur 2.377 Meter hoch gelegenen Meilerhutte am Fuße der Dreitorspitze, ein alpinistisches Unternehmen, das von meinen Eltern erst nach längeren Diskussionen genehmigt wurde, wobei ich mich bemühen mußte, die „Gefährlichkeit" des Vorhabens herunterzuspielen. Auf dem Wege zum eigentlichen Aufstieg machte ich die Bekanntschaft mit einem älterem Mann aus Wehheim, der vom geliebten Bayernkönig Ludwig II. schwärmte, dem „Ideal eines Monarchen", nach dem sich „alle Bayern zurücksehnen“! Er berichtete vom Tode des Königs, der seinen Arzt, den Psychiater Dr. von Gudden ‑ für mich wieder ein etwas unheimlicher Hauch von Psychiatrie! ‑ mit sich selbst in die Fluten des Starnberger Sees hinabriß, und erzählte von dem großartigen Begräbnis und von der tiefen Trauer des ganzen Landes um den geliebten und verehrten Herrscher. Er wußte auch, daß der Hüttenwärter auf der Zugspitze, als ihm der Ausbruch des Ersten Weltkrieges am 1. August 1914 telefonisch mitgeteilt wurde, nur kurz geantwortet habe: „I kimm glei!", „von der Spitz' hinuntergehatscht" sei und sich dem Vaterland zur Verfügung gestellt habe ‑ ein bayerischer Patriot!

 

Das Gelingen des Aufstiegs ‑ leichte und kurze Kletterei, Drahtseil an der Felswand, Überqueren eines Schneefeldes ‑ und der Höhenblick von der Hütte beflügelten mich zu andächtig‑stiller Begeisterung, im Tagebuch festgehalten mit den Worten: „Der Wolkenschleier zerreißt von unsichtbarer Hand und das schneeweiße Haupt der Zugspitze erhebt sich wie ein riesiger Zuckerhut, weiße Wölkchen wie Wattebäuschen umschieben ihn sanft, blau wölbt sich der Himmel über den Felsen und Tälern ‑ alles Erhabenheit, Majestät, Unendlichkeit! Ich bete, danke, breite die Hände aus und bin ganz still. Diese Natur ist mir heilig, ist mein Gott!"

 

Auf der Heimreise konnten wir in den Schönheiten der Kirchen Regensburgs - ich zählte dort sechzehn! ‑ schwelgen („Eine so fromme Stadt habe ich noch nie gesehen!") und unseren Freund Werner Kreth besuchen, den zum katholischen Glauben konvertierten späteren Geistlichen, Domvikar und Domorganisten in der Bischofsstadt Frauenburg, der bei Professor Renner, einem Schüler Max Regers; an der Regensburger Kirchenmusikschule studierte.

 

Der berühmte Dom mit seinem in Silber getriebenen Hochaltar, den zierlichen gotischen Sakramenthäuschen, den Renaissancemonumenten der Grabdenkmäler und den schönen Glasfenstern wurde gebührend bewundert, während die Walhalla, dieser pseudodorische Riesen‑„Tempel" über der Donau, uns zu patriotischen Gefühlen hinriß: „Möge Walhalla", hatte, ihr Stifter, König Ludwig I von Bayern, zur Grundsteinlegung gesagt, förderlich sein der Erstarkung und Vermehrung deutschen Sinnes. Möchten alle Deutschen, welchen Stammes sie auch seien, immer fühlen, daß sie ein gemeinsames Vaterland haben, ein Vaterland, auf das sie stolz sein können, und jeder trage bei, soviel er vermag, zu dessen Verherrlichung!" Gesamtdeutscher Patriotismus!

 

Im Jahr zuvor hatte ich eine überraschende Beziehung zwischen Regensburg und Marienburg „entdeckt", das wir bei einem Klassenausflug mit unserem kunstsinnigen Deutschlehrer Dr. Motzki kennenlernten: Es gibt einen „Regensburger Altar“ der 14 Nothelfer, der als Dank‑ und Versöhnungsgabe für die Befreiung von einer im 16. Jahrhundert in Regensburg wütenden Pestepidemie von der Fronleichnamsbruderschaft gestiftet und, mit silberbedeckten Madonnenbildern geschmückt, in der Marienburger Pfarrkirche aufgestellt worden ist. Unser eigentlicher Besuch galt natürlich der Ordensburg. Ich suchte ihre Geschichte durch einen phantasiereichen Traum wieder zu beleben. Ein freundlicher Ordensritter fährt uns durch dunkle Gänge, die sich immer mehr mit Scharen von Rittern füllen. Alles strömt in den Kapitelsaal, in den wir einen kurzen Blick werfen dürfen. Auf hohen, kunstvollen Stühlen thronen feierlichwürdige Gestalten um den neugewählten Hochmeister als Mittelpunkt. Wir durchwandern den gotischen Kreuzgang, schreiten durch die schöne „Porta aurea" in die Schloßkirche mit ihren geschnitzten Bänken und reichverzierten Kandelabern, blicken in die kargen Schlafräume der Ritter und sehen sie mit dem neuen Hochmeister im Refektorium versammelt sitzen ‑ mutige, kampferprobte Männer, die ihre Freude über die Wahl mit einem friedlichen Kampf, nämlich dem mit Braten und Wein, feiern dürfen. Zuvor hatten wir den dick‑ und rotwangigen Küchenmeister in seinem Reich, der großen, finsteren Küche des Schlosses, wie einen König walten sehen können. Er ließ den Duft des Bratens genüßlich seine knollige Nase umwehen. Der Herdqualm entschwebte in den gewaltigen Schornstein. Uns entging auch nicht die Bedeutung des an die Außenwand des Speisesaales angebauten „Herrendansker", der dazu bestimmt war, die unverdaulichen Oberreste des Mahles aufzunehmen. Unser freundlicher Ritter begleitet uns dann aus dem lärmenden Festgelage zu der stillen, kalten, prunklosen Gruft der früheren Hochmeister. Das Licht eines flackernden Lämpchens fällt auf die steinernen Betten der Toten, die in der Nachwelt weiterleben als Vorkämpfer des Sieges der christlichen Kultur über die heidnische Natur, des Glaubens über den Unglauben. Eine Sandsteinpforte mit Darstellungen der Himmelfahrt Christi und des jüngsten Gerichts entläßt uns, die wir nun dem Hochmeister‑Palais zustreben. Siegfried von Feuchtwangen hat es1306 ‑ 1309 erbaut. Unser Ritter erzählt uns noch von der Polenkugel, die die schlanke, sich nach oben wie eine Blüte entfaltende, das schwere Gewölbe tragende Säule treffen sollte, aber kraftlos in der Wand stecken blieb. Gemächlich erklärt er die kunstreichen Wand‑ und Glasmalereien des Remters und des Festsaales. Wir treten ins Freie vom Hupen der Autos, Geklingel der Fahrräder, Knarren der Wagen empfangen ‑ der Alltag hatte uns wieder, von keinem freundlichen Ritter waren wir durch die Marienburg geführt worden, sondern von einem milden, alten Kantor. Daß Joseph von Eichendorff, als Oberpräsidialrat der Regierung in Königsberg an der Geschichte der Restauration der Marienburg gearbeitet und eine Tragödie „Der letzte Held von Marienburg" verfaßt hatte, erfuhr ich erst später.

 

Meine früheste Liebe zur Natur gehörte nicht den Bergen, sondern der See! Als meine Eltern mit mir als etwa 3‑jährigem Knirps zum erstenmal nach Cranz fuhren und ich die Ostsee erblickte, soll ich in die Hände geklatscht und gerufen haben: „Soße Wanne!" (Große Wanne), denn das einzige Vergleichsobjekt für mein kindliches „Thalassa, Thalassas" war bis dahin die Badewanne in Widminnen gewesen. (So nannte ich als kleiner junge die Pfirsiche „Stoff‑Äpfelchen", weil ich zuvor nur Äpfel gekannt hatte.) Wir haben dann fast alle Sommerferien im Ostseebad Cranz verbracht und dort zum Teil bei „Tante Deta" (Grete), der besten, unverheiratet gebliebenen Freundin meiner Mutter und meiner Patentante, gewohnt. Die arme Tante Deta ist im Winter 1944 ‑ 45 bei der Eroberung Ostpreußens durch die sowjetische Armee an Entkräftung, Hunger und Kälte gestorben. Sie wurde tot in einem Straßengraben aufgefunden.

 

Meine Liebe zum Wasser überhaupt („Hydrophilie") und zur Seefahrt beruht wahrscheinlich auf einem „genetischen Code": Der Vater meiner Mutter war Kapitän und gründete eine Dampfschiffsreederei „Gustav Reck" in Tilsit. Seine Dampfer befuhren den Memelstrom und das Kurische Haff, eines seiner Schiffe nannte er nach dem Vornamen seiner Tochter „Trude“, sein „Flaggschiff' „Herold" war ein beliebter Ausflugsdampfer, beförderte aber auch Frachten auf dem Haff. Sein Sohn wurde ebenfalls Kapitän. Auf dem „Herold" (Schiffsnamen pflegen sonst Feminina zu sein!) bin ich viel später noch mit Antonia über das Haff gefahren. Nach dem Tode meines Großvaters wurde der „Seebäderdienst der Kurischen Nehrung" von der Königsberger Reederei Hermann Götz mit den „Salondampfern" „Cranz", „Memel'' und „Rositten“ übernommen. In Cranz badete ich begeistert in der Brandung ‑ Schwimmen hatte ich frühzeitig in der Braunsberger „Passarge" gelernt ‑ , saß träumend, zeichnend und erste zaghafte Gedichte von Nixen, Nymphen, gläsernen Unterwasserreichen ersinnend, am Strande. Es ging mir mit Cranz und der Samlandküste ähnlich, wie es Thomas Mann in „Lübeck als geistige Lebensform“ von dem Meer seiner Kindheit, der Lübecker Bucht und Travemünde, beschreibt. Nur war es für mich nicht der „Zusammenklang des Meeres mit der Musik", der „in meinem Herzen eine Gefühls‑ und Ideenverbindung für immer einging", sondern es war der Zauber des rhythmischen Wogens und Schäumens, des Sich‑auf‑bäumens und Hinabstürzens der Brandungswellen als Svmbol des Lebens, der mich gefangen hielt und mich heute noch immer aufs neue fesselt, wenn ich auf Norderney bin. „Des Lebens Woge schäumte nicht so schön empor und würde Geist, wenn ihr der alte, stumme Fels, das Schicksal, nicht entgegenstände", dieser herrliche Bildgedanke HölderIins im „Hyperion" hat mich in meinem Leben getreulich begleitet. Nicht weniger liebte ich die Kurische Nehrung mit Nidden, dem so berühmt gewordenen Fischerdorf, in dem die Maler Pechstein, Bischof‑Kulm, Kallmeyer, Partikel, Birnstengel beim Gastwirt BIode wohnten und wirkten, mit dem nach Tymian‑ und Katzenpfotchenblüten duftenden Dünenweg zur See und mit dem Sommerhaus von Thomas Mann. Unser Freund, der Kunsthistoriker Dr. Erich Krause, vielgereister Kenner auch der ägypti­schen Geschichte und Kultur, hatte sich dort mit ihm über den im Entstehen be­griffenen Roman „Josef und seine Brüder" unterhalten. Klaus Mann nannte Nidden ‑ in seinem Lebensbericht „Der Wendepunkt", 1951 ‑ „ein idyllisches Ostsee‑Dorf, berühmt für die wüstenhafte Weite seiner Dünenlandschaft und für eine besondere Art von Elchen, die mit ihren glatten, massiven Leibern dem Spaziergänger und Autofahrer die sandige Straße versperrten…" „Das war Nidden ‑ primitiv und pittoresk, nicht ohne einen gewissen düster‑traulichen Reiz..“

 

Weniger ans Herz gewachsen war mir das Frische Haff mit seiner Nehrung und dem Ostseebad Kahlberg, obwohl es Braunsberg weit näher lag. Und doch taten geruhsame Kahnfahrten auf dem Haff in der Nähe der Passargemündung meinem träumerischen Herzen wohl. Sie lebten in der Erinnerung wieder auf, als ich Goethes „Züricher See" las: „…die Welle wieget unsern Kahn im Rudertakt hinab, hinauf…“. Nur waren es nicht „Berge, wolkig, himmelan", die „unserm Lauf begegneten", sondern schilfbestandene Ufer und die fernen Dünenlinien der Nehrung. Den „Rudertakt" übten wir Schüler mit den Booten unseres „Gymnasial‑Rudervereins" auf der Passarge bis zum Haff. Der Rudersport war neben dem Schwimmen die einzige Sportart, die ich einigermaßen intensiv betrieben habe. Nur das Reiten machte mir mindestens die gleiche Freude. Ich hatte es als 13‑Jähriger im Braunsberger Landgestüt auf einem alten, ruhigen Hengst erlernt, der sich ungeachtet seiner 23 Jahre des Namens ..Don Juan" erfreuen durfte. Ich bin bis in meine spätere Hamburger und Königsberger Zeit hinein immer wieder gerne geritten und übte mich im Hamburg‑Flottbeker Reitstall sogar im leichten Hürdenspringen bei Musik. Der Rudersport aber erzog uns nicht nur zur körperlichen Kräftigung und zum sportlichen Gemeinschaftsgeist, sondern auch zur Abhärtung. Beim sogenannten „Abrudern" zum Jahresende mußten wir bei 3 Grad unter Null im bloßen Trikot unseren „Vierer“ etwa 20 km weit auf der Passarge bis zum Gasthaus „Pfahlbude" an der Flußmündung rudern. Die Muskelarbeit schützte uns vor Abkühlung, und wir wurden von Dr. Candidus BarzeI, dem Vorsitzenden des Vereins mit anerkennenden Worten und vom Gastwirt Koskowski mit einem steifen Grogchen belohnt! (Zu den gastronomischen Spezialitäten Pfahlbudes gehörten auch Brat‑Aal, Aal in Gelee oder Dill und köstliche Fischsuppe.) Außer dem Wassersport interessierte ich mich schon sehr früh für das Segelfliegen, das ich auch heute noch für eine der erzieherisch wertvollsten Sportarten halte. Einen seiner Pioniere, den Lehrer Ferdinand SchuIz, besuchte ich als Schüler in seiner Königsberger Werkstatt und beobachtete ihn beim Bau eines Segelflugzeuges. Er war durch Weltrekordflüge mit seiner primitiven, selbstgebauten „Besenstielkiste“ über der Kurischen Nehrung berühmt geworden und imponierte mir sehr. 1938 habe ich das Segelfliegen in Pillkoppen bei Nidden (die Segelflugschule wurde „Picebefä", Abkürzung für "Pillkoppener B‑ und C-Fabrik", genannt) erlernt und dort die „A"­-Prüfung, ein Jahr später in Wenningstedt auf Sylt die B‑Prüfung bestanden. Zur „C" bin ich wegen des Kriegsausbruches nicht mehr gekommen. Durch Ferdinand SchuIz angeregt, ließ ich damals als Assistenzarzt an der Königsberger Universitäts‑Nervenklinik im Rahmen der von mir eingeführten Arbeitstherapie von psychisch Kranken Einzelteile von Segelflugzeugen (Rumpfteile, Tragflächen usw.) herstellen, die dann von technisch Sachverständigen geprüft, für einwandfrei befunden und in Segelflugzeuge eingebaut wurden. Die mit diesen „Maschinen" fliegenden Piloten wußten allerdings nicht, daß sie sich Flugzeugen anvertraut hatten, die in den wichtigsten Teilen von Schizophrenen und Epileptikern hergestellt waren!

 

Ende Juni 1923 beschlossen meine Freunde Otto und Heinz, mit mir einige von der Schulfron unbeschwerte Ferientage im Ostseebad Kahlberg auf der Frischen Nehrung zu verleben. Leider scheiterte dieses Dreier‑Vorhaben an einem Streik der Landarbeiter, der zu unserer Einberufung als „Technische Nothelfer“ führte. Wir mußten auf die verlockende Absicht, als „feine Pinkels" mit weißen Hosen („Schmand‑Bixen") und eleganten Strandschuhen auf der Uferpromenade zu flanieren, verzichten und hatten statt dessen als Landarbeiter bei der Heuernte zu helfen, ich auf dem Gute eines Herrn von BüIow in Rauschnick bei Heiligenbeil. Wir wurden von den streikenden Landarbeitern als „Streikbrecher“ mit Spaten und Heugabeln bedroht, genossen aber die harte Arbeit des Heustakens und Tennenfegens bei kräftiger Landkost mit Schwarzbrot und frischer Milch in vollen Zügen. Von dem dafür erworbenen Gelde, dem ersten selbstverdienten meines Lebens, habe ich mir Herders Werke angeschafft, die ich heute noch in derselben Ausgabe besitze

 

Meine vita activa der Schulzeit schlug jäh in eine contemplativa um, als mir der hervorragende (jüdische) Königsberger Augenarzt Prof. Pieck wegen meiner Kurzsichtigkeit eine Atropinkur verordnete. Sie bestand außer der regelmäßigen Anwendung der pupillenerweiternden Atropintropfen, die mein Vater vornahm, in einem strengen Lese‑ und Schreibeverbot und dem Gebrauch einer Brille mit grünen Gläsern für die Dauer von vier Wochen. Damit sollte das Auge ruhiggestellt und der Verlängerung des Augapfels, die der „Myopie" zugrundeliegt, entgegengewirkt werden. Diese Kur hat zwar mein Sehvermögen nicht verbessert, sie verschaffte mir aber die Annehmlichkeit, eine Zeitlang von Klassen‑ und Hausaufsätzen sowie von schriftlichen mathematischen Aufgaben befreit zu werden. Sie gab mir zugleich willkommene Gelegenheit zur eingehenden Innenbetrachtung. Ich nutzte sie denn auch weidlich aus und versuchte, ein wenig mehr Ordnung und Klarheit in mein pubertär‑unruhiges und widerspruchsreiches seelisches und geistiges Leben zu bringen: In das Hin‑ und Hergewoge zwischen patriotischen und weltbürgerlichen Gefühlen, konservativen und antibürgerlich‑aufsässigen Impulsen, zwischen Naturreligion und Christentum, biologischen und literarischen Interessen, Triebregungen und Reinheitsidealen. Ich litt unter der Zerrissenheit, der „Strukturlosigkeit des Zeitgeistes, der Erniedrigung des Nationalgefühls durch die Schmach von Versailles", empörte mich gegen "Vaterlandslosigkeit", Materialismus, Kriegsgewinnler‑ und Protzentum, gegen den „Valutadrachen“ und seine Kulturfeindlichkeit, ich sehnte mich nach Frieden zwischen den Völkern ‑ am meisten schmerzte mich die „Erb"-Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich! ‑, suchte nach einer Verständigung zwischen den Konfessionen und strebte nach einem festen Halt im Glauben an Gott, rang aber nur um seine Form und wußte noch nicht recht wie sie mit Inhalt erfüllt werden sollte und könnte. Freundschaft bedeutete mir viel, während Liebe zur Weiblichkeit sich ‑ mit Ausnahme einer kurzdauernden, heftigen „Romanze" mit einer weit älteren, geschiedenen Frau ‑ noch nicht über zarte, sehnsuchtsvolle Gefühlsseligkeiten hinausgewagt hatte. Das Problem des Todes lag mir noch fern. Selbsttötung hielt ich für ethisch nicht vertretbar im Gegensatz zu der Ansicht unseres liberal gesonnenen evangelischen Religionslehrers, Prof. SchIonski, der den selbstgewählten Tod einer jungen Braunsberger Lehrerin von ihren Motiven her zu verstehen und zu rechtfertigen suchte.

 

Für eine Art „vorläufiger Lebensbilanz" war es mit 16 Jahren natürlich viel zu früh. Aber ich prüfte mich selbst und suchte mich im besonderen etwas mühsam und mit wechselndem Erfolge einer inneren Schwäche zu erwehren: Der Eitelkeit. Anlaß zu dieser unliebsamen Eigenschaft gab mir nicht nur die Bemerkung der beiden Berlinerinnen bei der Schwarzwaldwanderung („Der Kleenste, aber der Scheenstel"), sondern auch ein Briefchen, das mir mein Freund Otto einmal schrieb. Darauf stand ein Loblied auf mich, das mit den Worten schloß: Every such a man!" Zum Glück hat sich ein regelrechtes Liebesgedicht nicht erhalten, das ein älterer Mitschüler mir auf dem Schulhof heimlich zusteckte Er war eine dichterisch begabte, herrlich unbürgerliche, vagantenhaft ‑ liebenswerte, an Francois ViIIon erinnernde Natur. Das Poem schmeichelte mir zwar, berührte mich aber mit Unbehagen, ähnlich wie die herausfordernd ‑ schmachtenden Blicke, die mir ein damals sehr bekannter Kabarettist, Paul O'Montis, auf der Strandpromenade in Cranz zu‑ und nachwarf. Ich verstand ‑ und verstehe heute nach ‑„Liebe", „Eros“ in einem allumfassenden Sinne als Liebe zur Gott‑Natur, als Liebe zum Leben, zur Menschheit, zur Schönheit, zum „Sein“. Lao‑Tse, Platon, Goethe ‑ ein zu weites Feld, als daß ich es hier zu betreten wage. Trotz schmerzlicher Enttäuschungen neigte ich zur Idealisierung der „Frau“, ohne dieser Neigung bis heute ganz untreu geworden zu sein!

 

Niemals sah ich Anlaß, mit Thomas Mann zu sagen, ich verabscheue die Schule. Vielmehr war und bin ich ihr dankbar für das, was sie mir an Bildungselementen und geistiger Erziehung mitgegeben hat. Nur das letzte Schuljahr wurde mir „sauer'. Meine Freunde Otto und Heinz hatten ihr Abitur bereits hinter sich, waren Studenten, Corpsstudenten, freie Burschen. Ich hingegen fühlte mich weiter ins Joch der Schule gezwungen und kannte es kaum erwarten, es mit dem eigenen Abitur abzuschütteln. „Nun noch ein schwarzes Jahr!", schrieb ich in mein Tagebuch. Zudem bedurften die Latein‑ und Griechisch-Kenntnisse meiner Unter‑ und Oberprima dringend der Verbesserung, die uns von besonders strengen Lehrern aufgenötigt wurde. ("Sie werden rasseln'", drohte unser Griechisch‑Lehrer Hohmann dem einen oder dem anderen, wobei sein Vollbart, der eine Schilddrüsenvergrößerung (Kropf) bedeckte, bedenklich ins Zittern und Wanken geriet!). Ich war in Gefahr, mich durch allzuviele Interessen zu verzetteln und litt unter dem Konflikt zwischen ihnen und den Erfordernissen des Pensums. Auch das ging vorüber, und nach gut, wenn auch ohne Befreiung vom „Mündlichen" bestandenem Abitur war ich „frei". Wirklich frei?

 

Hier endet mein Schülertagebuch. Am 18. Geburtstage, dem 24 Juni 1924, also noch vor dem Abitur, schloß ich es ab mit den Worten „Das Tagebüchlein ist aus. Vieles Kindliche und Törichte steht darin, besonders am Anfang, vieles, was ich jetzt belächeln muß. Manches an Ansichten, die ich längst verwarf. Aber es gibt vielleicht den kleinen Ausschnitt einer Entwicklung." Ich habe das Büchlein dann mit einer dankbaren Widmung meinen Eltern wiedergeschenkt.

 

 

Corpsstudent in Königsberg

 

Der Abiturient, der das Studium erwartete, wurde - und wird vielleicht heute noch - "Mulus", "Maulesel", genannt, weil er, vergleichbar der Kreuzung von Pferdehengst und Eselstute, weder Schüler noch Student oder "nicht Kix, nicht Kax", war. Für mich stand fest, daß ich, dem väterlichen Leitbild folgend, Medizin studieren und Arzt werden wollte. Ebenso fraglos war, daß ich dem Königsberger Corps Littuania angehören würde, dessen begeisterte Mitglieder mein Vater und sein Vetter, ein im Ersten Weltkriege gefallener Rechtsanwalt, mein Patenonkel, waren. Von Bedenken und Vorurteilen gegenüber studentischen Verbindungen im allgemeinen und denn "Kösener Corps" im besonderen fühlte ich mich frei. Ich war im Gegenteil stolz darauf, Corpsbruder meines Vaters zu werden, zumal ich wußte, daß unter den Argumenten, mit denen waffenstudentische Korporationen kritisiert wurden, zumindest zwei nicht zutrafen: Nationalismus und Antisemitismus! Die "Corps" - das Wort, von der französischen Fassung des lateinischen "Corpus" = Körperschaft abgeleitet, hat sich um etwa 1800 eingebürgert - verstehen sich nach einer Definition aus dem Jahre 1848 als "brüderliche Vereinigungen von Studenten, die ohne Rücksicht auf eine für Alle bindende politisch bestimmte Richtung auf Grundlage einer besonderen Constitution den allgemeinen Zweck haben, den von dem allgemeinen Senioren-Convent (SC) aufgestellten Comment und das deutsche Studentenwesen in seiner Eigentümlichkeit aufrecht zu erhalten". Ihre Aufgabe sei es (stilistisch umständlich und holperig formuliert), "den geistigen und geselligen Verkehr der Mitglieder zu fördern, dieselben für das Leben und für die Gesellschaft heranzubilden, bei völliger Freiheit der Individualität, d.h. ohne Beeinflussung ihrer politischen, religiösen und wissenschaftlichen Richtung". "Dies Ziel wird erstrebt auf Grundlage des Prinzips, stets auf Mannesehre zu halten und stets brüderliche Freundschaft untereinander zu halten." Als junge, leicht aufsässige "Füchse", aber auch später als "Corpsburschen" haben wir uns bisweilen belustigt gefragt, worin die Förderung des "geistigen Verkehrs" bestehen sollte, wenn der Corpsbetrieb sich im wesentlichen auf die zwei wöchentlichen Kneipen, die Semesterantritts- und abschlußkneipen, die Sommer- und Stiftungsfeste, den ordentlichen und außerordentlichen Corps-Convent (CC) beschränkte. Ich kann mich jedenfalls nicht an geistige Anregungen durch Vorträge, Diskussionen, Leseabende oder Ähnliches erinnern. Die eigentliche Aufgabe der "Littuania" bestand, ihrem landsmannschaftlichen Charakter entsprechend, in der Pflege des Heimatgeistes und der Heimattreue. Sie ergab sich aber schon ganz von selbst aus der gemeinsamen Zugehörigkeit zu dem nordöstlichen, "Preußisch-Litauische` genannten Teil Ostpreußens. Denn der Nachwuchs des Corps rekrutierte sich in der Hauptsache aus Absolventen der Gymnasien in Tilsit (an dem auch mein Vater sein Abitur bestanden hatte), Insterburg, Gumbinnen. "Preußisch-Litauen" war als Siedlungsgebiet, "Wildnis", durch den Deutschen Ritterorden und durch Herzog Albrecht mit Hilfe litauischer und masovischer Auswanderer kolonisiert worden. Später, als Ostpreußen durch die Pest und den Tatareneinfall stark entvölkert war, wurde diese Kolonisation unter den Königen Friedrich dem Ersten und besonders unter dem "Soldatenkönig" Friedrich Wilhelm dem Ersten und durch die ihres evangelischen Glaubens wegen vertriebenen Salzburger Immigranten verstärkt. Die Einwanderer aus Litauen und Masuren vermischten sich mit der deutschen Bevölkerung und gingen völlig in ihr auf. Die Bezeichnungen "Littauer" und "Masuren" hatten nur noch eine geographische Bedeutung. Da die meisten der in Königsberg 1820 gegründeten Landsmannschaften aus "Litauen" stammten, nannten sie sich "Littuania", obwohl sie alle Deutsche waren. In Verkennung dieses geschichtlich-ethnographischen Faktums und der unpolitischen Zielsetzung unseres Corps hat im Jahre 1982 eine nationallitauische Exilgruppe in Australien, "Lithuanian Academic Fraternity Romuva", Verbindung mit dem Hamburger Corps "Albertina" als Traditionscorps der Littuania, Hansea und Baltia aufgenommen, um der Gemeinsamkeit des Schicksals der Besetzung Litauens und Nord-Ostpreußens durch die Sowjet-Union Ausdruck zu verleihen. Ober einen höflichen Schriftwechsel und die Teilnahme eines würdigen und sympathischen Vertreters der "Romuva" an einer Kneipe ist dieser gutgemeinte Annäherungsversuch allerdings nicht hinausgekommen.

Die Geschichte der Landsmannschaft und des späteren Corps Littuania ist insoweit interessant, als sie die bis heute fortbestehende Polarisierung in konservativ-restaurative und liberal-fortschrittliche Richtungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts widerspiegelt. Die erste im Rahmen der "Allgemeinen Burschenschaft" gegründete Landsmannschaft Littuania mußte sich ein Jahr später, 1821, auflösen, weil Metternich nach der Ermordung des deutschen, in russischen Diensten stehenden Schriftstellers August von Kotzebue durch den Burschenschafter Karl Sand mit den "Karlsbader Beschlüssen" vom August 1819 die Verfolgung der "Demagogen" und ihrer "geheimen oder nicht autorisierten Verbindungen" durchgesetzt hatte. Als solche galt auch die Königsberger "Allgemeine Burschenschaft", die schon im Dezember 1819 verboten wurde. Anstelle der Ersten Landsmannschaft Littuania entstand 1821 ein Kränzchen", dem auch der Student der Rechts- und Staatswissenschaften Eduard Simson angehörte. Simson war bereits mit 26 Jahren ordentlicher Professor an der Albertus-Universität, wurde 1848 vom Rat seiner Vaterstadt Königsberg in die Frankfurter Nationalversammlung berufen und zu deren Präsidenten gewählt. Im Auftrage der Nationalversammlung bot er an der Spitze einer Deputation 1849 dem König Friedrich Wilhelm dem Vierten die deutsche Kaiserkrone an, die dieser jedoch ablehnte, da das demokratische Angebot dem legitimen "Gottesgnadentum" widersprach! Der König versuchte dann aber mit Hilfe der Fürsten und im Zusammenwirken mit Simson die Reichsgründung voranzutreiben. Simson wurde später Präsident des Preußischen Abgeordnetenhauses, 1867 des Norddeutschen Reichstages und trug am 18. Dezember 1870 dem Preußischen König Wilhelm die Kaiserkrone an, die dieser nur widerwillig annahm. Zum Präsidenten des Ersten Deutschen Reichstages gewählt und 1879 zum ersten Präsidenten des Reichsgerichtes in Leipzig berufen, wurde ihm vom Kaiser der Schwarze Adlerorden, mit dem der erbliche Adel verbunden war, verliehen. Als Wahlspruch wählte Simson das Horazische Wort "sapere aude incipe!", von Kant in seiner Schrift .Was ist Aufklärung?" frei übersetzt: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" Simson hatte schon als 18-Jähriger das juristische Doktorexamen an der Albertus-Universität bestanden, was Zelter Goethes Freund, diesem brieflich mitteilte. Goethe lud den jungen Doctor juris utriusque daraufhin zu einem Besuch in Weimar ein, und Simson nahm im Jahre 1828 an einem Empfang und Abendessen bei Goethe teil. Er blieb ein so großer Verehrer und Kenner seiner Werke, daß er zum ersten Präsidenten der 1885 in Weimar gegründeten Goethe-Gesellschaft gewählt wurde. Das Bild dieses hervorragenden Mannes - er war Jude - hängt heute in der Littauer-Kellerkneipe unseres Nachfolgecorps Albertina in Hamburg. Auf einer Photographie des Inneren des ehemaligen Königsberger Corpshauses aus dem Jahre 1935 (!) ist kein Bild von ihm zu sehen, dafür über dem Verhandlungstisch des CC-Zimmers ein Portrait des "Führers und Reichskanzlers" Adolf HitIer! Diese - allerdings mehr optische - Konzession an das NS-Regime konnte nicht verhindern, daß im selben Jahr der Kösener Seniorenconventsverband und mit ihm alle Corps aufgelöst wurden. 1938 entstand auf Initiative des Landgerichtspräsidenten Funk Littuaniae, eines durch versehentliche Handgranatenexplosion an den Armen verstümmelten und im Gesicht entstellten hochintelligenten, mir etwas zwielichtig erscheinenden Mannes, anstelle des Corps eine "Kameradschaft Tannenberg", deren »Führer" er selbst wurde. Er ist 1943 in Rowno (Ukraine) ermordet worden.

Zurück zur Geschichte der "Littuania": Der erste Senior der am 31. Januar 1829 unter der Förderung Simsons von sieben Studenten gegründeten Landsmannschaft Littuania, stud. Jur. Gustav von SaItzwedeI, später Regierungspräsident in Gumbinnen, sollte auf Anordnung des Oberpräsidenten von Schön , in dessen Amt Joseph von Eichendorff tätig war, einer Haussuchung unterzogen werden. Er konnte sich ihr durch Ausweichen nach Berlin und Verbrennen des Mitgliederverzeichnisses und aller Papiere entziehen. Später wurden die Landsmannschaften von der Regierung geduldet und vom Verdacht der politischen Betätigung - "schon wegen ihrer Armut"! - befreit. Die Littuania wählte die Farben GrünWeiß-Rot und ein Wappen mit dem sich aufbäumenden Littauer-Schimmel und der Devise "Durate et vosmet rebus servate secundis!" aus der Aeneide des VergiI, I, 207. Simsons politischer Gegner, der - ebenfalls jüdische - Königsberger Arzt Dr. med. Johann Jacoby, ehemals auch Mitglied des "Littauer-Kränzchens", forderte als Vertreter der liberalen Bürgerschaft der Stadt die Einführung einer demokratischen Verfassung mit parlamentarischer Volksvertretung. (Von ihm ist folgende Anekdote überliefert: Der streitbare Jacoby war wieder einmal wegen politischer Äußerungen verhaftet worden. Zu dieser Zeit fand vor dem Königsberger Stadtgericht eine Verhandlung gegen ein Mädchen statt, die jäh unterbrochen werden mußte, weil die Angeklagte ein Kind bekam. Kurz entschlossen ließ der Richter, ein guter Bekannter Jacobys diesen aus der Zelle in den Gerichtssaal rufen, um ihn zu bitten, der Angeklagten beizustehen. Jacoby leitete die Geburt erfolgreich und wurde mit verbindlichem Dank in seine Zelle zurückgeführt. So war es damals!) 1848 spaltete sich die Littuania in ein schon seit 1836 bestehendes Corps mit hierarchischer Gliederung in Corpsburschen, "Renoncen" (von "renoncer" = verzichten, nämlich auf die Wahl zum Corpsburschen) und "Füchsen" mit ganz verschiedenen Rechten unter den Farben Grün-Silber-Rot, daher "Silber-Littuania" genannt, und in eine Landsmannschaft mit gleichen Rechten für alle Mitglieder und den Farben Grün-Weiß-Rot, die sich "Tuch-Littuania" nannte. 1851 haben die "Silber-Littauer" die Königsberger Corps-Landsmannschaft "Baltia" mitbegründet. Es gab also, der allgemeinen gesellschaftlich-politischen Polarisierung Konservativ - Liberal - entsprechend, an der Universität Königsberg zwei verschiedene Korporationen mit unterschiedlicher Struktur, aber gleichem Stiftungstag, gleichem, Namen und gleichem Wappen, ohne daß dadurch etwa eine persönliche Gegnerschaft unter den "Coleurbrüdern" entstanden wäre! Erst im Jahre 1894 wurde die Landsmannschaft Littuania in den "Hohen Kösener Senioren-Conventsverband" ("H.K.S.C.V.") aufgenommen, also endgültig als Corps konstituiert.

Alle Königsberger Korporationen waren seit ihrer Gründung schlagende Verbindungen. Das heißt: Das Fechten war Pflicht jedes ihrer Mitglieder, wenn auch zunächst nur als Erwiderung auf eine - oft provozierte - Beleidigung. Allmählich bildeten sich feste Regeln ("Pauk-Comment") heraus, und das Schlägerfechten wurde zu einem studentischen Sport, der von einem Fechtlehrer erlernt und auf dem "Paukboden" geübt werden mußte. Ich bin noch von dem zu meiner Zeit berühmten und beliebten, mit einem grau-weißen Vollbart würdig geschmückten Fechtlehrer namens GrünekIee unterrichtet worden, und zwar in der von einem wohlhabenden Königsberger Chirurgen, Dr. med. Lange, gestifteten "Palästra Albertina". Die jeweiligen "Paukanten" wurden von den Fechtchargierten in sogenannten "Bestimmzetteln" für die scharfen Mensuren bestimmt, die deshalb "Bestimmungsmensuren" genannt werden. In Königsberg habe ich neun, in München bei dem dortigen Corps Makaria drei weitere Mensuren gefochten, wurde einmal von dem damals besten Königsberger Fechter nach 11 Minuten abgestochen", und erlebte in München eine kleine, mir heute ziemlich lächerlich erscheinende "Genugtuung", indem ich dem dortigen besten "S.C.-Fechter" selbst eine "Abfuhr" erteilte. Zu Triumph war kein Anlaß, denn in Königsberg wurde mit dem "Glockenschläger" schnell und elegant gefochten, in München mit dem "Korbschläger" langsamer und plumper (mehr nach Holzhacker-Buam-Art), so daß ich bei nur durchschnittlichen Fechtleistungen meinem bajuwarischen "Gegenpaukanten" überlegen war. Eine Mensur mußte, wenn sie nicht nur technisch, sondern auch "moralisch" einwandfrei sein sollte, ohne Zeichen von Angst oder Erschrecken (man nannte es "Kneifen"!) gefochten werden. "Moralisches" Verhalten wurde auch gefordert für das nachfolgende "Flicken" durch den "Paukarzt", bei dem die Kopf- und Gesichtswunden, z.B. auch die an der Lippe, ohne örtliche Betäubung zusammengenäht wurden, oft von Studenten oder Kandidaten der Medizin! Für mich als nicht gerade besonders robusten Jüngling bedeutete das Fechten eine harte Erziehung zur Selbstbeherrschung, zum Widerstand gegen die Angst als Feigheit und zum Ertragen von Schmerzen. Allerdings habe ich später unblutige Sportarten wie das von mir betriebene Segelfliegen als geeignetere Möglichkeiten der Selbsterziehung schätzen gelernt. Auf die "Schmisse" an Stirn, Wange und Kinn, die ich in Königsberg "bezogen" hatte, war ich in pubertärer Eitelkeit zunächst noch stolz. In reiferen Jahren hätte ich gerne auf sie verzichtet, zumal Antonia nichts von dieser Art akademischer Erkennungszeichen hielt. Ich überlegte sogar, ob ich die leichten Wulst ("Keloid"-) - bildungen nicht kosmetisch retuschieren lassen sollte!

Die Corps waren und sind wie alle traditionsgebundenen studentischen Korporationen reine Männerbünde. Als einer unserer Corpsbrüder einmal fragte, warum eigentlich nicht auch Damen an dem "Katertag" nach den Stiftungsfesten teilnehmen sollten, erhob ein "alter Herr" seine Stimme mit den denkwürdigen Worten: "Das fehlte noch, daß uns die Frauen den Katertag versauen!" Heute ist das männerbündische Prinzip zum Glück aufgelockert durch die selbstverständlich gewordene Teilnahme der Frauen, Witwen, Partnerinnen oder Töchter von Corpsbrüdern an den sommerlichen Begegnungen in der Lüneburger Heide, durch den allerdings auch schon früher üblichen Ball beim Stiftungsfest und durch die Pflege des Kontaktes mit den Witwen der Littauer. Eine Corpsschwester, Frau Ilse MöIIer, hat sich sogar besondere Verdienste um den Zusammenhalt außerhalb der konventionellen Veranstaltungen des Corps erworben. Eine Teilnahme von Frauen an den Kneipen, Kommersen, Corpsburschen-Conventen usw. erscheint allerdings nach wie vor und in Zukunft undenkbar. Neuerdings scheinen feministische Tendenzen in die studentischen Männerbünde einzudringen: An der Universität Tübingen sollen sich weibliche Korporationen etabliert haben, die bestimmte Gepflogenheiten und Rituale der privilegierten Männerverbindungen - mit Ausnahme des Fechtens ! - nachahmen!

Den eigentlichen Wert meiner Zugehörigkeit zu einem Corps sah und sehe ich heute noch im Geist der Treue, der uns verbindet und die Treue zur geliebten alten ostpreußischen Heimat umschließt. Es war der einst berühmte Dichter, Schriftsteller und Politiker Wilhelm Jordan, der in seinem großen Stabreim-Epos "De Nibelunge" das "Hohe Lied der Treue" besungen und beschworen hatte. Jordan gehörte mit Simson , Jacoby und sechs weiteren Mitgliedern der Littuania zu den Abgeordneten der Deutschen Bundesversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848. Untrennbar vom Geist der Treue war und blieb der Geist der Freiheit, der schon frühzeitig von den Landsmann- und Burschenschaften namentlich auch von der Littuania vertreten und - mit bestimmten Einschränkungen - praktiziert wurde. Der Littauer Jordan war von den Ideen Ludwig Feuerbachs und Hegels begeistert und zählte zu den markantesten Abgeordneten und brillantesten Rednern des Frankfurter Parlaments. Er war mit Ferdinand Gregorovius aus Neidenburg, dem späteren Ehrenbürger von Rom, der dem Königsberger Corps Masovia angehörte, befreundet. Im Jahre 1843 wurde er dazu ausersehen, Franz von Liszt, bei dessen Aufenthalt in Königsberg auf der Konzertreise zum Hof des Zaren in Petersburg eine Ehrenurkunde auszuhändigen und ihm eine mit einem goldenen Albertus geschmückte Kappe auf das Haupt zu setzen. Liszt gefiel es in Königsberg so gut, daß er dort länger blieb als vorgesehen war. Er befreundete sich eng mit Jordan und begleitete ihn bis an dem Memelstrom (Njemen). Als sich die beiden Freunde 35 Jahre später in Budapest wiedersahen, wohin Jordan zu einer Lesung seiner "Nibelungen" gereist war, wurde ihm zu Ehren ein von diesem selbst verfaßtes Lustspiel aufgeführt. Nach der Vorstellung gab Liszt in seinem Hause ein Fest für Jordan, der sich, in sein Hotel zurückgekehrt, mit folgendem Gedicht bedankte: "Die Jünger selbst des Kant und Hegel erwärmtest Du zu lichter Glut. Sie schmückten in der Stadt am Pregel Dein Haupt mit einem Doktorhut. Dann, während oft ich Deinem Spiele, Dicht neben Dir allein gelauscht, Hat nach verwandtem Ruhmesziele Ein Drang von Hoffnung mich berauscht. Du nahmst mich mit. Erst auf der Brücke Des breiten Njemen macht' ich kehrt, Seitdem nach einem Künstlerglücke Wie Deines hat mein Herz begehrt." Nun - das "Künstlerglück" Liszts hat das von Jordan - zum Glück! - überdauert. Immerhin sind Hegel und der Fluß, an dem unsere liebe Heimatstadt liegt, um des Reimes willen mit einer überraschenden poetischen Würdigung bedacht worden!

Als literaturhistorische Randbemerkung sei erwähnt, daß Jordan eine "metaphysische Dichtung" mit dem Titel "Demiurgos" hinterlassen hat, ein Vermächtnis seiner nicht zuletzt durch das Erlebnis der Nationalversammlung geprägten Weltanschauung, das damals sogar mit Goethes "Faust" verglichen wurde, aber zum "Ruhmesglücke" des ostpreußischen Dichters nicht beitragen konnte.

Am 31. Januar 1929 wurde das hundertste Stiftungsfest der Littuania als "ältester Verbindung an der Albertina", in großem, auch von der Öffentlichkeit, der Universität und den Vertretern des Staates, der Gesellschaft wie des kulturellen Lebens gewürdigtem Rahmen gefeiert. Die in Anführungsstriche gesetzte Bezeichnung war ein Kompromiß, der erst nach einem aus heutiger Sicht kleinlichen "Anciennitätsstreit" mit den drei anderen Königsberger Corps Baltia, Masovia und Hansea um das Gründungsdatum als Corps gefunden wurde. Unser Corpsbruder Kurt RiedeI hat seine Rede zum Festkommers dieser Zentenarfeier mit den Worten geschlossen: "Wenn an einer künftigen Wende unserer Corpsgeschichte wieder einmal der Blick auf die Vergangenheit zurückschauen wird, dann möge das Urteil über unsere Generation so ausfallen, daß sie nach Kräften bemüht gewesen ist, sich der Männer würdig zu erweisen, welche unsere Littuania während eines Säkulums durch alle Schwierigkeiten geführt haben. Heute stehen wir wieder an einer Wende, die den Blick auf die Vergangenheit richten und in die Zukunft werfen läßt." Ich selbst sehe in der Erinnerung an die Geschichte der Littuania eine Verpflichtung zur Pflege des Erhaltungswürdigen an der Tradition, aber auch zum Abwerfen überholter Formen und Inhalte und zum Mut, Neues in einer von Grund auf veränderten Welt und Gesellschaft zu versuchen - eine Aufgabe, die durch einförmiges und zeitraubendes Festhalten an alten Kneip- und Kommersritualen und durch die Lücken in der Pflege geistiger Lebenselemente und kultureller Anregungen nicht gerade erleichtert wird.

Heute, da die Einheit Deutschlands unter völlig neuen gesellschafts-, staats- und weltpolitischen Bedingungen wieder hergestellt ist, sollten wir uns vielleicht daran erinnern, daß die damaligen ostpreußischen Abgeordneten des Paulskirchen-Parlaments zu einer Deutschen Reichsverfassung vom 28. Mai 1849 beigetragen haben, zu deren Grundlagen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 ebenso gehört wie die Bundesverfassung des Norddeutschen Bundes vom 1. Juli 1867, die Reichsverfassung von 1871 und die Weimarer Verfassung von 1919. Wir müssen die Vergangenheit kennen, wenn wir die Gegenwart verstehen und für die Zukunft arbeiten wollen! Aber: "Alte Traditionen werden nicht durch lebhafte Worte lebendig, sondern nur durch lebendiges Beispiel!" Dies hat Hans-Joachim Schoeps, 1980 verstorbener Ordinarius für Religions- und Geistesgeschichte an der Universität Erlangen - Nürnberg, in einem Vortrag "Preußen - Gestern und Morgen" am 24. Juni 1961 vor dem Corps Borussia in Bonn gesagt. Schoeps, Sohn eines "Königlich Preußischen Oberstabsarztes", entstammte einer alteingesessenen jüdischen Familie in der Mark Brandenburg und ließ sich durch seine 1938 erzwungene Emigration nach Schweden - seine Eltern fanden im Konzentrationslager den Tod - nicht beirren, als konservativer Demokrat und kämpferischer Geist für die Besinnung auf die viel geschmähten Tugenden des alten Preußentums einzutreten: Preußen mußte gegen eine "armselige Wirklichkeit" aus einem Ethos des Dienens, des Opfermutes und der Leistung erst geschaffen werden. Schoeps dachte nicht etwa an eine Restauration Preußens. Der geschichtliche Bezug auf das Preußentum hatte für ihn einen unmittelbaren Sinn: Er bedeutete ihm Aufforderung und Gebot als Vorbild und Beispiel und damit zugleich als Kritik am Ungeist des Zeit-Geistes im Kampf gegen den Tanz um das "Rote Kalb", für Freiheit und Eigenverantwortlichkeit und für ein "von innen her geordnetes Leben" des Menschen. Als einer der letzten Repräsentanten des enzyklopädischen Gelehrtentums im 19. Jahrhundert hat Schoeps neben seinen Untersuchungen zur urchristlichen, christlichen, judenchristlichen und jüdisch-deutschen Religions- und Kulturgeschichte sowie zur philosophischen Anthropologie der neuesten Zeit ("Was ist der Mensch?", 1960) die Preußische Staatsidee als Grundlage und Beispiel eines Rechtsstaates aus ihren Verschüttungen durch die politische Liquidation Preußens, die von den Siegermächten nach dem Zweiten Weltkrieg verfügt wurde, wieder hervorgeholt und begründet. "Der Preußische Staat ist kein Bauern-, kein Kaufmanns-, kein Adels-, aber auch kein militärischer Staat", so steht es in den "Preußischen Provinzialblättern oder Vaterländischem Archiv für Wissenschaft", Band XIII, Königsberg 1835, 317 (zitiert nach Schoeps, "Preußen-Bilder und Zeugnisse", Propyläen Verlag Berlin, 1967). Hier sei daran erinnert, daß Preußen in eineinhalb Jahrhunderten nur 8 % der europäischen Kriege geführt hat, Frankreich hingegen 28 %, was natürlich keine moralische Rechtfertigung des Krieges bedeuten kann! In dem genannten Buch schreibt der preußisch-jüdische Autor weiter: "Wenn sich das Grundgesetz der Bonner Bundesrepublik im Artikel 33 zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums bekennt, wie sie auch schon in der Weimarer Verfassung verankert waren, so kann man zureichend genau angeben, worin sie tatsächlich bestanden haben und heute noch bestehen. Es waren und sind nämlich uneigennützige Hingabe an den Dienst, ein hohes Maß an Nüchternheit und Sachlichkeit in der Urteilsbildung - auch wenn politisch die Wellen hochgehen -, gewissenhafte Pflichterfüllung und absolute Unbestechlichkeit, ferner die allem äußeren Pomp abgewandte Schlichtheit des Auftretens, wie sie sich in Graf SchIieffens Preußischem Wahlspruch ausdrückte, mit dem er das Wesen Moltkes charakterisieren wollte: "Viel leisten, wenig hervortreten, mehr sein als scheinen." "Es war ferner der Wille zur Sparsamkeit, der sich immer an die untere Grenze dessen hielt, was als ,standesgemäßes Auftreten' galt, denn die selbstlose Hingabe an das Amt und damit an den Staat, was war der Inhalt des spezifisch preußischen Beamtenethos ..."

Hermann Sudermann und Littuania

Geschichte ist nach Arnold Toynbee nicht in abgeschlossenen Ganzheiten zu sehen, sondern muß als ein "Gewebe" begriffen werden. In dem corps- und zugleich literatur-geschichtlichen Gewebe erscheint interessant und des kritischen Nachdenkens wert, was Hermann Sudermann im "Bilderbuch meiner Jugend" über seine Episode bei der Littuania berichtet. Er wurde für die damalige Landsmannschaft Littuania durch einen Erstchargierten namens Neiß "gekeilt", wie man das Anwerben von jungen Studenten nannte. (Der Name ist tatsächlich als Senior in der von Dr. jur. Walter Passauer verfaßten "Corpstafel der Littuania zu Königsberg" unter dem SommerSemester 1874-75 verzeichnet). Mit Hilfe eines "tiefgründigen Gespräches über Menschenwerte, über die Geschichte des Erlösungsgedankens, den Wettstreit werdender Weltanschauungen" gelang es Neiß, ihn zu gewinnen. Als Sudermann sich, begeistert von dem geistigen Höhenflug des Gespräches, und hocherfreut, einen Freund gefunden zu haben, zur Mitgliedschaft entschloß, mußte er schwere Enttäuschungen erleben: Kaum "Fuchs" geworden, wurde er "angeschnauzt und umhergestoßen, herumkommandiert und geschurigelt", und mußte anhören, daß Neiß, auf ihn hinweisend, zu seinem Nachbarn sagte: "Es war ein hartes Stück Arbeit mit dem Schafskopf!" Es erwies sich, daß vom "Geist der Freiheit" nichts zu spüren war! "Die Fron, in die ich mich begeben hatte, nahm ihren Fortgang, und so schwer lastete sie auf mir, daß für den eigentlichen Zweck meines Daseins nur wenig Kraft und innere Anteilnahme übrig blieb." Der Trinkzwang war Sudermann ebenso zuwider wie die Pflichtmensur. Dabei betont er, daß er kein "Kneifer" war, sondern leidenschaftlich gern gefochten hat und "sogar zu wohlberechtigten Hoffnungen" berechtigte. Auch im "Suff' stand er seinen Mann, brachte es "auf achtzehn Seidel" an einem Abend und verstand sich so gut zu trainieren, daß er "im zweiten Semester nie mehr die Besinnung verlor." Daß der Ehrbegriff einer studentischen Korporation nicht mit dem eines jungen Dichters übereinstimmen muß, hat Sudermann schmerzlich erfahren, als durch eine Indiskretion bekannt wurde, daß er, ein "krummer Fuchs" anstatt "allabendlich auf die Kneipe zu kommen, auf seiner Bude hockt und - was tut? ..

Dramen schreibt!" Der dramenschreibende Fuchs und spätere hochberühmte Dichter der Bühnenwerke "Ehre", "Heimat", "Die Raschhoffs", "Johannesfeuer" sah sich dem Spott und Gelächter der "Corona" ausgesetzt, wurde den durchreisenden "Alten Herren" als Sehenswürdigkeit vorgeführt und allenfalls für geeignet gehalten, Bierzeitungen zu liefern - eine Kränkung, die Sudermanns heftige, nicht in allem gerechte Kritik an den Littuania verstehen läßt. Den Rest gab ihm eine offizielle Rüge, die ihm erteilt wurde, weil er aus Kummer über den Tod eines von ihm nur keusch geliebten, lungenkranken jungen Mädchens außerstande war, bei der regelmäßigen Gesangstunde eines der fröhlichen Studentenlieder mitzusingen. Als er bei der nächsten Versammlung, anstatt bereuend zu Kreuze zu kriechen, eine donnernde Rede gegen die unerhörte Sklaverei hielt, der er als freier Bursch ausgesetzt sei, wurde sein Mitschuldiger freigesprochen, er aber mit einer Rüge bestraft. Er verließ die Versammlung, tat sein grün-weiß-rotes Band säuberlich in ein Briefkuvert, legte seine Austrittserklärung dazu und war - frei!

Hierzu hat ein Tübinger Corpsstudent, H. Fortmann, in der Deutschen Corpszeitung vom November 1990 erklärt, daß die Niederlegung des Corpsbandes einen Eidbruch bedeute, der nicht nur "moralisch verwerflich" sei, sondern auch juristisch einen Straftatbestand darstelle! Von dem Eid, der mit der Verleihung des Bandes geschworen wird, könne nur das Corps selbst, vertreten durch den "F.C.C." ("Feierlichen Corps-Convent°), zwangsweise oder auf Vereinbarung, entbinden! Ein Corps sei kein "Verein", aus dem man nach eigenem Belieben austreten könne! Wenn diese Ansicht richtig sein sollte, hätte ich selbst mich vor etwa 30 Jahren "moralisch verwerflich" verhalten und "strafbar" gemacht, als ich mein Band niederlegte, weil das Verhalten eines Corpsbruders gegen die Begriffe Ehre, Treue, Brüderlichkeit und Fairness auf das Gröbste verstieß, ohne daß der Alt-Herren-Verein des Corps bereit war, sich von ihm zu trennen. Ich sah darin, vielleicht in unnötiger Empfindlichkeit, einen Mangel an Solidarität mit mir, obwohl die Mehrzahl der Corpsbrüder meine Ansicht teilte, daß dieser Mann eine querulatorische Persönlichkeit, für unsere Gemeinschaft unerträglich geworden war. Ich habe meinen etwas überzogenen Entschluß später revidiert und mein Band wieder angelegt, nachdem jener Ruhestörer sich selbst von uns getrennt hatte.

Ich erwähne dies, um darzutun, daß eine rigorose Auffassung wie die des Herrn Fortmann im Widerspruch zum Recht des Einzelnen steht, seinem Gewissen folgend, über Verbleib oder Nicht-Verbleib im Corps zu entscheiden. Der Eid mag zwar an die Korporation binden, aber er entbindet nicht vom eigenen Gewissen, und es ist eine unzulässige Anmaßung, wenn die Freiheit des Mitgliedes, auch ohne "F.C.C."-Beschluß sein Band zurückzugeben, als "unmoralisch" oder als "Straftatbestand" verurteilt wird!

Eine solche Einstellung widerspricht auch dem alten preußischen Grundsatz der Toleranz und der Achtung vor dem "freien Ungehorsam" gegenüber der Staatsdoktrin. Die Generäle von SeydIitz und Yorck von Wartenburg, die aus eigener Verantwortung dem Befehl des Königs zuwider handelten und dabei ihren Kopf riskierten, der Domänenpächter Wilhelms II. in Cadinen, der den Kaiser mit Erfolg verklagte und seinen Prozeß in drei Instanzen gewann, weil dieser ihn öffentlich in seiner Berufsehre beleidigt hatte, um ihn aus dem Pachtverhältnis vorzeitig entlassen zu können (!) - diese und andere Beispiele bezeugen eine Haltung, die der Obrigkeit kein absolutes Recht zubilligt, sich über die Unabhängigkeit des Einzelnen hinwegzusetzen! Es ist Hans-Joachim Schoeps als Historiker Preußens zu verdanken, das Zerrbild des Preußentums vom "Kadavergehorsam", Militarismus, Junkertum usw. als Verfallserscheinungen der Wilhelminischen Zeit dargestellt und das "Janusgesicht Preußens", dieses "gleich zu hassenden und sehr zu liebenden Preußen", wie Theodor Fontane es nannte, klar herausgearbeitet zu haben.

Gegenüber den oben angedeuteten menschlichen Unzulänglichkeiten, die zum corpsstudentischen wie zu jedem anderen Zusammenleben gehören, hat sich für mich doch immer wieder der Geist der Treue als der eigentliche innere Wert des Corps erwiesen. Ich habe dies in einem Dankesbrief zu meinem 80. Geburtstag an die "Vereinigung der Angehörigen des Corps Littuania" zum Ausdruck zu bringen versucht: "... Wenn man die im 90. Psalm vorgesehene Höchstgrenze menschlichen Daseins überschritten hat, ist es Zeit, Bilanz zu ziehen: Ergebnis: Manches Erreichte blieb hinter dem Erstrebten zurück. Aber: ,O blicke nicht nach dem, was jedem fehlt! Betrachte, was noch einem Jedem bleibt!', sagt Leonore zur Prinzessin in Goethes ,Tasso'. Was bleibt? Die Dankbarkeit für ein Leben im Dienste des Helfens und für das Geschenk der Freundschaft, Treue und Liebe. Zu diesem Geschenk gehört auch die Treue, die mich mit der alten, lieben Littuania verbindet ..." Die alte Treue ist es, die sich gerade auch in unserem späteren Leben erweist, wenn wir uns beim winterlichen Stiftungsfest in Hamburg und beim sommerlichen Heidetreffen zusammenfinden. Es ist die. Vertrautheit mit Menschen aus der ostpreußischen Heimat, die Gemeinsamkeit der Erinnerung, die innere Nähe, die uns im Grunde mehr verbindet als die zufällige äußere Zugehörigkeit zum Corps - ohne die es allerdings nicht zu dieser menschlichen Beziehung gekommen wäre. Bei unserem 155. Stiftungsfest, 1984, sagte unser späteres Ehrenmitglied Dr. jur. Carl Theodor Peicher in seiner Festrede treffend, in einem Zeitwandel von unerhörten Ausmaßen habe sich eine Idee, vor 155 Jahren geboren, durchgesetzt und bewahrt, eine Idee der Treue, der Verantwortlichkeit und der Hingabe, eine Idee "von solcher Irrationalität, daß sie zum mindesten in unserem so ,vernünftigen' Zeitalter schon längst hätte untergehen müssen." "Das so Unbegreifliche ist offenbar stärker und beständiger als äußere Macht, wirtschaftlicher Erfolg und technischer Fortschritt."

Daß das Corps eine "Gemeinschaft von Individualisten" ist, zeigt sich am Beispiel von Männern so unterschiedlicher Geistesart, weltanschaulicher, politischer Richtung und biographischer Entwicklung, die einmal Corpsstudenten waren, wie: Karl Marx (!), Egon Erwin Kisch, Otto Fürst von Bismarck, Wilhelm Liebknecht, Theodor Körner, Justus von Liebig, Wilhelm Freiherr von KetteIer (Erzbischof), Alfred Brehm, Emil von Behring, Gottlieb Daimler, Alfred Herrhausen, Hanns Martin SchIeyer, Graf von der Schulenburg (Widerstandskämpfer gegen Hitler), und schließlich Wilhelm II. von Preußen, Deutscher Kaiser. Auch Walter Eucken, der mit seinen "Grundlagen der Nationalökonomie" die theoretische Basis der sozialen Marktwirtschaft geschaffen hat (er wird jetzt, 1991, mit einer Briefmarke der Deutschen Bundespost geehrt) war als Kieler Sachse Corpsstudent, hat aber aus Protest und aus Solidarität mit seinem Bruder, dem wegen seiner jüdischen Ehefrau der Austritt aus dem Corps nahegelegt worden war, 1935 das Band niedergelegt!


Medizinstudent in Heidelberg

Die Wahl des Medizinstudiums war für mich nicht nur durch den Beruf meines Vaters motiviert, sondern auch durch ein frühzeitiges Interesse an "sozialhygienischen" Problemen und an der sozialen Seite der Alkoholfrage. Seltsamerweise hatte ich schon als Schüler der oberen Klassen den Wunsch, später einmal "Honorarprofessor für Sozialhygiene" zu werden, nicht ahnend, daß mir dann tatsächlich eine Honorarprofessur für Psychiatrie mit sozialpsychiatrischer Orientierung an der Medizinischen Hochschule Hannover übertragen werden sollte. So können spätere Linien des Lebens schon im Vorbewußtsein vorgezeichnet sein! Auch von den in den zwanziger Jahren Aufsehen erregenden konstitutionstypologischen Veröffentlichungen ("Körperbau und Charakter") des Psychiaters Ernst Kretschmer fühlte ich mich lebhaft angesprochen. In den ersten drei Königsberger Semestern trat das Studium allerdings hinter den corpsstudentischen Verpflichtungen ziemlich kläglich zurück. Ich beschloß daher, das Versäumte nachzuholen und mit meinem Corpsbruder Frank Borchert und dem Segen unserer Eltern nach Heidelberg zu gehen, um dort das Nützliche einer intensiven Vorbereitung auf das medizinische Vorexamen ("Physikum") mit dem Angenehmen des vielbesungenen und noch unverfälschten "Alt-Heidelberg" zu verbinden. Physik wurde von dem Nobelpreisträger Philipp Lenard gelehrt, einem genialen Experimentator und Entdecker der Kathodenstrahlen, aber auch glühenden Judenhasser und Bewunderer Adolf Hitlers und Alfred Rosenbergs. Lenard pflegte nur solche Studenten selbst zu prüfen, die er, ihrem Aussehen und ihrer Körpergröße nach als "arisch" gelten ließ! Die Anderen mußten sich mit der Prüfung durch seinen Oberassistenten und späteren Nachfolger Professor August Becker begnügen, was nicht unbedingt einen Nachteil bedeutete, da sein Chef als der weitaus strengere Prüfer gefürchtet war. Zur rassischen Beurteilung ließ Lenard sich die Kandidaten persönlich vorstellen. Mich würdigte er trotz brauner Augen und dunkler Haarfarbe (Erbteil meiner Mutter) des zweifelhaften Vorzuges, zur Prüfung durch ihn zugelassen zu werden, wobei meine Körpergröße von 1,80 m als arisierend-mildernder Umstand gewirkt haben mag. Lenards Antisemitismus hatte sich auf Albert Einstein konzentriert, dessen Relativitätstheorie er als "Judenbetrug" bezeichnete und, im Widerspruch mit seiner eigenen "Aethertheorie" stehend, als "unbewiesene Hypothese" abtat. Es störte ihn nicht, daß die Gültigkeit der Einsteinschen Theorie mit der experimentell unwiderlegbare Formel E = mc2 bewiesen und von der großen Mehrzahl der theoretischen Physiker anerkannt war. Sie schien zudem auch durch eine totale Sonnenfinsternis in den Tropen (im Mai 1919) "bis zu einem gewissen Grade" empirisch bestätigt zu sein. In seinem fanatischen Judenhag verstieg Lenard sich soweit, daß er unverhüllt die Beseitigung Walter Rathenaus forderte und nach dessen Ermordung sich weigerte, die für den 27. Juni 1922, den Tag seiner Beerdigung, angeordnete Staatstrauer einzuhalten! Als er es ablehnte, die Flagge des Heidelberger Physikalischen Universitäts-Institutes auf Halbmast zu setzen, "wandte sich der sozialdemokratische Vorsitzende der Studentenschaft an die Gewerkschaftsführer, die ihre Mitglieder mobilisierten und zum Institut marschierten, um mit Lenard zu sprechen". Sie wurden vom zweiten Stock her aus einem Schlauch mit kaltem Wasser begossen, worauf sie in das Institut eindrangen, geringen Sachschaden anrichteten und Lenard zwangen, mit ihnen "unter Begleitung einiger Polizisten" zum Gewerkschaftshaus zu gehen. Unterwegs "wurden Rufe laut, die forderten, der Professor solle in den Neckar geworfen werden" - eine Legende, die ihn beinahe zum Märtyrer gemacht hätte und noch zu meiner Zeit - fünf Jahre später, 1927, - umging. Um die Menge zu beschwichtigen, wurde Lenard in Schutzhaft genommen, aber noch am selben Abend entlassen. Dieser Vorfall hatte einen großen Einfluß auf sein späteres Leben: Er betrachtete ihn einerseits als eine ihn schwer erniedrigende Beleidigung, andererseits aber - im Sprachgebrauch des Nationalsozialismus - als ein "Ehrenzeichen". Der akademische Senat untersagte ihm bis auf weiteres, das Institut zu betreten. Aber seine Studenten sammelten 600 Unterschriften für eine Eingabe, mit der seine Studenten sammelten 600 Unterschriften für eine Eingabe, mit der seine Wiedereinsetzung durch das Badener Kultus- und Unterrichtsministerium gefordert und auch erwirkt wurde. Als das Ministerium wegen seiner Weigerung, die Staatstrauer für Rathenau einzuhalten, ein Disziplinarverfahren gegen ihn einleitete und ihn mit einer schriftlichen Rüge bestrafte, reichte er seinen Rücktritt ein. Er beschloß jedoch nach einer erneuten Unterschriftensammlung seiner Studenten und Mitarbeiter, die seine Wiedereinsetzung forderten, im Amt zu bleiben, und so habe ich ihn als wissenschaftlich weltberühmten und politisch rechts-radikalen Universitätslehrer kennen gelernt. Seine Vorlesungen waren immer sorgfältig vorbereitet und mit "bühnenreif" zelebrierten Demonstrationen, durch Erzählungen von großen naturwissenschaftlichen Entdeckungen gewürzt, höchst eindrucksvoll und lebendig. Einer seiner Assistenten, Ramsauer behauptete, Lenards Persönlichkeit und seine Unterrichtsmethoden vermittelten in dem riesigen Hörsaal das Bild eines "Priesters der Physik"! Dabei entsprach dieser "Priester der Physik" in Aussehen und Gestalt - dunkelhaarig, schmächtig, höchstens mittelgroß - keineswegs seinem rassistisch geprägten Ideal eines arisch-nordischen Menschen. Eine jüdische Studentin, die in der obersten Reihe des Hörsaals - sie kam wie ich bisweilen zu spät - neben mir zu sitzen pflegte, mokierte sich zu mir darüber und las während der Vorlesung Lenards den vor kurzem (1926) erschienenen Roman "Der Teufel" des jüdischen Autors Alfred Neumann. Die Vorfälle um das Staatsbegräbnis für Rathenau und vollends ein Freispruch des sozialdemokratischen Vorsitzenden der Studentenschaft trieben Lenard "immer mehr in die Arme der Nationalsozialisten". Sein Laboratorium wurde zum "Zentrum rechtsradikaler Politik". In einem überschwenglichen Huldigungsschreiben bekannte er sich öffentlich zu HitIer und seiner Bewegung, wobei er sich nicht scheute, den "Geist des Führers und Ludendorffs (!)mit dem Galileis, Newtons, des Führers und Ludendorffs (!)mit dem Galileis, Newtons, Keplers Faradays zu vergleichen - ungeheuerliche Entgleisung eines genialen Forschers und fanatischen Psychopathen in einer Person! Im Jahre 1928 besuchten Hitler und sein Stellvertreter Heß ihn nach einer Rede in seiner Heidelberger Wohnung zu einem Gespräch über die "germanische religiöse Bewegung", das Lenard als "eines der denkwürdigsten Ereignisse meines Lebens!" bezeichnete. Sein kritikloser Antisemitismus hatte ihn dazu hinreißen lassen, gegen die Verleihung des Nobelpreises an Einstein beim Nobelkomitee zu protestieren! Die Vorliebe für Theorien und Abstraktionen stempelte er als "englisch" und "jüdisch" und damit als "natur- und wissenschaftsfremd" ab. Der Arier beuge sich vor der Natur in Bescheidenheit und Demut, während der Jude anmaßend und überheblich auf sie herabsehe! Nun - den "Arier" Lenards scheint die Natur nicht gerade mit den Gaben der Bescheidenheit und Demut ausgestattet und vor "jüdischer" Anmaßung und Überheblichkeit bewahrt zu haben! Psychologisch interessant ist immerhin, daß sich bei ihm ein rivalitätsmotiviertes Ressentiment gegenüber Einstein mit der Bereitschaft zu fanatischer Aggressivität verbunden und in kritikloser, alle rationalen Sicherungen durchschlagender und ehthischen Gegenmotive aufhebender Feindseligkeit abreagiert hat. Wenn Lenards die Vorliebe für Theorien und Abstraktionen für "jüdisch" und "wissenschaftsfremd" hielt, so hatte er die Tatsache verdrängt, daß er sich, um seinen jüdischen Rivalen zu bekämpfen, als sogenannter "Arier" selbst einer wissenschaftsfremden Theorie und Abstraktion bediente, nämlich der nationalsozialistischen Rassenlehre! Erstaunliche Selbsttäuschung eines großen Naurwissenschaftlers und bedeutenden Universitätslehrers! Sein Judenhaß verband sich mit heftiger Polemik gegen alles Englische  - ein Vorurteil, dem auch ein anderer Nobelpreisträger und Hitler-Bewunderer anhing: Knut Hamsun!

"Arische Physik"


Lenard wurde dann zusammen mit dem Nobelpreisträger für Physik Johannes Stark und einer kleinen Gruppe von Gefährten zum Begründer der "arischen", "nordischen" oder "deutschen" Physik, eines nie genau definierten weltanschaulichen Systems, dessen Anhänger behaupteten, jede Forschungsarbeit auf dem Gebiete der Physik sei direkt vom rassischen Erbe des Beobachters beeinflußt! Jene berühmte Einsteinsche Formel sei - nach Lenard - in Wirklichkeit keine jüdische, sondern die arische Schöpfung eines nicht-jüdischen Physikers, des Österreichers Friedrich Hasenöhrl, eines im Ersten Weltkriege gefallenen - Vorläufers Einsteins, dem er das Format eines Galilei, Newton, Faraday, Darwin zubilligte! Die "arische Physik" verkündete ein Weltbild, in dem die Vorstellungen Lenards vom "Äther" und "Uräther" einen wichtigen Raum einnahmen. Mit diesen verschwommenen Begriffen wollte er eine "mechanische", aber nicht materialistische Naturanschauung begründen und die Verbindung zwischen Materie und Geist wiederherstellen. Einer seiner begabtesten Schüler, der Experimentalphysiker Tomaschek, berief sich hierbei - ausgerechnet! - auf die rassentheoretische Autorität eines Engländers, nämlich Houston Stewart Chamberlains als Quelle einer "germanischen Naturforschung"! Mit der strikten Ablehnung der von Planck , Heisenberg , Schrödinger, Bohr, Sommerfeld entwickelten neuen Atomtherorien und der Einführung irrationaler und indeterministischer Konzeptionen gedachte die "arische Physik" das Experiment und die Beobachtung in den Naturwissenschaften mit völkischem, und das heißt: romantischem Denken zu verbinden. Damit sollte zugleich die Vorherrschaft der Technik bekämpft und das jüdische Profitstreben in der Überindustrialisierung Deutschlands angeprangert werden! Denn nach Chamberlains "Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts" beruhe das Wesen arischer Forschung auf dem Experiment und der Beobachtung als dem "breiten, felsenfesten Fundament germanischer Wissenschaft"! Es war, so gesehen, konsequent, wenn dien arische Physik" den mechanistischen Materialismus als den Unterbau des "jüdischen Marxismus" vehement bekämpfte.

Ungeachtet der Tatsache, daß ihre Grundsätze voller, sich gegenseitig aufhebender Widersprüche und ihre Repräsentanten zum Teil zerstritten waren, verfolgte die "arische Physik" seit 1935 ein klares politisches Ziel: Wissenschaftliche Gegner als "jüdisch" denkend in Mißkredit zu bringen und ihre eigenen Gefolgsleute in akademisch einflußreiche Stellen zu lancieren. Dies geschah denn auch mit wirksamer Unterstützung durch Alfred Rosenberg und Teile der SS! Zu den Opfern dieser Politisierung der Physik gehörte Werner Heisenberg, den Stark auf infame Weise als "Geist von Einsteins Geist" verunglimpft hatte.

(Ich entnehme diese und andere geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Einzelheiten zu den verhängnisvollen Abwegen einer ihrem Wesen nach exakten Wissenschaft dem wichtigen, überaus gründlich dokumentierten, in deutscher Ausgabe 1980 erschienenen Buch eines Historikers an der Ohio State University in Columbus, USA, Alan D. Beyerchen: "Wissenschaftler unter Hitler-Physiker im Dritten Reich". Der Autor bezieht sich hierbei im besonderen auch auf Lenards grundlegendes vierbändiges Werk "Große Naturforscher' (1929), das in 65 biographischen Skizzen den Nachweis erbringen soll, daß "die großen wissenschaftlichen Leistungen ausnahmslos auf Persönlichkeiten arisch-germanischer Rassenherkunft zurückgingen"! Alles in allem lehrreich - warnende Beispiele für die Nachwelt angesichts heute nicht minder gefährlicher Wahrheits- und Machtansprüche einer Ideologisierung und Politisierung der Wissenschaften!)

Heidelberger Ordinarius für Chemie war zu meiner Zeit - im Wintersemester 1926127 - Karl Freudenberg , ein ebenfalls bedeutender Forscher und hervorragender, aber von uns Studenten wegen seiner Strenge bei der Prüfung gefürchteter Lehrer. Er ließ regelmäßig mindestens die Hälfte der Physikumskandidaten durchfallen. Als Lenard nach dem Kriege vor eine Spruchkammer gebracht werden sollte, setzte Freudenberg sich als amtierender Rektor der Universität mit Erfolg dafür ein, daß er verschont wurde, weil es "unehrenhaft wäre, den betagten Physiker zu demütigen"! Seinen und Lenards Vorlesungen habe ich die Einführung in die Grundlagen der Physik und Chemie zu verdanken, von denen allerdings nicht sehr viel haften geblieben ist. Aber in den Praktika, an denen man teilnahm, um im Examen besser abzuschneiden, lernten wir selbst zu experimentieren. Sonst sind mir aus der Heidelberger Studienzeit nur die Persönlichkeiten der Anatomen KaIIius und Hoepke in lebendiger Erinnerung geblieben. Geheimrat KaIIius, eine vornehme Erscheinung von gütigem, feinsinnigem Wesen, Meister in der dozierenden Vermittlung und künstlerischen, mit bunten Kreiden an die Tafel geworfenen Einzeldarstellungen des menschlichen Körperbaus, erfreute sich bei uns, nicht zuletzt auch als milder Prüfer, ungeteilter Beliebtheit. Wohl weniger wegen meiner Detailkenntnisse als einer sorgfältigen Präparation des Ganglion spheno-palatinum bedachte er mich mit einer "Eins" im Physikum, mit der die "Zweien" in den anderen Fächern gekrönt wurden. KaIIius war ein Bewunderer des Schönheitsprinzips, das sich im Aufbau der Gewebsstrukturen und Zellverbände ausdrückt. Schon als Schüler habe ich einzelne Zellformen und die verschiedenen Arten von Blutzellen mit Feder und Tusche gezeichnet und in der allerfrühestens wissenschaftlichen Arbeit meines Lebens unter dem Titel "Die Zelle als Baustoff des Lebens - ihre Entstehung, Organisation, Leistung und ihre Ausbreitung im Weltenraum als Theorie" meinen Eltern zum Weihnachtsfest 1924 gewidmet. Daher bedeutete mir die Arbeit im Präpariersaal bei KaIIius eine willkommene Erweiterung meiner anatomischen Interessen, mit der das ziemlich eklige Herumschneiden an Leichen - Köpfen und Körperteilen (ich besitze noch Photographien von diesem schaurigen Tun!) einem praktisch-wissenschaftlichen Zweck dienen und sogar noch ästhetisch sinnvoll erscheinen konnte! Ich sehe KaIIius noch vor mir, wie er das leider mißlungene Ergebnis der Präparierübung eines Studenten betrachtete und mit Trauer in seiner tiefen, wohlklingenden Stimme beklagte: "Herr Kollege (so redete er uns junge Adepten an)! Die schöne Fascie (die sehnig-faserige Bindegewebshaut, die Muskeln und Muskelgruppen umgibt), dieses Wunderwerk der Natur, haben Sie mir roher Hand zerstört! Gott verzeihe es Ihnen!"

Während ich KaIIius verehrte, liebte ich geradezu seinen Oberassistenten, den damaligen Privatdozenten Hermann Hoepke, der mit uns Studenten wie ein älterer Bruder umging. Es wäre absurd gewesen, in ihm einen jener Hochschullehrer zu sehen, die bei der Studentenrevolte Ende der sechziger Jahre als "Träger von Talaren mit dem Muff von tausend Jahren" geschmäht wurden, oder ihn etwa später, als ihm von den Nationalsozialisten wegen seiner jüdischen Frau die Lehrbefugnis entzogen worden war und er als schlichter praktischer Arzt in der Heidelberger Altstadt wirkte, einen "Halbgott in Weiß" zu nennen! Ich erinnere mich an einen lustigen Ausflug, den er mit unserer Examensgruppe nach Frankfurt unternahm. Er nannte mich immer "Jauz", weil er das handschriftliche "n" meines Namens als "u" gelesen hatte. Ich will ihm immer noch ein paar Zeilen der Erinnerung und des Dankes schreiben - in der Hoffnung, daß es dazu nicht zu spät ist. Denn er hat inzwischen - 1991 - ein Lebensalter erreicht, bei dem, wie es von dem alten Adenauer hieß, "mit seinem Ableben nicht mehr zu rechnen ist!: Mit 102 Jahren(!) soll er täglich noch behenden Schrittes und ohne Stock in Heidelberg spazieren gehen! Hermann Hoepke ist als "Altstadt-Doktor" und Stadtrat zur Legende der Stadt geworden, von den Bürgern hoch geachtet wegen seiner Verdienste um die Sanierung der Altstadt, von den Patienten verehrt wegen der Güte seines Herzens, von den Kollegen gewürdigt wegen seiner wissenschaftlichen Leistungen, namentlich der Erforschung der körpereigenen Abwehrkräfte gegen den Krebs durch das lymphatische System, 1976 ausgezeichnet mit der höchsten Ehrung, die von der Deutschen Ärzteschaft vergeben wird: Der Paracelsus-Medaille! Nach fünfjährigem Verbot der Lehrtätigkeit wurde er 1945 auf den Lehrstuhl für Anatomie der Universität Heidelberg als Nachfolger seines Lehrers KaIIius berufen. In der "köstlichen Muße des Ruhestandes", wie er schreibt, hat er Homers "Odyssee" und Ilias'' in Distichen übertragen. Schillers "Spaziergang", in Distichen verfaßt, hatte ihn angeregt, anstelle des umständlichen, mit Füllwörtern beladenen, gestelzt wirkenden deutschen Hexameters der rhythmischen Wechsel von Hexametern und Pentametern zu wählen, um den Vers; wie Rudolf Hagelstange in einer Besprechung der Hoepkeschen "Ilias"-Obertragung gesagt hat, lesbarer (wohl auch vor-lesbar!) und "moderner" zu machen. Hoepkes Neufassung der Odyssee" ist mir in einer vom Witzstock-Verlag prächtig ausgestatteten, mit Holzschnitt von Frau Hella Ackermann bereicherten Ausgabe von meiner Nichte Juliane zum siebzigsten Geburtstag geschenkt worden. Ich lese immer wieder gerne darin und wünschte, Homers epische Gesänge mögen mehr gelesen werden, wenn sie auch heute keine Aussicht haben, "die größte Verbreitung" zu finden, die sie bereits im 7. nachchristlichen Jahrhundert ein halbes Jahrtausend hindurch genossen hatten. "Seit dem fünften Jahrhundert war Homer Schulbuch, aus dem die Kinder Religion und Geschichte lernten, und als Zitatenschatz (auch schon als parodistischer) in aller Munde", schreibt Egon FriedeII, von Hermann Hoepke in einem Vorwort zu seiner "Odyssee"-Übertragung zitiert.

An der Heidelberger Universität lag in den zwanziger Jahren "ein geistiges Fluidum in der Luft", das von der geisteswissenschaftlichen Fakultät auch in die juristische und theologische, ja, selbst in die medizinische Fakultät weiterwirkte", das schreibt der große Archäologe Ludwig Curtius in seinen Lebenserinnerungen "Deutsche und antike Welt". Ich brauche außer ihm selbst nur die Namen Max und Alfred Weber, Karl Jaspers, Heinrich Rickert, Hermann Oncken, Gustav Radbruch, Ernst Robert Curtius (mit Ludwig nicht verwandt) und nicht an letzter Stelle Friedrich GundoIf zu nennen. Ludwig Curtius berichtet anschaulich von Besuchen Max Schelers , des Grafen Hermann Keyserling, Hugo von HofmannsthaIs in Heidelberg und spricht von der geistigen Verbundenheit mit früheren Studenten, die auf dem "Heidelberger Geist" beruhte, auf der "idealistischen Weltoffenheit für alle Probleme des modernen Lebens und auf dem Gefühl persönlicher Verantwortlichkeit ihnen gegenüber". Dies sei "die besondere Leistung dieser Universität" gewesen, und deshalb sei keine andere deutsche Universität durch die nationalsozialistische Revolution so hart getroffen worden wie sie!" Nach 1933 gab es in Heidelberg zwei Ruinen, oben die des Schlosses, unten die der Universität!"

Da ich von den Vorbereitungen zum Physikum erheblich in Anspruch genommen war, mußte ich mich darauf beschränken, von dem "Heidelberger Geist" wenigstens einen Hauch zu verspüren: Es waren die Shakespeare-Vorlesungen Friedrich GundoIfs.

Was er vortrug, weiß ich im einzelnen nicht mehr. Aber wie er war und wirkte, ist mir in lebendiger Erinnerung geblieben, etwa so, wie Ludwig Curtius ihn schildert: ,Seine schlanke, große Erscheinung, die in dem blassen, glattrasierten, schmalen, ebenmäßigen Gesicht die jünglingshafte, beinahe griechische Schönheit bis zu seinem allzu frühen Tode nicht verlor, hatte in seinem rasch dahineilenden Gang etwas eigentümlich wehend Flüchtiges, als ob er nicht ganz zu dieser Welt gehörte und über sie ,hinwegschwebte'. "Der eigentliche Motor in ihm war die wirkliche dichterische Sehnsucht, die er in seinem Lehrer Stefan George erfüllt sah, der er auch in seinen letzten Jahren in zahlreichen lyrischen Gedichten Ausdruck verlieh, zu denen er, sich selbst ironisierend, bemerkte: ,Ich dicht' halt zu gerne!' Aber dem reinen und wirklichen Dichtersein stand in ihm sein eigener, bedeutender, rationaler, heller Verstand im Wege, der es genoß, das Wesen einzelner dichterischer Persönlichkeiten oder einzelner Schöpfungen in möglichst knappen aber zugleich umfassenden Begriffen zu charakterisieren."

Gerne wäre ich noch ein weiteres Semester in Heidelberg geblieben, um ohne Examensdruck GundoIf, Jaspers, Alfred Weber zuhören. Schweren Herzens mußte ich Abschied nehmen, einem unwillkommenen Gebot meines Corps folgend, zusammen mit Frank Borchert bei dem Münchener Corps "Makaria" ("Glückseligkeit") aktiv zu werden. Wir hatten gemeinsam im "Prinz Karl", einem ehemaligen Hotel am Fuße des Schloßberges, gewohnt. Unsere Wirtin war Frau Bensemann, eine rundlichfreundliche Witwe mit rothaariger, von uns nicht begehrter Tochter. Vom Corpsleben haben wir außer gelegentlicher Teilnahme an Kneip-Abenden der "Rhenania" nicht viel wahrgenommen. Etwas von der alten Heidelberger Studenten-Romantik war noch im "Seppl" übrig geblieben, dem berühmten Studentenlokal mit den an der Decke hängenden, von übermütigen jungen Leuten abmontierten Straßenschildern, Verkehrszeichen, Hinweisen wie mit dem aus einem Friseurladen entwendeten Text: "Am Samstag werden meine verehrlichen Kunden hinten rasiert!" Als vornehmstes Corps, fast nur aus Adligen bestehend, galt die "Saxo-Borussia", deren Mitglieder sich durch betont saloppe Kleidung und provozierendes Verhalten von den weniger feudalen Verbindungen unterschieden - frühe Vorläufer der als ideologisch motivierter Bürgerschreck agierenden Jugendlichen der späten sechziger Jahre!

Mit einem "Veni - vidi - vici. Cand. med. sine cauda" - Telegramm an meine Eltern konnte ich das Ergebnis des Heidelberger Semesters verkünden, nachdem mir auf dem Wege zum Zeugnisempfang auf der Neckarbrücke eine irrtümlich unheildrohende schwarze Katze über den Weg gelaufen war!

Über dem Portal des Anatomischen Institutes der Heidelberger Universität stehen die Worte des "Pfarrers" aus Goethes "Hermann und Dorothea", die sich mir als fast immer passendes Zitat für Kondolenzbriefe eingeprägt haben: "...

Lächelnd sagte der Pfarrer: Des Todes rührendes Bild steht, Nicht als Schrecken dem Weisen, und nicht als Ende dem Frommen. Jenen drängt es ins Leben zurück, und lehret ihn handeln, Diesem stärkt es, zu künftigem Heil, im Trübsal die Hoffnung, Beiden wird zum Leben der Tod...."

Die weiteren Worte pflegen nicht hinzugefügt zu werden, sind aber des Zitiertwerdens nicht weniger wert:

..."Der Vater mit Unrecht

Hat dem empfindlichen Knaben den Tod im Tode gewiesen.

Zeige man doch dem Jüngling des edel reifenden Alterns

wert, und dem Alter die Jugend, daß beide des ewigen Kreises

Sich erfreuen und so sich Leben im Leben vollende!"

München

 

In München wurden Frank (aus unerfindlichen Gründen "Kaki" genannt) und ich als Nordlichter von den vorwiegend bayerischen Makaren mit ungezwungener Kontaktbereitschaft, ja Herzlichkeit empfangen, die uns die Umstellung erleichterte. Man freute sich, keine Animosität zwischen Preußen und Bayern spüren zu müssen, und die erst vor kurzem angeknüpfte "corpspolitische" Freundschaftsbeziehung Littuania-Makaria trug dazu bei, daß wir Ostpreußen uns mit den Bajuwaren dank gemeinsamer Wesenszüge vorzüglich verständen. Die Trinkerei hielt sich selbst beim Oktoberfest in Grenzen. Unser Corpshaus, Platzl 6, stand zwar unmittelbar neben dem Hofbräuhaus, aber der Bierkonsum erfuhr dadurch keine Steigerung, da wir diese altbayerische Volkstrinkstätte so gut wie nie aufsuchten. Im Februar 1928 wurde zum erstenmal seit dem Ersten Weltkriege wieder das Faschingsfest gefeiert, ein denkwürdiges Ereignis, an dem ich mich in der tiefenpsychologisch aufschlußreichen Kostümierung eines Athleten mit dick ausgestopften Armmuskeln und einem Schild mit der Drohung beteiligte: "Man bitet den Atleten nicht zu neken! Er beist!" So zog ich durch die Straßen Münchens, die Bräus und Festsäle. In dem langen Festumzug, der sich durch die Innenstadt bewegte, kamen noch die Nachwirkungen des Versailler Vertrages symbolisch zum Ausdruck: Der deutsche Michel als Dukatenesel, aus dessen Hinterteil die Reparationsmünzen kullerten! Höhepunkte des Faschings waren für mich die Kostümfeste im Deutschen Theater und ein von der Preußischen Gesandtschaft in Bayern - das gab es noch! - veranstalteter Ball in sämtlichen Räumen der Schack-Galerie. Den Vorzug einer Einladung zu dieser exklusiven Veranstaltung verdankte ich den Eltern eines Münchener Corpsbruders, die zu der kultivierten Gesellschaft der Stadt gehörten, der Vater als Kunsthistoriker und Privatgelehrter, die Mutter als hochgebildete, geistreiche Jüdin, der Sohn als künstlerisch begabter angehender Architekt, originell, elegant und erfreulich unbürgerlich, aber konservativ, ohne bohemienhafte Züge. Die Tochter, warmherzig, liebenswert, ein charakterlich untadeliger, prächtiger Kamerad, zu allen Faschings- und Corps-Munterkeiten aufgelegt, begleitete mich mit Eltern und Bruder auch auf diesem Kostümball in der Schack-Galerie, die sich mit verhängten Gemälden, Weißwurst-Ständen und Bierzelten seltsam zweckentfremdet ausnahm. Die Freundschaft mit dieser Familie, der Zauber der Stadt, nicht zuletzt der freie Geist und die Beschwingtheit des Corpsiebens ließen München an mein Herz wachsen. Mit Königsberg, Berlin und Hamburg ist es meine liebste Stadt in Deutschland geworden und - mit Ausnahme des sowjetisch verfremdeten Königsberg - geblieben. "München leuchtete" - nicht nur, wie in Thomas Manns "Gladius dei" -, es leuchtet heute immer noch in mir: in den Bildern der Erinnerung und in der Freude an unseren Besuchen zur Adventszeit mit dem Christkindlmarkt und dem riesigen Weihnachtsbaum am Marienplatz, mit den Kirchen, den Pinakotheken und dem AntikenMuseum, mit der Staatsoper und dem Gärtnerplatz-Theater, mit der Residenz, mit dem "Franziskaner" und "Spatenbräu", mit Dallmeyr und dem Bratwurstglöckle am Viktualienmarkt, mit dem Englischen Garten und Nymphenburg.


Ringelnatz

In meiner Studentenzeit gab es noch den "Simplizissimus" in Schwabing mit Joachim RingeInatz. Eines Abends fielen wir in diese berühmte Künstlerkneipe ein, um den "betrunkenen Seemann vom lsarstrand", wie man ihn, sein wahres Wesen und seine dichterische Bedeutung verkennend, nannte, und die berühmte "Simpl"-Wirtin Kathi Kobus zu erleben. Leider war RingeInatz selbst gerade nicht da. Also sprang ich kühn für ihn ein, riß, wie er es zu tun pflegte, ein paar Fetzchen von der papierenen Tapete neben dem kleinen Podium ab und deklamierte " Das Geseires einer Aftermieterin" ("Meine Stellung hatte ich verloren, weil ich meinem Chef zu häßlich bin. Und nun habe ich ein Mädchen geboren, Wo keinen Vater hat und kein Kinn..." - ich kann es heute noch auswendig hersagen). Zur Belohnung für diese improvisierte Aushilfe durfte ich mit der schon im fortgeschrittenen Matronenalter befindlichen Kathi einen Walzer tanzen. Dies empfand ich als Ehre ebenso wie das "Du", mit dem sie mich - allerdings auch jeden anderen Gast - anredete. Ich bin RingeInatz später, 1929, in Königsberg begegnet. Er trug seine Gedichte wie immer im Matrosenanzug vor, mit einem Glas Wein in der Hand und im Seemannsgang schaukelnd. So erwartete es das Publikum. Danach saß er neben uns im "Blutgericht", dem berühmten alten Weinkeller im Königsberger Schloß. Mein Corpsbruder SchIemminger, ein begabter Karikaturenzeichner, warf das spitzwinklige Vogelnasen-Profil des Dichters auf einen Bierfilz und bat ihn um ein Autogramm. RingeInatz überlegte eine Weile, schrieb etwas unter das Bild und reichte es uns zurück. Was lasen wir? "Von Hindenburg"! So war er. Von diesem Vortragsabend im eiskalten Februar 1929 stammt sein Gedicht: "In Königsberg zum zweitenmal Ich wohnte im Hotel Central. Dort war gut hausen. Doch draußen: An Kälte zwei und dreißig Grad. Ich ächzte und ich stöhnte. Ja, Königsberg war stets ein Bad für südwarm weich Verwöhnte. Und weil ein Streik der Autos war, Verfluchte ich den Februar, Was den durchaus nicht rührte. Doch was ich so an Menschen sah, Das war mir hell und war mir nah, So, daß ich Freundschaft spürte. Die Mädchen, die mir's angetan, Die wirkten so wie Walzen Und schmeckten doch wie Marzipan, Nur kräftig und gesalzen. Und sollte es hier einen Sarg, So krumm wie ich bin, geben, So möcht' ich gern in Königsberg Begraben sein und leben." Von seinem Aufenthalt in Königsberg schrieb RingeInatz, der die ersten Gedichte noch unter seinem richtigen Namen Hans Boetticher veröffentlicht hatte, an seine geliebte Frau "Muschelkalk", die Tochter des Bürgermeisters von Rastenburg: "Königsberg war ein Triumph ...Oh, Euer Ostpreußen ist doch besser als Wurzen." (sein Geburtsort bei Leipzig). Mit Frau "Muschelkalk", geborene Lona Pieper, einer fünfzehn Jahre jüngeren Sprachlehrerin, habe ich mich an jenem Münchener Abend anstelle ihres Mannes lange über ihn und über unsere ostpreußische Heimat unterhalten, mit der ihn auch seine aus Tilsit stammende Mutter verband. Zum Münchener Fasching ergab sich bald ein Gesprächsthema: "Muschelkalk" hatte mit ihrem Mann zusammen mehrere Veranstaltungen besucht, für die er eine Menge Ideen zu Dekorationen und Sketchs entwarf wie "Ein Simpl-Abend am Meeresgrund", "Kathi an der Eskimo-Bar" usw. Die Hochzeit war 1920 auch im "Simpl" gefeiert worden. Kathi, eine Traunsteiner Bauerntochter, erfreute sich als ehemalige Kellnerin der "Dichtelei" und nunmehrige Chefin des "Simpl", rigoros und geschäftstüchtig, trotz ihrer Perücke und der vorgerückten Jahre immer noch eines "bestrickenden Charmes" und genoß hohes Ansehen beim Volk der Künstler und Dichter. In einem der vielen Simplizissimus-Lieder auf sie hieß es: " Es gibt auf dem ganzen Globus nur eine Kathi Kobus!" Für junge, unbekannte Dichter, Maler, Tänzer und Sänger wurde sie zur Mäzenin. So auch für den schriftstellernden Anfänger Hans Boetticher, der sich auf dem Wege zu Joachim RingeInatz befand. Für seine Auftritte erhielt er von ihr zwei Schoppen Wein, eine warme Mahlzeit und eine Mark Tagesgage. Als Kathi in ihrer Wolfrathhausener Villa "Kathis Ruh" starb, waren für ihren "Hausdichter" auch die letzten Fäden zerrissen, die ihn noch an München banden. Vorüber die Zeit, da die Simpl-Wirtin ihm ihr Bild in Großformat mit der eigenhändigen Widmung geschenkt hatte: "Meinen (!) Liebling J. R. und seine (!) lieben Fr. Muschelkalk zum fröhlichen Gedenken an die schönen Stunden im Simpl und Kathi Kobus."

Alfred Polgar hat das Wesentliche dieses ViIlon-Nachfahren, eines der letzten Bohemien-Poeten deutscher Sprache, treffend umschrieben: "Dieser unglaubliche Ringelnatz hat den Stein der Narren entdeckt, welcher, wie wunderbar, dem der Weisen zum Verwechseln ähnlich sieht." In der "Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilbersforcemonument", einem seiner "schönsten" Gedichte, sagt "dieser unglaubliche Ringelnatz" von sich und hüllt damit zugleich die Liebe zu seiner Frau in eine zärtliche Skurrilität: "Ich bin etwas schief ins Leben gebaut, Wo mir alles rätselvoll ist und fremd ... Ich bin auch nicht richtig froh. Ich habe auch kein richtiges Herz. Ich bin nur ein kleiner, unanständiger Schalk. Mein richtiges Herz, das ist anderwärts, irgendwo im Muschelkalk." Hermann Hesse nannte ihn einen "adligen Schwärmer edler Art mit einem Dichterherzen und einem kleinen Vogel im ritterlichen Kopf." Paul ClaudeI erkannte in ihm gleichermaßen "Geist, Humor und Herz", und Kurt TuchoIsky schrieb: "Es gibt mitnichten so viele Dichter. Ringelnatz aber ist einer!" Thomas Mann hatte ihn schon 1911 zum Weiterschreiben ermutigt. Er ging später nach Berlin, wo er 1934, mit 51 Jahren, an Lungentuberkulose gestorben ist, einer Erkrankung, die damals in einen Zusammenhang mit Alkoholismus gebracht wurde! Nach 1933 war es still um ihn geworden. Die bayerische Polizei verbot ihm sein Auftreten im "Simpl", seine Bücher wurden zum Teil beschlagnahmt - Opfer eines humorlosen Systems! Zuletzt hatten Freunde, unter ihnen die großen Schauspieler, der Ostpreuße Paul Wegener und die Dänin Asta Nielsen, der Verleger Ernst Rowohlt, die Bildhauerin Renee Sintenis, zu einer Geldspende für den verarmten Kranken aufgerufen. Asta Nielsen (die Berliner sagten: "Ich will ja gar nicht viel seh'n, ich will nur Asta Nielseen!" war ihm schon 1921 im berühmten Berliner Kabarett "Schall und Rauch" begegnet. Er schwärmte für sie. Als "trunkener Seemann" Kuttel Daddeldu hatte er sich ein blaues, von einem Pfeil durchbohrtes Herz mit ihrem Namen auf die nackte Brust unter der Matrosenbluse gemalt. In einem kleinen Kreis, der sich in Wegeners Wohnung zusammenfand, lernte sie in ihm - so schrieb sie in ihrem etwas holperigen Dänisch-Deutsch - "einen der entzückendsten Menschen kennen, die mir je begegnete, von einer charmierenden Atmosphäre umgeben, von einer Takt durchdrungen, der nicht mit Erziehung, sondern nur mit Herz zu tun hat, von einer fast kindlichen Lebendigkeit und eine völlige Mangel an Sentimentalität." Damit hatte sie den Kern seines Wesens getroffen. Hinter dem wilden Mann, dem bezechten Matrosen, den er spielte, dem abenteuernden Seemann, der er einst war, verbarg sich ein poetisch zartes Herz. Seine burlesken Einfälle und kauzigen, nicht immer salonfähigen, aber niemals ordinären Späße bildeten den gleichsam lärmenden Vordergrund einer stillen Nachdenklichkeit und Traurigkeit über das Leid in der Welt und das Fragwürdige der menschlichen Existenz. Er liebte Kinder, Tiere, Pflanzen, die Armen, den Kaktus, seine Schuhsohlen. Er war ein guter Freund, ein großer Liebender, ein Kritiker seiner Zeit und ein Parodist ihrer Machthaber. Seine Toleranz, seine Güte, sein Humor schützten ihn vor Radikalität und revolutionärem Fanatismus. Feinfühligkeit, Ehrlichkeit, Noblesse, eine scheue Frömmigkeit und die Neigung, sich selbst nicht allzu ernst zu nahmen, gehörten zu den liebenswerten Zügen dieses bunten Vogels. Er hatte nicht nur in seinem Profil etwas Vogelhaftes: Eine leidenschaftliche Begeisterung für das Fliegen, eine kindliche Freude am Ballonfahren, ohne daß er jemals Pilot gewesen wäre, ließen ihn traurig werden, wenn er wieder zur Erde zurückkehren mußte. Daher sein Gedichtband "Flugzeuggedanken", 1929 bei Rowohlt, den ich als ähnlich Flugbegeisterter verschlungen habe! Sein Künstlertum äußerte sich auch in seiner Begabung als Maler und Zeichner, von Renée Sintenis, Karl Hofer, dem Galeristen FIechtheim gefördert und durch Ausstellungen und Museen gewürdigt. Sein Stil war Ausdruck einer "naivgenialen Vorstellungskraft", einer "Mischung von Ungeschicklichkeit und Raffinement". Als Motive gestaltete er oft die Verlorenheit und Einsamkeit des Menschen, die "Entrückung aus Raum und Zeit", die Melancholie der Sehnsucht. Als er einmal von der Bardame eines Lokals gefragt wurde, ob er auch "richtige Bilder" male, sagte er: "Nein, ich mal nur unrichtige. Ich forme Gesichter aus Quark, und die Augen setze ich aus Kirschen ein. Das Ganze wird dann auf einem Holzbrett serviert." Er war sehr bescheiden im eigenen Urteil über seine Bilder. Immerhin hängen sie im Münchener Lenbach-Haus, im Berliner Märkischen Museum, im Leipziger Museum für Bildende Künste, im Besitz des bedeutenden Kölner Privatsammlers Paul Haubrich, der uns einmal zusammen mit dem uns nahestehenden Kunsthistorikers Dr. Toni Feldenkirchen besucht hat, als wir noch in Ilten wohnten. Die von Max Liebermann gegründete "Gesellschaft der Kunstfreunde" kaufte auf der Frühjahrsausstellung der Preußischen Akademie der Künste ein Gemälde des malenden Dichters "Elf Uhr nachts" an, ein nächtliches Großstadtmotiv mit einem einsamen Menschenpaar an einer Mauer. Es wurde mit der Aktion "Entartete Kunst" von den NS "Kunst"-Diktatoren entfernt.

RingeInatz war nicht nur der dichterische Erfinder des "Daddeldu, the old sealerbeu Kuttel", einer Gestalt, die wie Wilhelm Buschs "Fromme Helene" und Christian Morgensterns "Palmström" aus dem kaum sehr üppigen Repertoire der deutschen Humor-Poesie nicht mehr wegzudenken ist. Er hat uns auch Verse wie diese hinterlassen: "Es ließe sich alles versöhnen, wenn keine Rechenkunst es will. In einer schönen ganz neuen und scheuen Stunde spricht ein Bereuen so mutig still. Es kann ein ergreifend Gedicht werden, das kurze Leben, wenn ein Vergeben aus Frömmigkeit schlicht sein Innerstes spricht. Zwei Liebende auseinandergerissen: Gut wollen und einfach sein! Wenn beide das wissen, kann ihr Dach wieder sein Dach sein und sein Kissen ihr Kissen." Oder: "Wo wird es bleiben, was mit dem letzten Hauch entweicht? Wie Winde werden wir treiben - Vielleicht!? Werden wir reinigend wehen? Und kennen jedes Menschen Gesicht. Und jeder darf durch uns gehen, Erkennt uns aber nicht ... Wie weit wohl Gottes Gnade reicht. Uns alles zu vergeben? Vielleicht!" Oder: "Trüber Tag": "Zu Hause heulten die Frauen: Das tote Kind sah aus wie Schnee. Wir gingen, nur mein Bruder und ich, in See. Dem Wetter war nicht zu trauen. Wir fischten lauter Tränen aus dem Meer. Das Netz war leer." Seine Kindergebetchen, seine Worte über das Schenken: "Schenke groß oder klein, Aber immer gediegen. Wenn die Bedachten die Gaben wiegen, Sei dein Gewissen rein ... Schenke mit Geist ohne List. Sei eingedenk, daß dein Geschenk du selber bist!" - sie entzücken und erwärmen noch heute mein Herz.

Warum habe ich mich so lange - allzu lange - bei RingeInatz aufgehalten? Warum komme ich von ihm nicht Ios? Er war für uns junge Studenten ein "Moderner", unser heimlicher Sympathisant, ein bizarr-poetischer Rebell gegen das Spießertum. Damals habe ich in mir selbst ein Stückchen bürgerlich verhinderten RingeInatz entdeckt, und dieses Stückchen ist mir bis heute treu geblieben!

(Einzelheiten aus seinem Leben und Werk verdanke ich dem Fischer Büchlein von Helga Bemmann "Daddeldu, ahoi!", Februar 1982).

Nun ist es Zeit, über München nicht nur als Stadt der heiteren und ernsten Muse zu sprechen, sondern auch als Studienstadt. Die Medizinische Fakultät gehörte mit Berlin, Heidelberg, Wien zu den bedeutendsten im deutschsprachigen Raum. Meine Lehrer, der Internist Friedrich von MüIIer, der Chirurg Ferdinand Sauerbruch, der Pathologie-Anatom Borst (Vater des jetzt berühmten Herz- und Thoraxchirurgen an der Medizinischen Hochschule Hannover), der Dermatologe Leo Ritter von Zumbusch waren das, was man Koryphäen nennt. Ich bedauerte nur, daß wir z. B. bei Friedrich von MüIIer zwar vieles Wichtige über die Diagnostik innerer Krankheiten, aber so gut wie nichts über deren Therapie erfuhren. Sauerbruch war damals schon berühmt durch seine Entdeckung des Druckdifferenzverfahrens bei operativen Lungeneingriffen und seine frühen (1904) Untersuchungen zur Operation des Brustraumes, mit denen Erfolge möglich wurden, die zu den größten Errungenschaften der Medizin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählen. Aber er war ein Mann, der anscheinend nicht begriffen hatte, daß Genialität kein Freibrief für schlechtes Benehmen sein sollte. Ich erinnere mich, daß er in einer seiner letzten Münchener Vorlesungen vor der Berufung nach Berlin seine Oberärzte, darunter den schon ergrauten Professor Lebsche, in einer Weise anfuhr, daß wir Studenten mit lautem Füßescharren protestierten. Viel später, 1950, ein Jahr vor seinem Tode, habe ich ihn bei einem Vortrag in Hannover erlebt, wie er sich ständig wiederholte, den Faden verlor und vorzeitig aufhören mußte: Arteriosklerotische Demenz als erschütternder Lebensabschluß eines genialen Mannes, ähnlich dem fortschreitenden geistigen Abbau Immanuel Kants, von seinem Freunde, dem Königsberger Theologen Wasianski, so wirklichkeitsnah beschrieben, daß ich seine Beobachtungen in meinen Leipziger Vorlesungen über dieses Thema (aus einer zeitgenössischen Ausgabe seines Buches "Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren", 1804 bei Friedrich Nicolovius, Königsberg) zitieren konnte. Leider habe ich versäumt, die Vorlesungen des damaligen "Papstes der Psychiatrie", Oswald Bumke, zu besuchen, des Lehrers meines späteren Königsberger und Leipziger Klinikchefs und väterlichen Freundes August Bostroem, der an der Münchener Psychiatrischen Universitätsklinik als Oberarzt und eine Art "Kardinalstaatssekretär am Vatikan der Psychiatrie" arbeitete. Bumkes Kolleg soll ein didaktischer und intellektueller Genuß gewesen sein. Offenbar hat er auch psychologische und psychopathologische Probleme so wirklichkeitsnah darzustellen gewußt, daß eine unzweifelhaft psychisch gesunde Hörerin, als er glaubte, nur von kranken Menschen gesprochen zu haben, zu einer anderen meinte: "Wie er uns kennt!" Sein gedanken- und zitatenreiches Alterswerk "Gedanken über die Seele" (1948) endet mit der Feststellung: ,... es gibt sie nicht, die Seele schlechthin. Es gibt sehr viele und unendlich verschiedene Seelen, " und mit dem Eingeständnis: "Wissen wir doch selbst über die eigene Seele ganz ungenügend Bescheid."


Bumke contra Freud

Über die Psychoanalyse verhängte Bumke ein unnachsichtlich strenges Verdikt. Ein Schüler Sigmund Freuds, SchiIder, hat nach einem auf der Innsbrucker Naturforscher- und Ärzte-Versammlung 1924 von Bumke erstatteten Referat gemeint, er habe der Psychoanalyse schon eine Leichenrede gehalten. Bumkes Antwort war: "Jetzt noch nicht, in zehn Jahren vielleicht." Sechs Jahre später, bei der Naturforscher- und Ärzte-Versammlung in Königsberg 1930, erklärte er, Freuds Methode werde verschwinden, denn "sie würde den Untergang aller Wissenschaft, das Ende jeder Forschung bedeuten." Ein bei einem so kritisch denkenden Gelehrten wie Bumke bemerkenswert kurzschlüssiges und voreiliges Wort! In seiner 1938 erschienenen Streitschrift "Die Psychoanalyse und ihre Kinder - Eine Auseinandersetzung mit Freud, AdIer und Jung" gab er zu, "...auch wenn die Psychoanalyse tot ist, so sind es ihre geistigen Wirkungen noch nicht." Er meinte damit die AdIersche "Individualpsychologie" und die Jungsche "komplexe Psychologie". Sein Haupteinwand gegen die Psychoanalyse, den auch ich für begründbar halte, lautet, sie versuche, das Seelische zu materialisieren und das Unbewußte zu rationalisieren, und er führt dabei Thomas Mann , der Freuds Libidolehre als "Naturwissenschaft gewordene Romantik" und die Psychoanalyse als den Rückschlag gegen die mechanistisch-materialistischen Neigungen des vorigen Jahrhunderts" und als "eine Erscheinungsform des modernen Irrationalismus" bezeichnet hat. Interessant ist, daß Psychoanalytiker selbst sich bemüht haben, Freud als den Begründer seiner Theorie und Methode analytisch zu verstehen. Sie sehen in ihm z.B. einen "Hasser aus Liebe", der aus Enttäuschung über die Unmöglichkeit, ein Lebensideal zu verwirklichen, das Seelische desillusioniert und auf bloße Triebe, eben die Libido" reduziert habe. Oder es seien Minderwertigkeits-, Haß- und Rachegefühle, vor allem der Haß, der nach Ansicht des Psychoanalytikers Charles MayIan (1929), hinter Freuds Werk stehe: Haß gegen seinen Vater, Haß gegen den Papst, den er mit dem Vater gleichsetzt und in dem er zugleich das Oberhaupt der von ihm auch gehaßten Christenheit sieht, gekränkte Eigenliebe, die Verstimmung gegen die offizielle akademische Wissenschaft, die ihn nicht früh genug anerkannt habe, Haß, der "Freud in den äußersten Intellektualismus seiner letzthin materialistisch orientierten, geist- und gemütsfernen psychoanalytischen Wissenschaft hinaufpeitscht..." Bumke fragt, wie man das schreiben und sich einen Psychoanalytiker nennen und wie man das glauben und doch psychoanalytische Methoden anwenden kann, bleibe MayIans Geheimnis. Mit der psychoanalytischen Methode könne man alles beweisen, weil sie sich weder auf unwiderlegliche (und das heißt: nachprüfbare) Tatsachen stützt noch auf ein klares verstandesmäßiges Erkennen. Die Kritik Bumkes richtet sich im besonderen gegen Freuds Auffassung vom "Unbewußten", dem "Es" unterhalb des "Ichs", dem er ein eigenständiges, das Bewußtsein betrügendes, also amoralisches Denken und Agieren zuschreibt. Freud verwechsele dabei das wirklich Unbewußte oder besser Ungewußte, nämlich das, was wir Menschen von uns selbst nicht gerne wissen möchten, aber - leider nur allzu gut wissen, mit der Fiktion oder Hypothese eines Unbewußten oder Unterbewußten im psychoanalytischen Sinne. Die Freudschen Begriffe und Konstruktionen seien den Sachverhalten, die Freud wirklich gesehen und entdeckt hat, "fast durchwegs inadäquat, ja, oft verfälschten sie sie geradezu", hat Hans Kunz in einer erkenntniskritischen Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse gesagt. Diese Unangemessenheit der mechanistischen und rationalistischen (das heißt die Phänomene rational umdeutenden) Begriffsbildung stellt offensichtlich die logische und erkenntnistheoretische Auswirkung jenes fundamentalen Selbstmißverständnisses dar, dem Freud als Erbe des naturwissenschaftlichen Zeitalters erlag. "Wenn das Unbewußte auf diese Weise rationalisiert wird, sei praktisch `garnichts erreicht' und nicht erklärt, warum die Widersprüche, die sich im bewußten Seelenleben scheinbar nicht lösen lassen, gerade hier zustande kommen und gelöst werden", heißt es weiter bei Bumke. Er erinnert an das alte Problem des Menschen, wie schwierig es für ihn ist, zugeben zu müssen, daß er dieselbe Sache mit dem Verstand ablehnt und mit dem Gefühl doch glaubt, denselben Menschen aus eingestandenen Gründen bewundern und aus nicht eingestandenen hassen, dasselbe Ereignis mit dem einen Teil unseres Ichs fürchten, mit dem anderen herbeisehnen kann: lbsens Lebenslügen, Fontanes Hilfskonstruktionen, das Daimonion des Sokrates und "unsere Stimme des Gewissens", ja, das alte gnoti seauton (Anm: bei J. in griech. Buchst.) "sie alle haben nur diesen Sinn". Aber Bumke versteht Freud nicht, und er verkennt dessen geniale Leistung, mit der Hypothese des Unbewußten" und dem Prinzip der "Verdrängung" durch das "Über-Ich" der Eltern, der staatlichen und kirchlichen Autoritäten, der Gesellschafts-"Moral" wesentliche Entstehungsbedingungen neurotischer Fehlentwicklungen, sogenannter "Konversionshysterien", psychosomatischen Erkrankungen usw. freigelegt zu haben. Zuzustimmen ist seiner Kritik jedoch, wenn er die Überschätzung der Sexualität, die unbegrenzten Möglichkeiten der Sexualsymbolik in den Traumdeutungen, die Behauptung von Dingen, die zwar nicht zu widerlegen, aber auch nicht durch Tatsachen zu beweisen sind, als unvereinbar mit dem Postulat der "Wissenschaft" bezeichnet und in den Bereich der Weltanschauung verweist, der nichts mit Wissenschaft zu tun hat. Er verstößt allerdings selbst gegen diese Forderung, wenn er die Psychoanalyse "als das entlarvt, was sie in Wirklichkeit ist: ein rein dialektischer raffinierter Versuch, den Menschen alle, aber auch alle Ideale zu rauben!"

Daß die Psychoanalyse in ihren Grundlagen entgegen der Prognose Bumkes nicht wirklich tot ist, zeigt sich in ihrer Relativierung und Differenzierung durch die Arbeiten Karen Horneys, Franz Alexanders, Erich Fromms, die die von Freud vernachlässigte Bedeutung kultureller Faktoren für die Psychologie und Psychopathologie der sogenannten Neurosen erkannt und herausgearbeitet haben. Immerhin versuchen Jürgen Eysenck und die Verhaltenstherapeuten in letzter Zeit dem Dogma der Psychoanalyse den Todesstoß zu versetzen.

Ich habe mich nur einmal öffentlich zu der Notwendigkeit geäußert, das empirisch Gesicherte vom Hypothetischen, vom Fragwürdigen, Widerlegten - und Gefährlichen der Psychoanalyse zu unterscheiden: In einem Correferat am Psychologischen Institut der Leipziger Universität 1946. In meiner psychotherapeutischen Tätigkeit mußte ich manche seelischen Schäden erkennen und zu beheben versuchen, die durch die clichéehaften, mit dogmatischem Wahrheitsanspruch vertretenen Anwendungen psychoanalytischer Methoden ohne Rücksicht auf die ihnen nicht entsprechenden individuellen und biographischen Besonderheiten der Patienten entstanden waren.

Zurück zu München: Im Winter 1927-28 fuhren wir zum Skilaufen nach Oberammergau, wo wir bei einem Herrgottsschnitzer wohnten, der zu den Darstellern der Passionsspiele gehörte, Bei einer Abfahrt verlor ich einen Ski, geriet in die Dunkelheit, verirrte mich und mußte von einem Suchtrupp der mit Fackeln versehenen Bergwacht gerettet werden. Angenehmer verlief eine Pfingstfahrt mit Fahrrad ins Allgäu mit Übernachtung im Füssener Gasthof "Zum Löwen". Ich verliebte mich in die dunkelgelockte Tochter "Tini" des Löwenwirtes, ohne daß es zu einer intimen Annäherung gekommen wäre. Keuschheit galt - nicht nur für mich - als erwünschte Schranke gegen vorzeitige Entromantisierung der Gefühle! Jahrzehnte später übernachtete ich mit Antonia wieder beim "Löwen" in Füssen. Tini, das einstmals liebreizende Wirtstöchterlein, war inzwischen zur voluminösen grauhaarigen Matrone herangereift. Enttäuscht und entzaubert wagte ich nicht, mich ihr zu erkennen zu geben - eine Feigheit, derer ich mich heute noch schäme!

Eine Brautschau, zu der ich mit Freund "Kaki" von einem alten Herrn der Makaria nach Pfaffenhofen an der Ilm eingeladen war, endete nach Besichtigung des etwas dürren Töchterchens ergebnislos. Sportlich betätigte ich mich mit der Teilnahme an einem Schwimmwettbewerb der Universität und einem Sportkurs in Neuburg an der Donau, wo wir im alten Schloß wohnten und ein beschwingtes Jahrmarktsfest mit munteren Mädchen erleben konnten.

 

Wien

Zwei Semestern in München folgte ein Sommersemester in Wien. Ich kannten die Stadt meiner Träume" schon von einem Großdeutschen Kongreß an der dortigen Universität her, an dem ich als Königsberger Vertreter des "Hochschulringes deutscher Art" teilgenommen hatte. Der Begriff "Großdeutsch" war damals noch nicht mit nationalsozialistischen Anschluß"-Ansprüchen und dem Ziel eines zentralistischen Einheitsstaates nach Hitlerschem Muster verbunden. Der großdeutsche Gedanke - Einigung Deutschlands mit Einschluß Österreichs - hatte schon nach den Freiheitskriegen 1813-15 weite Kreise, auch die Burschenschaft, erfaßt. In der Frankfurter Nartionalversammlung 1848-49 stieß er auf den Widerstand der kleindeutschen Richtung - engerer nationaler Bundesstaat unter preußischer Führung -, die sich mit der Bismarckschen Reichsgründung durchsetzte. Nach dem Untergang der Habsburgischen Monarchie 1919 wollten sich die Deutschen in den Alpen- und Sudetenländern mit dem Deutschen Reich vereinigen, was durch die Verträge von Versailles und Saint-Germain verhindert wurde. Wir fuhren von Wien nach Innsbruck und erlebten bei der dortigen Studentenschaft große Begeisterung für den auch von Sozialdemokraten vertretenen großdeutschen Gedanken, eine Begeisterung, die sich auch gegen die völkerrechtswidrige Annektion Südtirols durch das faschistische Italien richtete. Wir deutschen Studenten sympathisierten lebhaft mit dieser Proteststimmung unserer österreichischen Kommilitonen. Bei der Wiener Tagung hatte ich einen Vortrag des katholischen Geschichtsphilosophen, Sozial- und Volkswirtschaftlers Othmar Spann gehört, der für einen christlichen Ständestaat als Kern des mittelalterlichen Reichsgedankens eintrat und mich als "zugewanderten (nicht-katholischen) Ermländer" besonders interessierte. Nach meiner Rückkehr von dieser "politischen Reise" berichtete ich in der "Ermländischen Zeitung", die in Braunsberg erschien, über die Wiener Tagung. Es war mein erster und letzter Beitrag für die Tagespresse.

Ich hatte in Wien während der Tagung bei einer Mennoniten-Familie gewohnt. Da mein Vater noch mennonitisch, also spätgetauft ist und seine Vorfahr ren zum großen Teil Mennoniten-Prediger und zugleich "Älteste" der Mennonitengemeinde waren, habe ich mich mit der Geschichte dieser Religionsgemeinschaft der "Taufgesinnten" etwas näher beschäftigt. Sie ist von einem ehemaligen katholischen Priester, dem Holländer Menno Simons etwa 1540 in Ostfriesland gegründet worden. Da er die Amtskirche, die theologische Interpretation der Bibel, das Berufspriestertum und die Frühtaufe ablehnte, wurden seine Anhänger von den Lutheranern und Reformierten nicht geduldet. Sie mußten unter deren Druck und dem der evangelischen wie katholischen Landesherren auswandern und fanden Zuflucht in West- und Ostpreußen, nach dem Dreißigjährigen Krieg in Baden, Elsaß, Kurpfalz und Mähren, seit 1683 auch in den Vereinigten Staaten von Amerika, im 18. Jahrhundert in Rußland. Von dort wurden sie wegen ihrer Verweigerung des Wehrdienstes wieder vertrieben und gingen außer in die USA nach Kanada und Mexiko. In diesen Ländern liegt heute der Schwerpunkt der "Historischen Friedenskirche", wie sie sich jetzt nennen. Es gibt aber noch größere Mennonitengemeinden in Paraguay. Nach dem Zweiten Weltkriege haben sie, wie die Quäker und andere Sekten, aus den USA viel Gutes für die notleidende deutsche Bevölkerung getan. Sie berufen sich allein auf den Wortlaut der Heiligen Schrift nach dem MatthäusEvangelium, 5, 37: "Eure Rede aber sei: Ja, ja, nein, nein! Was darüber ist, das ist vom Übel!" und verwerfen die Eidesformel, den staatlichen Zwang in Glaubensfragen, den Kriegsdienst und die Ehescheidung. Verpflichtende Lebensordnung ist für sie die Nachfolge Christi im Sinne der Bergpredigt. Als tüchtige Deichbauern von Holland her, haben die Mennoniten zur agrarischen Kultivierung der Weichsel-, Nogat- und Memelniederung tatkräftig beigetragen. Sie waren aber auch, wie meine väterlichen Vorfahren, wohlsituierte, ehe- und familientreue Landwirte, zugleich Prediger und Gemeinde-Älteste. Antonia meint, daß meine Neigung zum Dozieren, zu einer gewissen "Lehrhaftigkeit" auf einem genetischen Code aus dieser Vorfahrenschaft beruhen könnte. Mein Familienname Janz ist die Genetivform vom holländischen Jan: Der Sohn des Jan. Dessen Sohn wäre der Jansen oder Janzen. Mit dem Pazifismus nahmen es meine Vorfahren übrigens nicht so genau, auch nicht mit der Verweigerung der Eidesleistung gegenüber dem Landesherrn: In dem mit Silberbeschlägen verzierten Familien-Photographie-Album meines Großvaters findet sich das Portrait eines recht verwegen ausschauenden Soldaten, der mit dem Eisernen Kreuz geschmückt, an der Schlacht von Mars-La-Tour 1871 teilgenommen hat! Alttestamentarische Vornamen meiner Ahnen wie Abraham brachten mich während des Dritten Reiches in die Gefahr, "nicht-arischer" Abstammung zu sein.

Die Wiener Medizinische Fakultät hatte einen bedeutenden Ruf wegen ihrer großen Repräsentanten, des Chirurgen Anton von Eiselsberg (früher in Königsberg), Nachfolger von BiIIroth, des Pädiaters Clemens Freiherr von Pirquet, des Entdeckers der Tuberkulinreaktion zur Frühdiagnose der Tuberkulose, Julius Wagner Ritter von Jauregg, des einzigen Nobelpreisträgers der Psychiatrie, des aus Holland stammenden Internisten und Kardiologen Wenckebach, Schüler des Erfinders der Elektrokardiographie, des ebenfalls niederländischen Nobelpreisträgers Willem Einthoven, und anderer hervorragender Ärzte und Forscher. Medizingeschichtlich interessant ist die Beziehung zwischen zwei berühmten Vertretern der holländischen Heilkunde und Wien: Gerhard van Swieten aus Leyden, ein Schüler des niederländischen Pathologen und Klinikers Hermann Boerhave (1668-1738), der als größter Arzt und Forscher seiner Zeit galt von ihm stammt das beherzigenswerte Wort: Simplex sigillum veri, Das Einfache ist das Siegel der Wahrheit! -, wurde von Kaiserin Maria Theresia zum Ersten Leibarzt und Praefektor der Hofbibliothek berufen. Er hat sich größte Verdienste erworben um die Erneuerung des Medizinstudiums, die Ausbildung und Prüfung der Chirurgen, Apotheker und Hebammen, die Reorganisation der verwahrlosten Hofbibliothek, den Ausbau des Botanischen Gartens in Wien, die Einrichtung eines chemischen Laboratoriums, eines Findelhauses, einer Veterinäranstalt und um andere Reformen. Als "ein wahrer Fürst der heilkundlichen Organisation im Zeitalter des Rationalismus", wie Werner Leibbrand ihn in seiner "Problemgeschichte der Medizin", 1953, nennt, hat er, mit Adel, Orden und Mitgliedschaft vieler Akademien ausgezeichnet, einen Ehrenplatz in der Augustinergruft der Wiener Hofkirche erhalten. In seiner religiösen Haltung stand er der von seinem Landsmann Cornelius Jansen begründeten katholischen Richtung, dem "Jansenismus" nahe, die wegen ihrer Oberspitzung der Gnadenlehre von den Jesuiten heftig bekämpft wurde. Mit viel Kollegenneid bedacht, erfreute er sich auch als politischer Berater Maria Theresias bis zu seinem Tode, 1772, ihrer ungeminderten Gunst. Nach van Swieten ist die älteste Ärztegesellschaft Österreichs, die älteste Europas überhaupt, benannt worden, und ich freute mich und war ein bißchen stolz, vor diesem ehrwürdigen Gremium im Großen Saal der Wiener Hofburg zweimal, 1968 und 1978, gesprochen haben zu dürfen: Über "Kritisches zur Psychosomatik und ihrer Kritik" und über "Psychosomatische Probleme bei der Behandlung Schmerzkranker".


Freud und Wagner-von-Jauregg

An Siegmund Freuds Lehre waren wir in der traditionellen Schulmedizin aufgewachsenen Studenten nicht sonderlich interessiert. Sie galt als nicht ganz seriös, und man sprach wegen des Vorranges der Sexualität in der Freudschen Neurosentheorie unehrerbietig von den "Psychoanalüstlingen"! Mein späterer Psychiatrielehrer Geheimrat Ernst Meyer in Königsberg setzte psychoanalytische Schriften auf den Index und wollte uns untersagen, einen Vortrag des Psychiaters Hans Prinzhorn, der der Psychoanalyse nahestand und das grundlegende Werk "Bildnerei der Geisteskranken" verfaßt hat, zu besuchen. Wir jungen Leute - ich war damals erst Medizinalpraktikant - haben uns nicht danach gerichtet, und es fügte sich sonderbar, daß meine erste Stationsärztin an der Königsberger Nervenklinik, Frau Dr. Lucie Jessner - Frau des Intendanten des dortigen Schauspielhauses und Schwägerin des berühmten Berliner Regisseurs und Intendanten Leopold Jessner - nach ihrer Emigration eine bedeutende Psychoanalytikerin in New York geworden ist! Freud ordinierte zu meiner Wiener Zeit in seiner Wohnung Berggasse 19, hielt aber seit 1919 keine Vorlesungen an der Universität mehr, sondern beschränkte sich auf mehr private Kollegs in einem Saal der Herzstation des Wiener Allgemeinen Krankenhauses. Er und Wagner-Jauregg waren natürlich wissenschaftliche Antipoden. Wagner-Jauregg, Direktor der Psychiatrischen Universtitätsklinik, hatte 1919 die Ernennung seines Studienkollegen und Duzfreundes Freud zum außerordentlichen Professor mit der Begründung abgelehnt, er sei nur "Dozent für Neuropathologie" und habe sich "nie praktisch mit Psychiatrie eingehender beschäftigt", was allerdings schon wegen seiner berühmten "Studien über Hysterie" nicht ganz zutraf. Freud mußte daher drei weitere Jahre auf seine Ernennung warten. Als er endlich - mit 63 Jahren! - zum Ordinarius ernannt werden sollte, war Wagner-Jauregg in seinem Gutachten "trotz bestimmter Bedenken" zwar voll des Lobes für den Vertreter einer "ganz anderen Form der psychiatrischen Behandlung" und sprach sich für den Antrag aus, beging aber in dem handschriftlichen Text des Gutachtens eine typische "Freudsche Fehlleistung", indem er die Ernennung zum "Professor Extra - Ordinarius" vorschlug. Es gehört zu den Kuriosa der Medizingeschichte, daß in der Dekanatskanzlei das "Extra" feinsäuberlich mit einer anders gefärbten Tinte durchgestrichen werden mußte!

Freud bewies bei aller Gegnerschaft zwischen Psychoanalyse und klassischer Psychiatrie seine Fairneß, indem er eine gegen Wagner-Jauregg gerichtete und in der Presse verbreitete Anschuldigung entkräftete, dieser habe sogenannte Kriegsneurosen mit "elektrischer Folter" behandelt und damit bei Tausenden Soldaten verbrecherische Methoden angewandt. Alle Neurotiker, so Freud, seien Simulanten, aber sie simulieren, ohne es zu wissen, und das sei ihre Krankheit! Allein die Psychoanalyse hätte hier ihren Platz gehabt, nicht elektrischer Starkstrom! Wagner-Jauregg verteidigte sich in der gerichtlichen Voruntersuchung mit dem Argument, der Verfasser des in der Zeitung "Der freie Soldat" erschienenen Artikels "Die elektrische Folter", ein Walter Kauders, sei selbst ein Simulant gewesen und habe sich aus Feigheit in die Krankheit geflüchtet. Nach dem Umsturz 1918 sei eine große Menge von "Neurotikern" aus dem Spital davongelaufen - sie konnten auf einmal gehen! Die elektrische Behandlung psychogener Lähmungen sei altbekannt und führe meist zu sehr schnellen Erfolgen, eine Erfahrung, die auch von deutschen Nervenärzten wie Nonne in Hamburg, bestätigt werden konnte. Freud betonte trotz seiner abweichenden Ansicht, "Freund Wagner-Jauregg " und seine Mitarbeiter hätten ihre Methode aus humanitären Motiven angewandt und sich keiner ärztlichen Pflichtverletzung schuldig gemacht. Schäden seien den Soldaten nicht entstanden. Daraufhin kam es nicht zur Anklageerhebung.

Wagner-Jauregg hatte 1927, ein Jahr vor meiner Wiener Studienzeit, den Nobelpreis erhalten für seine Entdeckung der erfolgreichen Malariatherapie der bis dahin meist tödlich verlaufenden progressiven Paralyse. Freud ist dieser Anerkennung seiner eigenen wissenschaftlichen Leistungen nicht gewürdigt worden - zu Unrecht! Übrigens wurde der Vorschlag, Wagner-Jauregg den Nobelpreis zu verleihen, zunächst abgelehnt, weil- der psychiatrische Referent des medizinischen Professoren-Kollegiums des Karolinischen Instituts der Universität Stockholm, Professor GadeIius, erklärt hatte, ein Arzt, der einem Paralytiker noch Malaria einimpfe, sei ein Verbrecher! Erst nach der Pensionierung dieses "alten Herrn" erhielt der Nobel-Aspirant, so erzählte er selbst, den Preis! Später ist bekannt geworden, daß er gar nicht als Gegner der Psychoanalyse bezeichnet werden wollte: In einem Brief an den "lieben Freund", in dem er sich für die "freundlichen Glückwünsche" der Wiener psychoanalytischen Vereinigung und die persönliche Gratulation ihres Obmannes Freud zu seinem 75. Geburtstag (1932) bedankt, bittet er, den Mitgliedern zu sagen, sie sollten ihn "nicht für einen Gegner ansehen, sondern für einen unvoreingenommenen Menschen, "der das Recht der Kritik in Anspruch nimmt" und "der überzeugt werden muß". Für das, "was ehemalige Schüler gegen die Psychoanalyse geschrieben haben", übernehme er keine Verantwortung. Er verweise nur darauf, daß an seiner Klinik "andere Herren ... im Sinne psychoanalytischer Lehren geschrieben haben", ohne daß er ihnen das verübelt hätte. "Mich freut es aber besonders", fügt er hinzu "daß ich bei dieser Gelegenheit wieder mit Dir in persönliche Berührung gekommen bin und so an eine Zeit anknüpfen kann, die schon 50 Jahre zurückliegt. Mit herzlichem Gruß Dein ergebener Wagner-Jauregg." Wagner-Jauregg beherrschte, wie mein Lehrer Bostroem, noch das Gesamtgebiet der Psychiatrie und Neurologie, die sich im Zuge der fortschreitenden Spezialisierung inzwischen getrennt haben. Die Paralyse ist dank der Chemotherapie äußerst selten geworden, praktisch wohl ausgestorben, und die Entdeckung ihrer Behandlung mit Malariaimpfungen gehört der medizinhistorischen Vergangenheit an. Wagner-Jaureggs Schüler und Nachfolger PötzI zitierte in seinem Nekrolog Arthur Schopenhauer: "Jeder Wahrheit ist nur ein kurzes Siegesfest beschieden zwischen den langen Zeiträumen, in denen sie als Unsinn verlacht und in denen sie als Selbstverständlichkeit geringgeschätzt wird."

Den Vorlesungen Wagner-Jaureggs verdanke ich eine erste Einführung in die Grundlagen der klinischen Psychiatrie. Sein Oberarzt, Professor Raimann, von seinem Chef durch den Schmuck eines prächtigen schwarzen Vollbartes unterschieden, las ein ebenfalls klinisch gut fundiertes, logisch klares und begrifflich präzises Kolleg über gerichtliche Psychiatrie. Beide Lehrer erweckten in mir ein regeres Interesse an meinem späteren Fachgebiet, das in den Königsberger Schlußsemestern durch den dortigen Ordinarius Geheimrat Ernst Meyer, den Sohn eines der Begründer des norestraintuPrinzips, der freien Behandlung der "Irren", weiter gefördert wurde. Meyer pflegte die akustischen Halluzinationen schizophrener Patienten uns Studenten mit Hilfe der in dialektfreiem Hannoversch hingesäuselten Frage: "Hören Sie Sstimmen?" zu demonstrieren. Er gab mir, als ich Medizinalpraktikant an seiner Klinik wurde, für meine Dissertation das Thema Psychobiologische Untersuchungen an Ehefrauen chronischer Alkoholiker", ein damals noch weitgehend unerforschtes Problem. Leider starb er, bevor ich die Arbeit, durch aufreibenden Dienst an der Medizinischen Klinik des Städtischen Krankenhauses Altona behindert, abgeschlossen hatte. Sie wurde von seinem Oberarzt, dem Privatdozenten Dr. Moser, übernommen, der sie mit "summa cum laude" bewertete und zum Anlaß nahm, mich Meyers Nachfolger, Bostroem, zu empfehlen und damit meinen weiteren beruflichen und wissenschaftlichen Weg festzulegen. Meyers Söhne, Hans-Hermann und Joachim Ernst, setzten die psychiatrische Familientradition fort und wurden selbst - in Homburg (Saar) und in Göttingen - Psychiatrie-Ordinarien. Dem Zweitgenannten habe ich meinen Nachfolger als Leiter der Wahrendorffschen Anstalten in Ilten bei Hannover Jan CorneIsen zur Fachausbildung ans Herz gelegt, die er auch, obwohl er ursprünglich Chirurg oder Gynäkologe werden wollte, als Erbe und Wahrer der Wahrendorffschen Familientradition pflichtgemäß absolviert, durch neurologische und psychotherapeutische Weiterbildung ergänzt und in der schwierigen Aufgabe, ein 1250 Plätze umfassendes Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie mit 850 Mitarbeitern chefärztlich zu leiten, mit ernstem Bemühen angewandt hat.

Doch zurück zu Wien: In den Pfingstfeiertagen fuhr ich auf dem Rücksitz des Motorrades meines Studienfreundes BoeIzig über den Semmering, Graz und durch die Karawanken nach Triest - Fiume und Abbazia, das in der kaiserlich-königlichen ("K und K")-Zeit Österreichs vornehmste Seebad der Wiener Elite an der Adria. In Triest ergatterten wir eine Passage auf einem Frachtdampfer mit dem Bestimmungshafen" Venezia". Da es verboten war und auch sinnlos erschienen wäre, ein Motorrad in die autofreie und brückenreiche Lagunenstadt zu verfrachten, mußten wir unser Vehikel heimlich in der Dunkelheit in den Frachtraum des Schiffes schieben und während der nächtlichen Seereise sorgfältig bewachen. Problematisch wurde das Unternehmen bei der frühmorgendlichen Ankunft vor dem Markusplatz. Wahrscheinlich waren wir die ersten und voraussichtlich auch die letzten Menschen, die auf die verrückte Idee gekommen sind, die "neptunische Stadt", wie Goethe Venedig nannte, mit einem Motorrad zu besuchen. Dies müssen auch die Gondolieri empfunden haben, die sich unserem Schiff näherten. Sie lachten, riefen und winkten ab, als wir sie baten, uns mit dem Rad aufzuladen und mitzunehmen. Nur einer wagte es, durch unsere bittenden Gesichter und einige Lire angelockt. Vielleicht war auch er ein Gondoliere ohne Konzession, der Aschenbach in Thomas Manns "Tod in Venedig" gerudert hat? Unter dem ungewöhnlichen Gewicht des Motorrades sank seine Gondel bis nahe an die Bordkante und schwankte bedenklich. Aber wir kenterten nicht und erreichten glücklich den Markusplatz. Nun begann der schwierigste Teil des Unternehmens: Die schwere, ungefüge Maschine über insgesamt 20 Brücken treppauf zu heben und - mühsamer noch - treppab am Vornüberstürzen zu hindern! Die noch leicht schlaftrunkenen Venezianer rieben sich die Augen, schüttelten die Köpfe und lachten schließlich mehr mit als über uns. So gelangten wir, schweißgebadet, bis zum damals noch nicht so erschreckend wie heute industrialisierten Festlandsort Mestre, wo wir unser rollendes Gepäck einer Garage anvertrauen konnten. Venedig selbst empfing uns mit dem einzigartigen Zauber "dieser wunderbaren Inselstadt", von der Goethe in der "Italienischen Reise" schreibt, sie sei "nur mit sich selbst zu vergleichen". So viel sei schon von ihr erzählt und gedruckt worden, daß er "mit Beschreibung nicht umständlich sein wolle." Und doch hat er ihre poetische Schönheit so lebendig geschildert, daß der Leser, der nie dort war, eine der Wirklichkeit wenigstens angenäherte Vorstellung von ihr gewinnen kann. Doch was ist die Vorstellung gegen die Wirklichkeit? Thomas Mann nennt sie "die unwahrscheinlichste der Städte".

Als junge, noch nicht Venedig-reife Banausen haben wir nicht viel an Kirchen und Kunstschätzen genossen. Wir begnügten uns damit, den Campanile zu besteigen, um den Blick auf das Wunder Stadt mit der Lagune, dem Lido, den Inseln, dem Festland zu erleben, auf dem "Salon Europas", wie Napoleon den Markusplatz bezeichnet hat, den drei miteinander rivalisierenden Musikkapellen zu lauschen, das Flanieren der Menschen und das Geoirre der Tauben zu betrachten und durch die engen Gassen zu schlendern. Länger als zwei Nächte konnten wir im Hotel Victoria - das es heute nicht mehr gibt - ohnehin nicht bleiben, da unsere Hoffnung, einige Devisen als "Poste restante" vorzufinden, nicht in Erfüllung ging. Wir mußten daher schleunigst in Richtung Gardasee weiterrollen, wo Freund BoeIzig finanzielle Hilfe von einer dort lebenden Tante erhoffte. Mangels einer solchen Tante verließ ich ihn schon in Padua, wo ich immerhin den Condottiere Gattamelata des DonateIIo, den Antonius-Dom und den Innenhof der Universität mit den Wappenschildern der alten deutschen Familien auf mich wirken ließ, die im Mittelalter dort studiert haben. Erst sehr viel später fand ich Zeit, das Katheder, von dem aus GaIiIei gelehrt und das Theatrum anatomicum, in dem Morgagni Leichen obduziert hat, zu sehen. Giovanni Battista Morgagni (1682 - 1771) hat in dem epochemachenden Werk "De sedibus et causis morborum per anatomen indagatis", in seinem 80. Lebensjahr erschienen, die Grundlagen der Speziellen Pathologie geschaffen und als Erster die Lehre von der Beziehung zwischen den Ursachen und dem Sitz der Krankheiten wissenschaftlich exakt begründet. Da es damals von der Kirche streng verboten war, Leichen zu sezieren, mußten diese heimlich in Booten auf unterirdischen Kanälen herbeigeschafft werden. Von dieser geistes- und medizingeschichtlichen Bedeutung Paduas wußte ich medizinisches Greenhorn noch nichts. Mit dem Rest meines Geldes und voller allzu flüchtiger, aber nachhaltiger und appetitanregender Eindrücke kehrte ich auf Eisenbahnschienen allein nach Wien zurück. Dank väterlicher Finanzierung konnte ich es mir leisten, nach Budapest zu fahren und das Semester mit einer allerdings spottbilligen Studienreise zum Balkan und in den vorderen Orient abzuschließen. Die Hauptstadt des ehemaligen, von dem Reichsverweser Admiral a. D. Horthy regierten Königreiches Ungarn faszinierte mich mit einem der schönsten Städtebilder Europas, mit den Donaubrücken, dem imposanten Parlamentsgebäude im Zuckerbäckerstil, mit der Flora und den Thermalquellen der Margareteninsel, dem von der Donau malerisch aufsteigenden "Buda" ("Ofen") und nicht zuletzt mit der patriotischen, freiheitsliebenden Gesinnung der Menschen. In den Straßenbahnen waren vaterländische Aufrufe zu lesen, mit denen gegen die im Vertrag von Trianon beschlossene Verkleinerung des Landes auf ein Drittel seines Bestandes zugunsten der Tschechoslovakei, Rumäniens und Jugoslawiens protestiert wurde. Es gefiel mir besonders, daß bei einem studentischen Kommers, zu dem ich eingeladen war, der alte Vater eines der Korporierten, ein schlichter Puszta-Bauer, im Mittelpunkt des Festes stand und mit Ansprachen und Liedern geehrt wurde. Man sang die ungarische Nationalhymne, die ich als eine feierlich-ernste choralartige Melodie in Erinnerung behalten habe. Ich verbrüderte mich schnell mit meinem Gastgebern - einer pumpte mich um 20,-- Mark an, die ich nicht wieder sah - und wir zogen anschließend in eine Bar, in der wir Franz MoInar und die gefeierte Filmschauspielerin Vilma Banky antrafen. Den Rest des Abends verbrachten wir, beschwingt und übermütig, im WellenThermal-Schwimmbad des berühmten Gellért-Hotels, das in mir den Wunsch aufkommen ließ, dort später einmal wohnen zu können. Dieser Wunsch ging auch in Erfüllung im Jahre 1977, aber, ach, mit der bitteren Enttäuschung, daß das einst so repräsentative Haus unter der sozialistischen Zwangswirtschaft regelrecht heruntergekommen und das schöne WellenSchwimmbad - ohne Wasser war! Daß wir außerdem im Hotelzimmer abgehört wurden und ich, an einer schweren Cystopyelitis erkrankt, nicht von Dr. Alfred Simkö, meinem ärztlichen Freund aus alter ungarischer Familie, betreut werden durfte, sondern einen regierungstreuen Hotelarzt akzeptieren sollte, sei nur nebenbei erwähnt. Inzwischen - 1991 - ist Ungarn endlich wieder frei!

Balkan- Orientreise

Höhepunkt des Wien-Semesters war die Orientreise unserer deutschen Studentengruppe: Mit Donaudampfer nach Belgrad (Beograd), weiter durch das "Eiserne Tor" nach Rumänien, mit der Bahn durch Siebenbürgen mit Kronstadt, Hermannstadt, Schäßburg, über Bukarest nach Konstanza, auf dem Schwarzen Meer nach Konstantinopel, von dort über das Marmarameer nach Mudania, mit Kraft- und Pferdewagen, zum Teil zu Fuß durch die anatolische Steppe nach Brussa (Bursa), zurück nach Konstantinopel, zurück mit dem Schiff nach Varna/Bulgarien, von dort streckenweise auf Mauleseln reitend durch das Balkangebirge, Rast am Rila-Kloster, und über Trnovo, die alte bulgarische Hauptstadt, Plowdiv (Philippopel), Sofia, Vidin und donauaufwärts nach Wien mit Heimkehr über Prag, Berlin, Swinemünde, Pillau!

Diese Reise war für mich ein großes Erlebnis, über das ich in häufigen Briefen an meine Eltern überschwenglich-begeistert berichtet habe. Hierzu nur einige Auszüge aus einem Brief vom 30. Juli 1928 über die Wiederbegnung mit unserem Standort Konstantinopel (so hieß Istanbul damals noch) nach der Rückkehr von einer Exkursion durch Anatolien: "Nach wilder Fahrt in einem alten klapperigen Chevrolet über die westanatolischen Höhen von Brussa nach Mudania und sanfter Schaukelei auf dem Marmarameer sahen wir wieder die Häuserterrasse von Galata und Pera, die grüne Spitze und die weißen Kioske des Serails, die schlanken Minaretts von Istanbul aus dem Blau des Himmels und des Wassers sich erheben. Konstantinopel erschien mir nun nicht mehr wie beim erstenmal als eine wundersame Fata Morgana, sondern ich begrüßte in ihr eine vertraute, schöne Freundin. Sie ist eine ältliche, wohlgeformte Kokotte mit gut konturierten Reizen ihres vielgestaltigen Körpers, aber von modernen Schminken übertüncht, mit stillosen Pflästerchen beklebt und im Inneren von mancherlei Dekadenzmaladien durchseucht. Man muß sich nur kurz vor Sonnenuntergang auf den hohen Galataturm stellen und sich von der Zauberhülle dieses göttlichen und allzu menschlichen Meisterwerkes in einen wohligen Trancezustand hineingleiten lassen, wenn die Sonne ihrem schönen Kind den Gutenachtkuß gibt und es in flüssiges Gold einhüllt, wenn die abgeschnittenen Wolkenkratzer von Galata und Pera, die so gar nicht in das orientalische Bild passen wollen, wenn die Moscheenkuppeln und Minarette des alten Stambul von einem tief-rötlich blinkenden Feuersturm, dem Goldenen Horn, geschieden werden, und Bosporus und Marmarameer, von Schiffsmasten und Schornsteingewirr besät, in den Abendhimmel und die bunten Ufer übergehen - und man muß durch die nachtdunklen, schmutzstarrenden und übelriechenden Eng- und Steilgassen der drei Stadtteile schreiten, sich von dem lärmenden Feilsch- und Brülltrubel der Händler, den bettelnden oder mit Glasperlen-Ketten spielenden Männern traurig stimmen und sich von der verkommenen Schamlosigkeit der Straßendirnen anekeln lassen - "die wurmstichige Belladonna reckt sich grell vor dem Auge." In meiner wort- und bilderreichen Bewunderung dieser Stadt befand ich mich in bester Gesellschaft: Alexander von Humboldt zählte sie neben Rio de Janeiro und Neapel zu den drei schönsten Städten der Welt. In ihre Schönheiten und Sehenswürdigkeiten wurden wir von einem ehemaligen "Janitscharen-Major" - so nannte er sich, obwohl die Janitscharen-Leibgarde der Sultane schon 1826 blutig beseitigt war - eingeführt, einem höchst originellen, kunsthistorisch und archäologisch hochgebildeten Mann, den ich noch deutlich vor mir sehe: Groß, hakennasig, etwas krummbeinig, am Stock humpelnd, zerzaust - bärtig, mit Zahnlücken und einem vorstehenden Hauer behaftet, von einem nicht ganz sauberen Schlapphut und einem ebensolchen offenen Mantel umweht. Seinen Namen habe ich behalten: "Ghazi Turkhan Bey Ali Ahmed Mehdi Zadi Agha", wobei er sich den Titel "Ghazi" anscheinend wegen seiner Verdienste als Berichterstatter beim Boxeraufstand in China selbst verliehen hatte. Er kannte auch Winston Churchill von dessen Tätigkeit als Kriegsberichterstatter im Burenkrieg her. Wir folgten ihm nach dem Vorort Eyüp mit der "Eyüp Camii", der heiligsten Moschee Istanbuls, in der früher die Schwertumgürtung, also "Krönung" der Sultane stattfand, zum malerisch hoch über dem Anfang des Goldenen Horns gelegenen, mit Platanen und Cypressen bepflanzten Friedhof und der Grabkapelle des Bannerträgers Mohammeds. Jedes Grab trägt zwei zum Teil reich ornamentierte, mit Schriftzeichen versehene Steine, von denen der eine mit einem steinernen Fez oder Turban geschmückt war, bis Mustafa KemaI Pascha, der große Reformator und "Atatürk" (Vater der Türken) diese Kopfbedeckung abschaffte. Als ich unseren "Ghazi Turkhan Bey ..." fragte, warum einige Feze schief auf dem Grabstein standen, antwortete er: "Die sind hingerichtet worden." Er führte uns natürlich auch durch die Hagia Sophia, die Prachtkirche der "Heiligen Weisheit", unter Kaiser Justinian und seiner Frau Theodora, einer früheren Schauspielerin, im 6. Jahrhundert nach Christus erbaut, ein Wunderwerk der byzantinischen Baukunst, für mein ästhetisches Gefühl verwirrend überladen und seit 1935 Museum. Er zeigte uns die mit ihren blauen Fayencefliesen weit schönere "Blaue Moschee", die nicht minder berühmte Süleyman-Moschee und andere Moscheen, deren Namen mein Gedächtnis unnötig belasten würden. Wir besichtigten mit ihm das "Topkapi Saray", das Serail, die ehemalige Palaststadt der Sultane mit dem Schatzhaus und der einzigartigen Porzellansammlung, den Goldkunstwerken, Diamanten, Riesensmaragden und Edelsteinen aus dem Schatz der Sultane, und den "Diwan", den Saal für die Beratungen der Wesire - alles von mir 22-jährigem Orientfahrer mit Staunen und Ehrfurcht gebührend bewundert. Der Harem (arabisch Harim, das Verbotene), zu dem nur der Sultan, seine Blutsverwandten und die Eunuchen Zutritt hatten, war geschlossen. Ein alter Eunuche, als solcher erkennbar an Bartlosigkeit und Fistelstimme, führte mich in seine ärmliche Häuslichkeit und bewirtete mich mit Tee. Über sein Schicksal und Vorleben konnte ich wegen fehlender sprachlicher Verständigungsmöglichkeiten leider nichts erfahren. Im Großen Bazar mit seinen vier- bis fünftausend Läden erstand ich zwei schön ziselierte Bronze-Aschenbecher, eine Wasserpfeife ("Nargileh"), aus der ich zu Hause, in der Hocke sitzend, meinen Eltern und staunenden Gästen etwas vorrauchte, und einen Fez, in dessen Innerem ich - zu spät - die eingedruckten Worte "Made in Zwickau" entdeckte!

Ich habe dann 1967 Istanbul mit Antonia und Vera zusammen auf der Rückreise von Izmir, Ephesus, Pergamon, Milet, Aphrodisias, Hierapolis, Didyma wieder erlebt, diesmal weniger enthusiastisch, dafür mit mehr geschichtlichem Verständnis. Als Studenten hatten wir im "Deutschen Club Teutonia", an der Rue Tekké des Stadtteils Pera gewohnt, in der Nähe des Galataturms, dem hochragenden Wahrzeichen der Stadt, nicht weit vom "Yüksek Kaldirim", dem "Hohen Pflasterweg" einer Treppenstraße mit zahlreichen Stufen. Unser Nachtlager war ein großer Saal, in dem wir auf Matratzen schliefen. Wie billig diese große Reise war, zeigte sich daran, daß ich, als mein Vater mir der Sicherheit halber 100,Rentenmark nach Konstantinopel überwies, mit der leicht übertriebenen Versicherung dankte, damit könnte ich noch bis Kapstadt reisen. Ich besaß außerdem noch 200,- Mark, von denen 60,- Mark für die Weiterreise, 40,- Mark für eine - nicht zustandegekommene - Exkursion nach Troja und der Rest für die Heimreise über Bulgarien, Wien, Prag, Berlin und mit dem Schiff von Swinemünde bis Pillau vorgesehen waren.

Das Reformwerk Mustafa KemaI Paschas befand sich 1928 erst in den Anfängen. In Anatolien waren die Frauen trotz des staatlichen Verbotes immer noch tiefverschleiert. Sie mußten - und müssen, wie ich hörte, auch heute noch - mit Lastballen und Früchtekörben schwer bepackt, hinter dem Maultier herlaufen, auf dem der Mann reitet! Unser "Dragoman" (Dolmetscher) in Anatolien, ein österreichischer Gutsverwalter, sagte uns, den Frauen werde in der extrem-patriarchalischen Gesellschaft des Orients die Seele abgesprochen, sie müssen in den Moscheen hinter einem Wandschleier in Seitenräumen sitzen, während die Männer im Hauptraum unter der gen Allah oder Mohammed hochragenden Kuppel beten dürfen. Homosexualität sei unter Männern weitverbreitet. Wenn der Mann sehr arm ist, "verschachere" er eine seiner Frauen, um an Geld zu kommen. Ein jungverheirateter Hammal (Lastträger) "vermiete" seine Frau für einige Monate an einen Ausländer und verschaffe sich damit eine Existenzgrundlage. 80 - 90 % der ländlichen Bevölkerung in Anatolien seien Analphabeten. Die älteste Tochter eines Bauern, in dessen Lehmhütte wir gastfrei aufgenommen wurden, war eine Art Dorfwunder, weil sie lesen und schreiben konnte!

Wir durch-schritten mit unserem Österreicher, dem einzig deutsch sprechenden Menschen in Bursa und Umgebung, einen Tag lang die anatolische Steppe in großer Hitze und Dürre, überquerten ausgetrocknete Flußbetten, wurden von Distelsträuchern gestochen, von moskitoartigen Mücken gebissen, von Durst geplagt und waren dankbar, von dem Bauern, seinen beiden Frauen und der Tochter mit Kaweh (Kaffee), Tschai (Tee) und Zigaretten bewirtet zu werden. Die kleinasiatische Küstenregion hingegen ist reich bewachsen mit Olivenwäldern, Pappel- und Pinienreihen, Tabakfeldern. Bursa, die alte Hauptstadt des Osmanischen Reiches, in weitem Tal am bithynischen Olymp (Ulu Dag) gelegen, war damals noch ein mittelgroßer Provinzort mit schwarzen, flachdachigen, erkerreichen Häusern, einigen schönen Moscheen, altrömischen Thermalbädern, einem Hallenbazar, einer Karawanserei (die wir mehr als Karawanzerei kennenlernten) und einem "Hotel", das sich der Ausstattung mit einer unbeschreiblichen "Toilette" und Konservendosen als Waschgelegenheiten erfreute. Mein Versuch, von dort aus den Olymp zu besteigen und nach Nikäa, der ehemaligen bitynischen Hauptstadt, und weiter mit der Bagdad-Bahn nach Haidar Pascha zu fahren, scheiterte kläglich an der Unmöglichkeit, die dafür nötigen Einreisegenehmigungen, "Visika", zu beschaffen und das unumgängliche, aber meine Barmittel denn doch übersteigende "Bakschisch" aufzubringen. Dafür wurde ich mit zwei anderen Studenten - die Instanbuler Presse hatte fast täglich über uns berichtet - eines Empfanges bei dem deutschen Botschafter NadoIny in Terapia oberhalb des Bosporus gewürdigt. Da der Botschafter selbst uns wegen eines Treffens mit dem diplomatischen Vertreter Italiens nur kurz begrüßen konnte, wurden wir von seiner Frau und einem zart-blonden, gazellenfigürlichen Töchterchen sehr liebenswürdig zum Five-o-clock-Tee unter Palmen empfangen. NadoIny stammte, wie sich im Gespräch ergab, aus Groß-Stürlack in Ostpreußen und war ein Neffe des Superintendenten Trinker. Dies war für mich das Stichwort zu der Bemerkung, es habe außer diesem Onkel noch drei weitere Pastoren mit alkoholfreudigen Namen im südlichen Ostpreußen gegeben: Meinen Taufpfarrer Wiski sowie die Seelsorger Korn und Bierfreund!

Die deutsche Botschaft stand damals kurz vor ihrer Verlegung nach Angora, dem heutigen Ankara, das von KemaI Atatürk zum neuen Regierungssitz erhoben wurde und sich dann zur zweitgrößten Stadt der Türkei neben Istanbul entwickelt hat. Frau NadoIny sah diesem Wechsel mit Unbehagen entgegen, da Ankara noch ein abgelegener, häßlicher kleinasiatischer Ort mit angeblich ungesundem Klima und nur einem benutzbaren Hotel war. Aber der modern denkende Mustafa KemaI ließ dort bereits vorsorglich ein Operettenhaus, das erste in der Türkei, erbauen und übertraf damit Istanbul, das weder Oper, Operette noch eine Schauspielbühne, nur Kinos besaß!

Ein Wort noch zu den Beziehungen zwischen Deutschen und Türken: Sie waren - und sind, wenn auch mit Einschränkungen, die mit dem Golfkrieg und der Kurdenfeindlichkeit zusammenhängen - von gegenseitiger Sympathie bestimmt. Ein Schuhputzer in Izmir brachte sie 1967 auf die schlichte Formel: "Aleman gut - Turk gut!" und ließ sich mit diesem Verbrüderungswort 10 türkische Pfund (fast 5,-- DM) für seine Mühe geben. Der türkische Leiter einer Reise-Agentur in Izmir mit dem poetischen Namen Abdullah Bülbül (Nachtigall), ehemaliger Offizier der türkischen MarineLuftwaffe und späterer Flugzeugkommandant bei der Luftverkehrslinie Istanbul-Ankara, versicherte mir, die deutsch-türkische Freundschaft sei durch die alte Waffenbrüderschaft der beiden "großen Völker" begündet und gefestigt worden. Er wußte, daß diese das Verdienst Helmut von Moltkes ist, der in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts als Instruktor der türkischen Armee gewirkt hat. Trotz des Unterrichts, den Moltke, dieser hochgebildete, geistvolle Offizier und geniale Stratege, erteilte, erlitt das türkische Heer im Kampf gegen die aufständischen Kurden und die Ägypter eine verheerende Niederlage: Sein Kommandeur, der General Hafis Pascha, hatte nicht den Rat Moltkes, sondern den seiner Sterndeuter befolgt! Die Gemeinsamkeit der deutsch-türkischen Interessen bewährte sich später aber in dem Erfolg, den die Marine beider Länder im Ersten Weltkriege gegen die britisch-französische Flotte an den Dardanellen Anfang 1915 erringen konnte. Den bei Kriegsende auf Grund gesetzten deutschen Kreuzer "Goeben" sahen wir noch im Bosporus liegen. Moltke hatte übrigens schon vor den unabsehbaren Folgen einer fortschreitenden Technisierung der künftigen Massenkriege gewarnt und eine gesamteuropäische Friedensordnung angestrebt!

Mein bescheidener Beitrag zur deutsch-türkischen Verständigung beschränkt sich auf einige türkische Worte, die ich in einem der Karl - May Bücher, ich glaube "In den Schluchten des Balkan" als Junge auswendig gelernt habe. Sie lauten: "Dur, Askerler, tüfenkler doldoryniz! Araschtyrarim!" Auf Deutsch: "Halt, Soldaten, ladet die Gewehre! Ich werde rekognoszieren!" So unpassend sie auch sind - ich habe noch keinen Türken erlebt, der sich nicht gefreut hätte, wenn ich ihn so begrüßte!

Unsere Rückreise über das schwarze Meer und durch Bulgarien vollzog sich nicht weniger reich an vielfältigen Eindrücken und Erlebnissen, die sich aus unserer unkonventionellen Art zu reisen, abseits vom Baedeker, ergaben, z.B. bei einem Mauleselritt im Balkangebirge, Besuch im Rila-Kloster und Begegnungen mit einsam lebenden mönchischen Anachoreten, Verbrüderung mit bulgarischen Studenten, Kontakt mit dem staatlich-bulgarischen Arbeitsdienst, nach dessen Muster der spätere nationalsozialistische Arbeitsdienst entstanden ist, und anderes mehr. Wir fuhren dann mit dem Schiff donauaufwärts nach Wien zurück, und ich durchstreifte zum Abschluß das damals noch "Goldene Prag", das ich später, 1968, noch zweimal, nun weniger golden geworden, nach dem "Prager Frühling" und nach dem Einmarsch der SowjetArmee 1968 erleben und durch freundschaftliche Beziehungen zu einem tschechischen Fachkollegen, Dozent Dr. Frantisek FaItus, liebgewinnen sollte.

Ich will aber auf meine Wiener Studentenzeit nicht zurückschauen, ohne eine besondere Sehens- und Erinnerungswürdigkeit dieser traditionsreichen Stadt erwähnt zu haben: Frau Anna Sacher, die Inhaberin des weltberühmten Hotels! Die Fleischhauertochter Anna Fuchs hatte den Sohn Eduard des Erfinders der nach ihm benannten Torte geheiratet und das Hotel - er selbst soll den "Tafelspitz" erdacht haben! - nach seinem frühen Tode mit Klugheit, Geschäftstüchtigkeit, Fleiß und Menschenkenntnis so erfolgreich geführt, daß es zu einem lebendigen Mittelpunkt Wiens wurde, von dem man sagte: "In deinen Betten schläft Österreich!" Ich habe die alte Dame noch mehrmals gesehen, wie sie vor dem Hotel saß, eine dicke, kurze Brasil rauchend, zur Seite ihre englischen Bulldoggen, die eine fatale Ähnlichkeit mit dem dickwangig gewordenen Gesicht ihrer Herrin hatten. Sie unterschieden sich von ihr aber zumindest dadurch, daß sie nicht rauchten, und bestätigten so die Richtigkeit der Ansicht des alten Feldmarschalls von MoItke, der auf die Frage nach den Unterschieden zwischen Mensch und Tier - nach einem tiefen Zug aus einer Zigarre - antwortete: "Tiere rauchen nicht!"


Abschluß der Studentenzeit in Königsberg


Ich kehrte nach Königsberg zurück, um mich auf das drohende Staatsexamen vorzubereiten. Dieser löbliche Vorsatz wurde, wenn auch nur vorübergehend, behindert durch die Turbulenzen, in die ich mich von den Veranstaltungen zum hundertsten Stiftungsfest der Littuania hineinziehen lassen mußte. Nachdem die Wogen eines aus heutiger Sicht ziemlich lächerlich erscheinenden Anciennitätsstreites mit den drei anderen Königsberger Corps Masovia, Baltia und Hansea - ich habe ihn schon erwähnt - sich einigermaßen geglättet hatten, einigte sich eine eigens berufene "Rückdatierungskommission" unter dem Vorsitz des Corpshistorikers Professor Dr. Fabricius auf die Einladungsformel: Zum 35. Stiftungsfest der Littuania (als Corps), zugleich zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Littuania..." Trotz dieses Kompromisses lehnten die älteren Corps Masovia und Baltia es ab, an einem - dann auch nicht zustandegekommenen - Fackelzug teilzunehmen und bei dem Festakt im Auditorium maximum der Albertus-Universität zu "chargieren"! Mit Ausnahme der beiden genannten chargierten jedoch sämtliche Königsberger Korporationen und das Corps Hansea, das heißt: sie erschienen zu dem Festakt in "feierlichem Wichs"! Der Sturm im Wasserglase hatte sich aber noch nicht beruhigt, denn Masovia und Baltia wurden für ihre Obstruktion wegen "Schädigung des Ansehens des Kösener S.C. beim Kösener Kongreß 1929 mit je einem "Rüffel" bestraft! Tempi passati! Deo gratias!

Diese Differenzen und die danach noch ausgetragenen "PP" ("Pro patria") Mensuren konnten jedoch, und das ist tröstlich, den freundlichen korporativen und persönlichen Beziehungen zwischen den vier Corps nichts anhaben. Ihre Mitglieder waren "Söhne Ostpreußens mit Leib und Seele", und das war stärker als das Trennende!

Die Festlichkeiten der Zentenarfeier dauerten sechs Tage, Höhepunkte waren der Ball mit Essen in den Festräumen der Stadthalle, der Festakt in der Aula der Universität, das Festessen in der alten "Jubiläumshalle", in der mein Vater noch, bevor das Corpshaus in der Münzstraße 3 erworben wurde, die Veranstaltungen des Corps erlebt hatte, und - als Höhepunkt - der Festkommers im Großen Saal der Stadthalle. Eine Festrede folgte der anderen, Heimatgeist, Heimattreue, Vaterlandsliebe, Freundschaft, Mannesmut wurden beschworen. Nur Einer, der Oberbürgermeister Dr. Dr. h.c. Lohmeyer, wagte es, die Frage zu stellen: "Haben die deutschen Korporationen noch ihre Berechtigung?" Er bejahte sie »aus voller Überzeugung": Das Korporationswesen sei heute notwendiger als je zuvor, da es die seit dem Ende des Ersten Weltkrieges fehlende militärische Erziehung, "die beste Lebensschule der Deutschen", zu ersetzen berufen sei! Den Korporationen erwachse die Aufgabe, den studentischen Nachwuchs so zu erziehen, daß er den Forderungen, die der Staat und das Volk an ihn stellen, genügte. Auch die Pfarrer unter den Corpsbrüdern äußerten sich als Festredner und -dichter in militärisch-patriotischem Sinne. Pfarrer Schwandt, ein begabter Kanzelprediger, sprach in seiner Rede zum Gedächtnis der im Weltkriege gefallenen Kameraden vom "heiligen Glauben", "heroischen Kampf` und "Heldentod" unserer Brüder. Pastor Herford, unser damaliger Corpsdichter, hatte zum Stiftungsfest am 31. Januar 1915 einen Prolog verfaßt, der mit dem Aufruf begann: "Ran an den Feind und durch! Stolz wehen Deutschlands Fahnen. Wir Alle schwören mit dem Wahlspruch unserer Ahnen: Wir halten aus und gehen sonder Zagen Durch Not und Tod hindurch zu schönern Tagen!" Als dieser Wahlspruch unserer Ahnen sich nicht erfüllte, dichtete Pastor Herford zum Stiftungsfest 1919 traurig, aber trotzig: "Wahn - Friede war's, der Traum zerrann in Nichts, Und doch, Ihr Brüder, soll es Losung bleiben: Halt' aus, es muß der junge Tag des Lichts Die alte Nacht der Finsternis vertreiben." Beim Abschiedsfrühschoppen des Hundertjährigen wurde er sanfter und wehmütiger: "Zum grauen Alltag kehren wir zurück. Doch ist das Leben stets im tiefsten Innern Ein zierlich Denken und ein süß Erinnern Im Alltag leuchtet uns Erinnerungsglück..."

Zum "Erinnerungsglück" gehörte auch das im "Katertag" des großen Festes aufgeführte "Große Drama Urte Pusch am Sies" in vier Akten, in dem ich die Hauptrolle der "Urte" übernehmen mußte. Es handelte von dem Kampf der Deutsch-Ordensritter gegen die heidnischen Pruzzen. Mein Corpsbruder Georg Weißer, mit mir der Letzte unseres Semesters, spielte das heidnische Urweib "Ennusze" mit langem, nur die Nase freilassendem weißem Haar - unvergeßlich komisch! Im Mittelpunkt der Handlung stand die Begegnung eines Ritters "Kurt" mit der litauischen Fürstentochter Urte. Der Ritter fragt sie: "Wie ist Dein Nam'?" Urte: "Ich heiße Urtchen!" Der Ritter: "Das trifft sich gut, ich heiße Kurtchen!" Weitere Einzelheiten der Aufführung sind in mir nur verschwommen haften geblieben, wobei der lampenfiebermindernde Alkoholtrank mitgewirkt haben mochte. In einer Chronik der Littuania unseres Corpsbruders Fünfstück heißt es zu dem "musikdramatischen Vorspiel dieses denkwürdigen "Katerstückes": "Unter Verwendung der neuesten Schlagermelodien mit vielen witzigen Einfällen und Anfrotzeleien alter und junger Corpsbrüder entfesselte es Stürme der Heiterkeit." Als Dichter, Spielleiter und Dirigent fungierte mein "Leibbursch" Martin Braun, Theologiestudent, später Superintendent in Münster Westfalen. Mein corpsstudentisches Debüt als Schauspieler hatte ich bereits als junger Fuchs in der Aufführung eines auch von B ra u n gedichteten Stiftungsfest-Katerstückes absolviert. Damals ging es um ein Märchen aus dem Reiche des "Königs Passedéfinus", in welchem ein dekadentscharwenzelnder "Prinz Fikipo" (von Frank "Kaki" Borchert gespielt!) die schwarzlockige "Prinzessin Lätitia" (mein späterer Schwager Adalbert Connor!) liebt. Ich hatte die Rolle des würdigen Kanzlers dieses Reiches zu übernehmen, der mit einem langen Stab die Szenenfolge und die Personen ansagen mußte. Leider hatte Lätitia - Adalbert sein Lampenfieber in einer Oberdosis von Bier und Schnäpschen zu ertränken versucht, so daß er nicht in der Lage war, seinen Text aufzusagen, und statt dessen hinter die Bühne gebracht werden mußte. Dort konnte er sich mit Hilfe eines rasch vorgehaltenen Sektkübels erleichtern, um anschließend mit Schneeabreibungen des Gesichtes in den Stand versetzt zu werden, seine Liebesrolle mit Prinz Fikipo weiterzuspielen. Die durch diesen Zwischenfall entstandene peinliche Pause wurde von mir improvisiert überbrückt und erklärt, indem ich vor den Vorhang trat, dreimal mit meinem Kanzlerstab auf den Boden stieß und dem schon unruhig gewordenen Publikum verkündete: "Ich bitte um Verständnis für die Unterbrechung: Die Prinzessin ist leider soeben von ihrem monatlichen Unwohlsein befallen worden. Sie hofft aber, demnächst wieder erscheinen zu können." Dröhnendes Gelächter der Alten Herren, und die Situation war gerettet! Nach der glücklich zu Ende gebrachten Aufführung rief mich der gute, alte "Onkel John" (Geheimer Medizinalrat Dr. Forstreuter, Freund meiner Eltern) zu sich und sagte in breitem Ostpreußisch (er entstammte einer Salzburgischen Familie, war aber in Dworaliszki, Kreis Mariampol, Gouvernement Suwalki geboren): Mensch, Hans-Werner, woher weißt so schweinsche Sachen? Was wird de Mutter sagen?" Auf mein Medizinstudium konnte ich mich kaum berufen, da ich noch im vorklinischen Semester stand. Aber schließlich war mein Vater Arzt!

Fast hätte ich vergessen, zu bemerken, daß vom Großen Stiftungsfest ein Huldigungstelegramm an den Reichspräsidenten von Hindenburg gesandt wurde, für das er sich mit eigenhändiger Unterschrift bedankt hat!

Der vorletzte Teil dieses Hundertjährigen, der 2. Februar 1929, wurde bei Temperaturen um minus 30 Grad in Cranz verbracht. Die Ostsee war bis an den Horizont zugefroren, und am Strand hatten sich übermannshohe Eisberge gebildet, deren Kristalle heller Sonnenschein in allen Farben erglühen ließ - ein unvergeßliches Bild, das besonders auch die aus Süddeutschland angereisten Gäste, die unsere Ostsee noch nie gesehen hatten, begeisterte. Es war der eiskalte Februar, von dem RingeInatz schrieb: "In Königsberg zum zweitenmal Ich wohnte im Hotel Central" (in dessen Weinabteilung mit dem exzellenten Chefkellermeister ZimmerIinkat wir gerne einmal geschlürft hatten - Eigentümer des Hotels war unser Corpsbruder Willi StadIer, auch Salzburger Herkunft), "Dort war gut hausen. Doch draußen: An Kälte zwo und dreißig Grad, Ich ächzte und ich stöhnte. Ja, Königsberg war stets ein Bad für südwarmweich Verwöhnte..."

Niemand ahnte damals, daß der Kösener Seniorenverband nur wenige Jahre später, 1935, zwangsaufgelöst und die Littuania mit allen anderen deutschen Corps suspendiert sein würde. Der optimistische Wunsch, den eine Corpsschwester, Frau Hedwig Pietsch, zur Zentenarfeier in einem ,vaterländisch-poetischen Kampfruf` ausgesprochen hatte: "... Diesen Geist allzeit zu lehren, Mutter Littuania, Stehe weiter hoch in Ehren, weit're hundert Jahre da!" erfüllte sich nicht.

Politisch schien zunächst alles noch in einigermaßen geordneten Bahnen zu verlaufen. Scheinruhe vor dem NS-Sturm! Dessen Vorboten - die ständig anwachsenden Mitgliederzahlen, Wählerstimmen und Machtansprüche der NSDAP, die rhetorischen Propaganda-Kaskaden Hitlers und GoebbeIs', die Ausschreitungen der SA, die Straßenkämpfe zwischen braunen und roten Gruppen, die sich in ihrer Radikalität nicht und in sozialistischen Zielsetzungen nur wenig unterschieden - all dies berührte mich persönlich kaum. Nur das unpolitisch "Peer-Gynt'sche" und "Ringelnatz'sche" in mir begehrte zuweilen auf gegen das konservative Element meines Wesens. Es drohte sich sogar einmal zu einem spätpubertären Ausbruchsversuch aus der Fron der Examensvorbereitungen und den langweiligen Zwängen der bürgerlichen Welt zu steigern: Als ich eines Sonntags mit meinen Studienfreunden Walter Steffen und Gerhard Specht am Königsberger Hafen spazierenging, waren wir plötzlich drauf und dran, einen dort ankernden spanischen Frachter mit dem Bestimmungshafen Bilbao zu besteigen und mit ihm davon zu fahren. Aber Verantwortung, Pflicht und Vernunft erwiesen sich als stärker - im besonderen auch Pflicht als "Forderung des Tages" in Goethes Definition. Diese Forderung lautete: Staatsprüfung, Ausbildung, Dienst am kranken Menschen. Jahrzehnte später bin ich dann doch noch nach Bilbao gelangt, wenn auch mit Hilfe eines kleinen Unfalls: Auf der Fahrt zum Internationalen NeurologenKongreß in Lissabon mit Antonia, Vera und Freund Francisco LIavero wurde unser Volkswagen in der Stadtmitte von Bilbao, als ich vor einer Kreuzung hielt, um einen Polizisten nach dem Weg zu fragen, achtern von einer Straßenbahn heftig gerammt. Weil ich sofort die Handbremse löste, schob die Bahn den Wagen ein Stück weit vor sich her, so daß der Heckmotor unbeschädigt blieb und uns weiter in die portugiesische Hauptstadt und auch wieder heimwärts gelangen ließ. Allerdings mußte der durch den Stoß entstandene Ausfall des Bosch-Horns durch eine rasch erworbene Gummi-Hupe ersetzt werden, die von Verachen fleißig betätigt wurde.

Das Staatsexamen 1930 zog sich mit den einzelnen Stationen über vier Monate hin, wurde mit der Gesamtnote "gut" bestanden und von meinen Eltern mit einer gemeinsamen Reise in die Schweiz belohnt.

Als Medizinpraktikant und junger Arzt in Altona und Hamburg

Nach der ersten praktischen Berührung mit der Psychiatrie als Medizinalpraktikant an der Königsberger Universitäts-Nervenklinik hatte ich den Wunsch, mich auch in der Inneren Medizin umzusehen und ging an die Medizinische (Innere) Abteilung des Städtischen Krankenhauses in Altona, die von dem großen Internisten Prof. Leo Lichtwitz, dem Begründer der neueren klinischen Chemie, geleitet wurde. Hier erlernte ich nicht nur Innere, sondern auch Allgemeine Medizinn von der Pike auf`. Denn wir angehenden Arzte mußten im Nacht- und Wochenend-Dienst bei neu aufgenommenen Patienten möglichst sofort eine Diagnose stellen, um zu entscheiden, ob sie in der Inneren, der Chirurgischen, der Gynäkologischen oder auch in der kleinen psychiatrischen Abteilung weiter zu untersuchen und behandeln seien. Natürlich wurde diese Aufgabe von den jeweiligen Ober- oder Chefärzten kontrolliert. Wir hatten, wenn die Laborantinnen nicht im Dienst waren, auch alle Laboratoriumsuntersuchungen selbst auszuführen. Ich erinnere mich, wie ich mich des Nachts stundenlang mit Blutzucker-, Reststickstoff-, Harnsäure-, Kreatininbestimmungen abmühte, um dem Chef Lichtwitz zur Visite am nächsten Morgen die fertige Krankengeschichte der "Zugänge" mit den chemischen und sonstigen Analysen vorlegen zu können. Heute schafft man in einer Hannoverschen Labor-Gemeinschaft mit computerisierten Schnellverfahren bis zu 20 000 Einzelanalysen am Tage und etwa 1500 Blutbilder in einer halben Stunde!

Die Altonaer Zeit bedeutete für mich nicht nur ärztlich, sondern auch persönlich einen wichtigen Lebensabschnitt: Freundschaftliche Beziehungen entwickelten sich mit dem Chirurgischen Oberarzt, meinem Corpsbruder Dr. Hans Reinert und seiner Frau, mit meinem gleichaltrigen Kollegen Joachim, dem Großneffen des berühmten Geigers Josef Joachim , mit Günter Haenisch, Sohn eines bedeutenden Hamburger Röntgenologie-Professors und späterem Professor der Chirurgie, und ganz besonders mit Arthur Jores und seiner Frau Ilse, zwei Menschen, die einen unverlierbaren Platz in meinem Herzen eingenommen haben. Jores gehörte zu den begabtesten Schülern unseres Meisters Lichtwitz , dessen Schule auch andere hervorragende Wissenschaftler und Kliniker entstammen wie Paul Meyer und Hans Adolf Krebs . Lichtwitz verließ 1933 Deutschland und ging nach New York, wo er das Montefiore-Hospital übernahm und seine Forschungen über die Gicht und andere Stoffwechselkrankheiten fortsetzte. Meyer wich nach Lyon aus und Krebs wurde in England (Cambridge und Oxford) für seine Entdeckungen mehrerer Reaktionen des intermediären Stoffwechsels mit dem Nobelpreis für Medizin und Physiologie ausgezeichnet, mit acht Ehrendoktoraten geschmückt und von der Königin geadelt.

In Altona wurde aber nicht nur, wie man in Hamburg sagte, "fix gearbeitet", sondern auch "fix gefeiert": Unvergeßlich ein "Urviechfest" am 16. April 1932, zu dem Ilse und "Arthur" mit folgender Ankündigung eingeladen hatten: Urviecher, die als solche durch Aussehen und Kleidung gekennzeichnet sind, haben freien Eintritt. Kulturviechern und Mistviechern ist der Eintritt verboten!" Lichtwitz war - natürlich! - als "Löwe" erschienen, Haenisch als Hamburger Jung (der er auch war), ich als Rasputin, eine tiefenpsychologisch wieder einmal aufschlußreiche Maskierung, derer ich mich auch später mehrfach und mit Erfolg, besonders bei Damen, bedient habe.
"Es war im schönen Karneval,
Wo, wie auch sonst und überall,
Der Mensch mit ungemeiner List
Zu scheinen sucht, was er nicht ist." (Wilhelm Busch).


Arthur Jores

Auch unsere liebe und verehrte Freundin Frau Dr. rer. nat. Olga Guyot, Chemikerin und Bajuwarin, nahm an diesem wahrhaft rauschenden Fest teil. Sie bildete mit Jores den festen Kern der Lichtwitzschen Crew, die bis weit in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zusammengehalten hat. Damals leitete sie die Forschungslaboratorien der Chemisch-Pharmazeutischen Fabrik "Promonta" in Hamburg. (Peter Bamm, den ich zum erstenmal im Kasino des Allgemeinen Krankenhauses Hamburg-Barmbek - er war Assistenzarzt an dessen Chirurgischen Abteilung - begegnet bin, lieferte ihr einige Werbetexte für das Haarwuchsmittel "Trilysin"!) Antonia und ich blieben der treuen Olly" bis kurz vor ihrem Tode freundschaftlich verbunden. Jores hatte in Altona pathophysiologisch-experimentell und klinisch über die Erkrankungen des Hypophysen-Zwischenhirn-Systems, innersekretorische Störungen und Probleme der Tagesperiodik gearbeitet und war auf dem Wege, auf diesen Gebieten eine international anerkannte Kapazität zu werden. Er habilitierte sich bei Heinrich Curschmann in Rostock, und dort ereilte ihn ein Schicksal, das zu einer tiefgreifenden Wende seines Lebens und seines wissenschaftlichen Wirkens geführt hat: Er versah das erste Exemplar eines von ihm verfaßten Buches "Grundzüge der Inneren Medizin für Studierende der Zahnheilkunde" mit einer Widmung an seinen verehrten Lehrer Prof. Lichtwitz in New York und ließ es in seinem Dienstzimmer liegen. Sein Widersacher an der Rostocker Klinik, ein wissenschaftlich unbeschriebenes, aber sich nach dem NS-Winde drehendes Blatt, namens Böhme, photographierte unbemerkt diese Widmung und übergab sie der zuständigen Parteidienststelle. "Staatsfeindliche Verbindung mit einem emigrierten Juden", hieß dies Delikt, Verlust der Dozentur und "Strafversetzung" in den Bayerischen Wald (!) waren die Folge. Olga Guyot rettete Arthur vor der Verbannung, indem sie ihm einen Forschungsauftrag bei den Promontawerken verschaffte, wo er seine experimentellen Untersuchungen fortsetzen und ihre Ergebnisse im "Handbuch der Neurologie und Inneren Medizin" veröffentlichen konnte. Seine kritische Haltung zum Nationalsozialismus ließ er später allzu deutlich werden, als er während es z. Weltkrieges als Reserve-Sanitätsoffizier der Luftwaffe im Kasino eines Fliegerhorstes in Dänemark äußerte: Wenn Deutschland diesen Krieg gewinnen sollte, so würde das den Untergang des Christentums und der abendländischen Kultur bedeuten! Ein Sanitätssoldat, der das gehört hatte, denunzierte ihn bei der vorgesetzten Dienststelle, und er wurde in einem Kriegsgerichtsverfahren wegen "Wehrkraftzersetzung" zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt! Er verbüßte die Haft in Berlin-Moabit und erlebte dort die Bombenangriffe - die Gefangenen wurden bei Fliegeralarm nicht in den Luftschutzkeller gebracht! - in Todesangst und Gottvertrauen. Damit vollzog sich in Arthur J o r e s ein innerer Wandel in zwei verschiedenen, aber zueinander gehörenden Richtungen: Die Konversion zum katholischen Glauben und der Übergang von der naturwissenschaftlichen zur psychosomatischen Medizin! Er wurde fortan einer ihrer Wegbereiter im deutschsprachigen Raum. Die Themen und Titel seiner Nachkriegsveröffentlichungen waren nun nicht mehr am Hypophysen-Zwischenhirnsystem, am "Melanophorenhormon", der Endokrinologie und 24-StundenRhythmik orientiert, sondern lauteten "Der Mensch und seine Krankheit", "Vom kranken Menschen", "Die Medizin in der Krise unserer Zeit°, "Menschsein als Auftrag". Ein sanftes, keineswegs fanatisches Sendungsbewußtsein schien ihn anfangs das Kind der naturwissenschaftlichen mit dem Bade der psychosomatischen Medizin ausschütten und körperliche Krankheiten schlechthin auf unbewältigte Schulderlebnisse, Konfliktprobleme und fehlenden Glaubenshalt zurückführen zu lassen. In seiner Hamburger Rektoratsrede - er war nach dem Kriege Ordinarius für Innere Medizin und Direktor der z. Medizinischen Klinik des Universitätskrankenhauses Hamburg-Eppendorf geworden - soll er gesagt haben, einer Lungenentzündung lägen Defizite an Sinnerfüllung des Daseins oder Schuldgefühle zugrunde, und sie müsse nicht mit Antibiotika, sondern mit dem Bittgebet behandelt werden. Ich kenne den Wortlaut dieser Rede nicht, weiß aber, daß sie damals schon seinen hervorragenden wissenschaftlichen Ruf zu gefährden drohte. Aber Arthur Jores war selbstkritisch und wissenschaftlich redlich genug um den Bogen des Psychischen in der Genese körperlicher Krankheiten nicht zu überspannen. Dies beweisen seine späteren klinisch und epidemiologisch sorgfältig begründeten Untersuchungen etwa zur "Psychosomatik des Bronchialasthmas", zur Pathogenese und Symptomatik des "Pensionierungsbankrotts" u.a.m. Seine große und vielseitige wissenschaftliche Begabung beruhte auf einem genetischen Code: Vater Leonhard J. Ordinarius für Pathologie, weitere Vorfahren (Thiedemann, Physiologe und Anatom, Bischof, Anatom). Die Freundschaft mit diesem charakterlich vorbildlichen, durch Leiden gereiften, tiefgläubigen, schlichten und bescheidenen Mann, einer wahren "anima candida", hat mir viel bedeutet.

 

Nach dem frühen Tode seiner Frau Ilse heiratete Arthur eine Oberin der Eppendorfer Universitätskliniken, Hanna, mit der wir freundschaftlich verbunden wurden und auch in Arthurs schwerer, zum Tode führender Erkrankung vertrauensvoll geblieben sind. Zu diesem traurigen Ende seines Lebens war es so gekommen: Da im Programmentwurf des Wiesbadener Internistenkongresses 1982 das Thema "Bronchialasthma" nur von der somatischen Seite her behandelt werden sollte, fragte er den Präsidenten des Kongresses, den Gießener Ordinarius für Innere Medizin, an, ob er in einem Kurzvortrag etwas zu der psychischen Entstehungskomponente dieses häufigen und oft schweren Syndroms beitragen könnte. Der Präsident antwortete ihm in einem fast überschwenglich höflichen Dankschreiben, es bedeute eine große Ehre für ihn und die Kongreßteilnehmer, wenn er die anderen Referate durch seine reichen Erfahrungen ergänzen würde. Als Jores dann das fertige Programm erhielt, fehlte sein Name mit der Ankündigung seines Beitrages, ohne daß der Präsident ihm eine Erklärung dafür mitgeteilt hätte! Arthur war so betroffen von dieser Enttäuschung und Unhöflichkeit, daß er wenige Stunden später einen "Schlaganfall" (Hirn-Infarkt) mit durchgehender Lähmung des rechten Armes und Beines und totaler Aphasie (völligem Ausfall des Sprachausdrucks- und verständnisses) erlitt. Eine Reise in die Toskana mußte abgesagt, der Patient sofort in die Intensivabteilung des Städtischen Krankenhauses Altona (unserer ehemaligen gemeinsamen Wirkungsstätte!) aufgenommen und mit künstlicher Ernährung und medikamentösen Infusionen versorgt werden. Es folgte ein langes Leidenslager, über dessen Verlauf Hanna uns in fast täglichen Telefongesprächen berichtete. Es war besonders bedrückend, von ihr zu hören, daß er weinte, wenn er vergeblich zu sprechen versuchte. Sie hat dieses Martyrium bis an die Grenzen ihrer seelisch-körperlichen Belastungsfähigkeit auf sich genommen aus Liebe zu diesem, wie sie sagte, "wunderbaren Mann" und aus Dankbarkeit für die Gemeinschaft mit ihm. In unserem Urlaub auf Norderney lasen wir in der "Ostfriesen-Zeitung" die Nachricht vom Tode des "Nestors der deutschen Psychosomatik". Ich schickte Hanna mit dem Frühschiff ein Gebet-Büchlein aus dem "Ars sacra"-Verlag, das mir unsere Freundin Hedwig Jagdt einmal geschenkt hatte, und fügte die Worte aus Thornton Wilders "Brücke von San Luis Rey" hinzu: "Da ist ein Land der Lebenden und der Toten, und die Brücke zwischen beiden ist die Liebe - das einzig Bleibende, der einzige Sinn..."

Es mag kein "Zufall", sondern sinnvolle Fügung gewesen sein, daß Arthur Jores' Leben durch eine der psychosomatisch entstandenen Erkrankungen endete, denen er seine wissenschaftliche und ärztliche Arbeit in der zweiten Lebenshälfte gewidmet hatte: Der Hirn-Infarkt war unmittelbar nach einer ihn tief verletzenden seelischen Erschütterung aufgetreten, das sicherlich bereits arteriosklerotisch vorgeschädigte Gehirn hielt dieser plötzlichen Belastung nicht stand und reagierte mit einer akuten "Dekompensation"! Mein spanischer Freund Prof. Francisco LIavero hat die Entstehung, Symptomatik und Verlaufsform der "zerebralen Dekompensation" in seiner Monographie "Symptom und Kausalität" dargestellt, die in gedanklichem Zusammenwirken während seines zweijährigen Aufenthaltes in Ilten, der ursprünglich als Wochenendbesuch vorgesehen war, entstanden ist.

 

Hamburg - Barmbek

Nach dem vom NS-Regime erzwungenen Weggang unseres Klinikchefs Leo Lichtwitz und unter der Nachfolge des kühl und unpersönlich wirkenden Prof. Kroetz hielt es die Lichtwitz-Leute und auch mich nicht länger in Altona. Nach vergeblicher Bewerbung als Volontärarzt bei Prof. Viktor von Weizsäcker - Heidelberg, dem ideenreichen Vorkämpfer einer "Medizinischen Anthropologie", nahm ich eine Assistenzarztstelle an der Inneren Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses Hamburg-Barmbek an. Barmbek war zwar ein ärztlich hervorragend geführtes Großkrankenhaus, stand aber etwas im Schatten der Eppendorfer Universitätsklinik, obwohl dort wissenschaftlich hochqualifizierte Internisten wie BennhoId, Reye, der Diabetesforscher Ferdinand Bertram (genannt "Zucker-Ferdi"), der Chirurg OehIecker, der Neurologe Embden, der Dermatologe Delbanco einen international anerkannten Ruf repräsentierten. Jedenfalls flüsterte man sich damals folgende Definition des Begriffes "Größenwahn" zu: "Größenwahn ist es, wenn der Ärztliche Direktor von Barmbek träumt, er sei Medizinalpraktikant in Eppendorf!" Dieses Bonmot konnte ich sehr viel später, 1973, zur Einleitung eines Vortrages zitieren, den ich bei einem Kongreß der Nord- und Nordwestdeutschen Gesellschaft für Innere Medizin im Auditorium maximum der Hamburger Universität gehalten habe. 1932 konnte ich als schlichter Barmbeker nicht ahnen, daß ich selbst einmal als apl. Professor der Hamburger Medizinischen Fakultät angehören und Vorlesungen an der Psychiatrischen Universitätsklinik im "Allerheiligsten Eppendorf" halten würde.

Leitender Arzt der Inneren Abteilung am Barmbeker Krankenhaus war zu meiner Zeit Herr Knaack, der den Professorentitel weniger seinen wissenschaftlichen Leistungen als seiner politischen Reputation als sozialdemokratisches Mitglied der Hamburger Bürgerschaft verdankte. Die Neurologische Abteilung wurde von Prof. Embden (1871 - 1941) geleitet. Ihm kam ich persönlich näher, weil ich seinen Oberarzt, den Sohn des bedeutenden Tübinger Psychiaters Prof. Gaupp, vorübergehend vertreten durfte. Embden, Sohn eines angesehenen jüdischen Rechtsanwaltes, war, wie sein jüngerer Bruder, ein berühmter Physiologe, wissenschaftlich hochbegabt, ein menschlich liebenswerter, gütiger Arzt und überdies ein kultivierter Verehrer der schönen Künste. Hierzu mögen seine verwandtschaftlichen Beziehungen zu Heinrich Weine beigetragen haben, dessen Schwester Charlotte in die Familie Embden eingeheiratet hatte. Dem "unglaublichen Engagement und der Beharrlichkeit" seines Bruders, eines erst zwanzigjährigen Doktoranden am Freiburger Universitäts-Institut für physiologische Chemie, ist der Auftakt zu einem der spannendsten Kapitel der Wissenschaftsgeschichte zu verdanken, nämlich eine Grundlage des heute, im Zeitalter der Gen-Technologie, hochaktuell gewordenen Gebietes der "Humangenetik": Embden hatte durch familiengeschichtliche Untersuchungen an Schwarzwaldbauern herausgefunden, daß eine bestimmte Stoffwechselstörung, die von Embdens Lehrer Professor Baumann und dem Russen WoIkow chemisch identifizierte "Alkaptonurie", auf einer erblichen Determination beruht. Dieses aufsehenerregende Ergebnis wurde fünf Jahre später von dem englischen Kliniker Sir Archibald Garrod bestätigt und von dem englischen Botaniker William Bateson mit einem offensichtlich rezessiven Erbmodus erklärt. Damit konnten die Mendelschen Vererbungsregeln zum erstenmal auf den Menschen angewandt werden. Interessant ist hierbei auch, daß Embdens Doktorarbeit (1893) einen Wendepunkt bildet von der bisher rein sinnlichen Wahrnehmung des für die Alkaptonurie charakteristischen schwarzen Urins zu einem wissenschaftlichen, chemisch-analytischen Nachweis. Der farbenempfängliche und kunstverständige Embden hatte sich, durch den optischen Sinneseindruck fasziniert, auf entsprechende Assoziationen des "visuell hochbegabten Goethe" berufen und die wissenschaftliche Durchdringung primärer Sinneseindrücke zur Forschungsaufgabe erhoben!

Heinrich Embden übernahm als früherer Schüler Max Nonne s 1923 die Barmbeker Neurologische Abteilung mit 180 Betten. Mit Rücksicht auf seine Tätigkeit an einem Feldlazarett im Ersten Weltkrieg, für die er mit dem Eisernen Kreuz erster und zweiter Klasse ausgezeichnet worden ist, durfte er nach 1933 zunächst noch in Barmbek tätig bleiben. Das Eiserne Kreuz wurde auch hier nicht, wie der Schriftsteller Walter Kempowski behauptet hat, nur "als Belohnung für die Tötung feindlicher Soldaten" verliehen, sondern ebenso für Verdienste um die Versorgung Verwundeter und Kranker! So war es auch bei der Verleihung an mich 1942. Ich habe als Arzt im Rußlandfeldzug keine Waffe getragen. Als diesem hochverdienten Arzt und Forscher 1938 die Approbation entzogen wurde, konnte er dank seiner Freundschaft mit dem brasilianischen Pathologen Henrique La Rocha-Lima nach seiner Emigration eine Anstellung als Berater am Instituto Biologico in Sao Paulo finden, wo er kurz nach seinem 70. Geburtstag am 4. April 1941 verstorben ist. Ich werde meine Begegnung mit Heinrich Embden ebenso dankbar in Erinnerung behalten wie die mit dem - ebenfalls jüdischen - Leiter der Barmbeker Dermatologischen Abteilung, Professor DeIbanco, der mich zu meiner ersten - und letzten - dermatologischen Veröffentlichung über das Lymphogranuloma inguinale (oder den "klimatischen Bubo") angeregt und mir dabei mit histologischen Untersuchungen zu den klinischen Befunden geholfen hat. (Eine Würdigung "In memoriam Heinrich Embden, Hamburg 1871 - 1941" ist von dem Medizinhistoriker Privatdozenten Dr. med. Peter Voswinke! in Oldenburg in der Zeitschrift "Arzt und Krankenhaus" 4/91 publiziert worden.)


"Drittes Reich", die Deutschen und ich

Ja - und dann kam der 30. Januar 1933! Ich habe den Tag der "Machtergreifung" durch die Ernennung Adolf HitIers zum Reichskanzler im Kasino des Barmbeker Krankenhauses erlebt. Er begann damit, daß der mir zur Einführung in die Propädeutik der Inneren Medizin zugeteilte Medizinalpraktikant, ein Herr CouteIIe, ein intelligenter, rothaariger junger Mann mit einem scharfnasigen Raubvogelgesicht, in das Zimmer meiner Dienstwohnung stürzte und die sofortige Rückgabe der Schriften erbat, die er mir geliehen hatte. Es waren dies: Das Kommunistische Manifest, Auszüge aus dem Kapital" von Karl Marx, Texte von Engels und Lenin, Gedrucktes also, das für seinen Besitzer wie für mich plötzlich hochgefährlich geworden war. Ich übergab ihm alles und habe ihn seitdem nicht wiedergesehen. Wie ich später erfuhr, hat er als militanter Kommunist am spanischen Bürgerkrieg gegen Franco teilgenommen und ist dann nach Rot-China gegangen. Nach dem Zusammenbruch 1945 ist er nach Deutschland zurückgekehrt. Bei einer Ärzteversammlung in Berlin hat er den uns nahestehenden Röntgenologen Dr. Josef SchöImerich, seinen kommunistischen Genossen, beschuldigt, während des NS-Regimes seine Partei verraten zu haben, indem er angeblich "zur Tarnung" braune SA-Hosen getragen habe. Es kam zu einem öffentlichen Eclat, in dessen tumultuarischen Verlauf die Polizei eingreifen und Herr CoutelIe den Saal verlassen mußte. Schölmerich war nach der "Roten Machtergreifung" im sowjetisch besetzten Teil Berlins dank seiner politischen Verdienste als eine Art Staatssekretär im dortigen Gesundheitsministerium tätig gewesen, bis er jenes "doppelten Spiels" überführt und in das Gulag Workuta am Eismeer verbannt wurde. Über diese Gulag-Zeit hat er später in einem Bestseller "Die Toten kehren zurück", nunmehr in Westdeutschland, berichtet. Doch führten wie es scheint - weder die Workuta-Zeit noch die Erfahrungen mit seinen Genossen zu seiner Abwendung vom Kommunismus oder radikalen Sozialismus". Die "kapitalistische Medizin" in der Bundesrepublik Deutschland hat er in heftiger, verallgemeinernder Polemik kritisiert. Da Antonia ihn, als er unter der NS-Herrschaft inhaftiert war, mit Lebensmittelsendungen ins Gefängnis versorgt hatte und wir damals zu ihm hielten, versprach er nach seiner Befreiung im Frühjahr 1945, dafür zu sorgen, daß ich Ordinarius für Psychiatrie in Leipzig werden sollte. Bei einer Abstimmung im Stadtrat schloß er sich aber dem Kollektiv-Urteil "Janz: Idealist, also kein Materialist", das hieß: "Ideologisch nicht tragbar", an und ließ mich fallen. Er gehörte auch zu denen, die "links dachten und rechts lebten": Als die amerikanische Besatzung Leipzigs im Juni 1945 durch die Sowjet-Armee abgelöst wurde, beeilte er sich, Proudhons These: "Eigentum ist Diebstahl!" auf seine Weise zu praktizieren, indem er meine Hemden trug, bei einer Siegesfeier das von meiner Mutter geerbte Porzellan zerschlug und dazu noch einen Sessel von uns verlangte, was Antonia ihm denn doch abschlug, so daß er sich mit einem Schrank begnügen mußte!

Zurück zum Beginn des "Dritten Reiches" : Als wir im Rundfunk hörten, HitIer sei Reichskanzler geworden, waren wir jungen Ärzte fast ausnahmslos begeistert! "Endlich ist es soweit!", hieß es! HitIer, der Befreier des deutschen Volkes von den "Ketten des Versailler Vertrages", von seiner Demütigung und wirtschaftlichen Erdrückung durch die Reparationszahlungen, von der Not der Arbeitslosigkeit, von der Gefahr des Bolschewismus. Jetzt konnte er in die Tat umsetzen, was man erhofft und er versprochen hatte! "HitIer, unsere letzte Hoffnung!" stand auf einem Wahlplakat der NSDAP! Dem demokratischen Parlamentarismus der Weimarer Republik war das alles nicht gelungen. Er hatte versagt. Wir sahen nur das Positive der braunen Revolution, wir sahen nicht, konnten oder wollten nicht sehen, was es bedeutete, daß der Teufel des Kommunismus mit dem Beelzebub des Nationalsozialismus ausgetrieben wurde, eine Diktatur an die Stelle einer anderen treten sollte. Vor dieser Alternative hatte Deutschland gestanden, und es entschied sich in seiner Mehrheit für das "kleinere Übel"! Die Meisten - auch ich - hatten HitIers "Mein Kampfe nicht gelesen. Seine wahren Ziele: "Großgermanisches Reich", "Lebensraum im Osten", Weltmachtstellung der deutschen Nation", Beseitigung des "Krebsschadens" der Demokratie, Ausstoßung der Juden, Bolschewisten und Marxisten aus der Volksgemeinschaft, Vernichtung des jüdischen Todfeindes der arischen Rasse", wurden daher nicht klar genug erkannt oder traten zurück hinter der Einsicht in die Notwendigkeit, daß eine radikale "nationale und sozialistische" Wende, wie der Name der Partei es versprach, unumgänglich geworden war. Ich selbst glaubte auch an einen antikapitalistischen "Sozialismus", mit dem eine gerechtere Gesellschaftsordnung angestrebt werden sollte, verkannte aber, daß Hitler, wie Joachim C. Fest bemerkt hat, den Sozialismus-Begriff nicht im Sinne "eines humanitären Antriebes und eines Neuentwurfes der Gesellschaft" mit Veränderung der Produktionsverhältnisse verstand. Seine sozialistischen Parolen gehörten vielmehr "ins manipulationsfähige ideologische Vorfeld, das der Tarnung, der Verwirrung diente und nach Opportunitätsmotiven mit wechselnden Schlagworten bestückt war." Die NSDAP nannte sich "sozialistisch", um sich mit dieser populären Vokabel als Arbeiterpartei "der energischsten gesellschaftlichen Kraft und ihrer Wählerschaft zu vergewissern". Diese zynische Tarnungsstrategie HitIers wurde damals nicht durchschaut, und man war fasziniert von der Verbindung des "Nationalismus" als der "Hingabe des Einzelnen für das Ganze" mit dem "Sozialismus" als der "Verantwortung des Ganzen für den Einzelnen"! Man - auch ich - vertraute zudem dem Versprechen HitIers, die Macht "streng legal" zu erringen, (ich höre diese Worte noch immer in seinen vom Rundfunk übertragenen Ansprachen), wußte aber nicht, daß er als Zeuge vor dem Reichsgericht in Leipzig 1930 (in einem Prozeß gegen drei Offiziere, die innerhalb der Reichswehr für die NSDAP geworben hatten) gesagt hatte, wenn er legal zur Macht gekommen sein werde, würden "möglicherweise
legal einige Köpfe rollen"! Es kam hinzu, daß die Regierung im Jahre 1932 mit Franz v. Papen , General v. SchIeicher, fünf weiteren Adligen ("Das Kabinett der Barone"), zwei Konzerndirektoren und dem Reichspräsidenten von Hindenburg sich keiner Popularität erfreute und als zu schwach erwies, die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen auf den Straßen zu beenden. Am 17. Juli 1932 erlebte ich in Altona die blutigsten Straßenkämpfe des Sommers, bei denen ein Demonstrationszug von rund 7000 Nationalsozialisten von den Kommunisten des dortigen Arbeiterviertels mit einem Feuerüberfall von den Dächern und aus den Fenstern beantwortet wurde. Es gab siebzehn Tote und viele Schwerverletzte, die zum Teil von meinem Corpsbruder, dem Chirurgen Dr. Borbe und seiner Frau, einer früheren Krankenschwester, versorgt werden mußten. Alles dies verlangte nach einer "starken Hand", und ich überwand mein physiognomisches Mißvergnügen an Hitlers bei seinen Propagandareden theatralisch verzerrter Visage", indem ich meinen Namen in eine uns Ärzten des Barmbeker Krankenhauses vorgelegte Liste mit der Aufforderung zur Mitgliedschaft in der NSDAP eintrug. (Sympathischer war mir da schon das zwar plumpe, aber gutmütige Gesicht des "guten, ehrlichen" Gregor Strasser, den HitIer bei der sogenannten Röhm-Revolte 1934 ermorden ließ.) Ich glaube, es war im Mai 1933. Wie konnte ich ahnen, daß ich damit einen "Pakt mit dem Teufel" schloß und nach dem Zusammenbruch des "Dritten Reiches" für diesen Fehltritt eine Zeitlang büßen mußte? Ich hatte geglaubt, einer guten Sache für die nationale und soziale "Erhebung" des deutschen Volkes zu dienen.

Heute fassen wir, die wir dieser Illusion erlegen waren, uns an den Kopf über die Einengung des politischen Blickfeldes, die uns die größenwahnsinnigen Ziele Hitlers nicht voraussehen oder verdrängen ließ. Aber wir jungen Akademiker standen ja nicht allein mit unserer unkritischen Begeisterung, sondern sahen sie zunächst bestätigt: durch Hitlers innenpolitische Leistungen und Erfolge, durch den an ein Wunder grenzenden wirtschaftlichen Aufstieg, durch die Vollbeschäftigung seit 1936 und die Überwindung der sozialen Not - alles ohne Inflation! So kam es, daß die deutsche Arbeiterschaft nach 1933 "in hellen Haufen von der SPD und KPD zu Hitler umschwenkte, und daß auch die Deutschen, die keine überzeugten Nationalsozialisten waren "Hitleranhänger, Führergläubige" wurden... "und das waren auf den Höhepunkten der allgemeinen Führergläubigkeit wohl sicher mehr als neunzig Prozent aller Deutschen", schreibt Sebastian Haffner in seinen "Anmerkungen zu Hitler"! Hitlers anhaltende Erfolge demonstrierten, wie Joachim C. Fest richtig gesehen hat, "wie sehr der Nationalsozialismus eine charismatische, wie wenig er eine ideologische Bewegung war, daß er nicht auf ein Programm, sondern auf einen Führer blickte..." Nach dem Preis, den seine Leistungen kosten würden, nach den Folgen der Alleinherrschaft eines Mannes und seiner Partei, der Unterdrückung der freien Meinungsäußerung, nach dem Spitzelsystem einer Diktatur - in der kommunistischen noch perfekter und gefährlicher entwickelt -, nach diesem zu hohen Preis fragten die wenigsten. Man sah nicht voraus, daß die unzweifelhaft grandiose Aufbauleistung Hitlers schließlich zu einer "Zerstörungsleistung" wurde, wie Haffner sagt. Man war durch die Propagandareden des Diktators geblendet, seinem Faszinosum verfallen. Ich erinnere mich genau, wie ich mich persönlich suggestiv angesprochen fühlte, als er auf dem Königsberger Flugplatz Devau im Frühjahr 1934 auf seinem offenen Mercedes mit ausgestrecktem Arm stehend, dicht an mir vorüberfuhr und seinen Blick direkt auf mich zu richten schien! Plötzlich war er mir nicht mehr so unsympathisch! Meine Vorbehalte zerflossen unter seinem Blick!
 
War es nicht das, was Stefan George schon 1921 prophetisch verkündet hatte? "Der sprengt die Ketten fegt auf trümmerstätten Die Ordnung, geisselt die verlaufnen heim Das ewige recht wo gross wiederum gross ist Herr wiederum herr, zucht wiederum zucht, er heftet Das wahre sinnbild (Hakenkreuz!) auf das völkische banner Er führt durch sturm und grausige signale Des frührots seiner treuen schar zum werk des wachen tags und pflanzt das Neue Reich."

Wir haben uns auch durch HitIers Friedensbeteuerungen irreführen lassen, deren Glaubhaftigkeit durch seine nicht minder erstaunlichen außenpolitischen Erfolge bestätigt zu sein schien, während er später zugab, daß er sie bewußt als Täuschungsmanöver eingeplant habe! Die Fakten: 1935 Wiederbewaffnung durch allgemeine Wehrpflicht unter Bruch des Versailler Vertrages, 1936 Remilitarisierung des Rheinlandes unter Bruch des Locarno-Vertrages, Flottenvertrag mit England, 1938 Anschluß Österreichs zum "Großdeutschland", Annexion des Sudetenlandes mit Billigung Frankreichs und Englands, 1939 Protektorat über Böhmen und Mähren, Besetzung Memels - alles ohne Krieg! Die "Appeasement-Politik" Englands und Frankreichs erleichterte es dem "Führer", mit diesen Schritten, die das Ausland eigentlich aufs höchste beunruhigt haben müßten, ungestört einen neuen Krieg vorzubereiten. Dann kamen die kriegerischen Erfolge: 1939 schneller Sieg über Polen, 1940 Besetzung Dänemarks, Norwegens, Hollands, Belgiens, Luxemburgs, rasche Niederringung Frankreichs, 1941 Besetzung Griechenlands und Jugoslawiens. "Hitler beherrscht den europäischen Kontinent!" Bei dem Überfall auf die Sowjet-Union am 21. Juni 1941, von dem ich eines Morgens erfuhr - ich war damals Leiter einer von mir aufgebauten psychiatrisch-neurologischen Untersuchungs- und Behandlungsabteilung am Luftwaffenlazarett Halle-Dölau - befiel mich der schreckhafte Gedanke: "Wehe, wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe!" Ich erlebte dann auch nach den täuschenden Anfangserfolgen die ersten Rückzugsbewegungen der deutschen Truppen im Südabschnitt der Front. Entgegen den Plänen HitIers waren wir vor dem Einbruch des Winters nicht bis zum Kaspischen Meer und den dortigen Ölquellen vorgedrungen, sondern aus Rostow am Don bis hinter Taganrog zurückgeschlagen worden. Als ich von Djnepropetrowsk aus zur Inspektion meiner Sanitätseinheiten in diese Gegend, nach Mariupol am Asowschen Meer, fuhr, wurde mir klar, daß der vom Zaun gebrochene "Europafeldzug" gegen Rußland verloren war. Im Stillen begrüßte ich diese Bestrafung der Hybris des Größten Führers aller Zeiten" ("Gröfaz" genannt!), auch wenn sie uns alle in die Katastrophe mitreißen würde. Sechseinhalb Jahre hatten ihn von dem Höhepunkt seines Ruhms - 1938-39 - getrennt, "sechs Jahre mit grotesken Irrtümern, Fehlern über Fehlern, Verbrechen, Krämpfen, Vernichtungswahn und Tod", schreibt Joachim C. Fest in seinem Hitler-Buch. Fest wagt folgende Überlegung: Wäre HitIer 1938 einem Attentat zum Opfer gefallen, würden nur wenige zögern, ihn einen der größten Staatsmänner der Deutschen, vielleicht den Vollender ihrer Geschichte zu nennen. Seine aggressiven Reden, ,Mein Kampf, der Antisemitismus und das Weltherrschaftskonzept wären vermutlich als Phantasiewerk früher Jahre in die Vergessenheit geraten ..." Zu diesem Gedankenexperiment läßt sich heute nur sagen: Auch wenn HitIer durch einen frühen Tod, etwa 1938, daran gehindert worden wäre, seine späteren Massenverbrechen, die "Endlösung der Judenfrage", Auschwitz, zu begehen, würde man in ihm später nicht mehr "einen der größten Staatsmänner der Deutschen" sehen, und zwar, wie Haffner meint, aus zwei Gründen: HitIer sei bereits 1938 - mit Sicherheit schon viel früher - zum Krieg entschlossen gewesen, der halle seine vorausgehenden Leistungen aufs Spiel setzen mußte", und tatsächlich auch zerstört hat. Zweitens: Er hätte keine Verfassung, keine Institution, sondern ein staatliches Chaos hinterlassen, das nur durch seine Person zusammengehalten und verdeckt wurde. Er habe "die Funktionsfähigkeit des Staates zugunsten seiner persönlichen Allmacht und Unersetzlichkeit von Anfang an bewußt zerstört." Dies allein unterscheide ihn von großen Staatsmännern wie Bismarck und Napoleon. Aber es sind noch andere und, wie ich denken, tiefere Gründe, die uns heute davor bewahren, ihn als überragenden Staatsmann zu rühmen: Inzwischen 1991 - sind die meisten Diktaturen mit ihren Diktatoren bis auf wenige Reste Rot-China, Kuba, einige afrikanische Staaten - gescheitert. In der zivilisierten Welt hat sich ein politischer Reifungsprozeß vollzogen, der die Völker aufbegehren läßt gegen die Unterdrückung der Freiheit durch den Machtanspruch ideologischer, im besonderen kommunistischer Systeme. Die Denkmäler Lenins, Stalins, Ceaucescus oder wie sie auch heißen mögen, werden gestürzt. Das Recht und der Anspruch auf Selbstbestimmung, Freiheit der Meinungsäußerung, Toleranz der Andersdenkenden setzt sich mehr und mehr durch. Das Verlangen nach einem tyrannischen "Retter" und "Befreier" weicht einer wachsenden Mündigkeit der Völker. Es besteht weithin kein Bedarf mehr nach einem Alleinherrscher. Rechts- und linksextremistische Totalitätsansprüche sehen sich in Außenseiterpositionen verwiesen. Deshalb wäre auch dem Diktator HitIer heute wahrscheinlich ein gleiches Schicksal beschieden gewesen. Die Nachwelt hätte ihm keine "Kränze geflochten". Seine Glorifizierung durch einen Märtyrertod bei dem Attentat vom 20. Juli 1944 ist dem deutschen Volk erspart geblieben. Die Genocide, die von ihm gewollt und in seinem Namen begangen worden sind, waren zwar vergleichbar mit denen Stalins, aber einzigartig in den Methoden ihrer technischen und chemischen Durchführung und in ihrer Begründung: Vernichtung des Rassenfeindes, nicht des Klassenfeindes! Nach und nach wäre es auch in die Öffentlichkeit gedrungen, was zunächst nur Wenige wußten: Daß es schon seit 1933 Konzentrationslager gab, daß bereits am 1. April 1933 jüdische Geschäfte durch die SA boykottiert und zerstört worden waren, und daß HitIer seit Dezember 1941, als er sah, daß der Krieg nicht mehr zu gewinnen war und seine Weltherrschaftsziele aufgegeben werden mußten, sich zur radikalen Judenausrottung in Europa entschlossen hatte. Damit dankte der "Politiker HitIer endgültig ab zugunsten des Massenmörders Hitler ", wie Haffner scharf und treffend formuliert hat. Der Nimbus HitIers, die "Droge", von der das deutsche Volk berauscht war, wäre damals schon verflogen, wenn bekannt geworden wäre, daß er am 27. November 1941 dem schwedischen Außenminister Scavenius und dem jugoslawischen Außenminister Lorkovic gegenüber erklärt hat: "Wenn das deutsche Volk einmal nicht mehr stark und opferbereit genug ist, sein Blut für seine Existenz einzusetzen, so sollte es vergehen und von einer anderen, stärkeren Macht vernichtet werden, ich werde dem deutschen Volk keine Träne nachweinen!" (zitiert nach Andreas HiIIgruber: "Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler", Frankfurt/M - 1967-70.) Mit diesen Worten hatte sich HitIer entlarvt! Er war dann auch entschlossen, die Konsequenzen zu ziehen und die Deutschen der Rache der Russen auszuliefern, wenn sie nicht mit ihm »durch Dick und Dünn gingen"! Mit seinem "Nerobefehl" vom 19. März 1945 sollte allen Deutschen durch die Zerstörung der Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen und der Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes jede Überlebensmöglichkeit genommen werden! Seinem früheren Architekten und späteren Rüstungsminister Albert Speer ("Des Teufels Architekt") hat er auf dessen Einwände hin "in eisigem Ton" erklärt, es sei »nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen". Es sei im Gegenteil besser, diese Dinge zu zerstören. Denn das Volk habe sich als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehöre ausschließlich die Zukunft! Was nach diesem Kampf übrig bleibe, seien ohnehin die Minderwertigen, "denn die guten sind gefallen!" (zitiert nach Haffner).

So wie HitIer damit zum Verräter seines Volkes geworden ist, muß sich das Volk von ihm verraten gefühlt haben. So, wie er die Deutschen verachtet hat, als sie ihm nicht mehr "durch Dick und Dünn" folgen wollten und konnten, so verdiente er, von ihnen verachtet zu werden, als sie erfuhren, wie er über sie dachte. Natürlich gab es damals Leute, die das nicht wahrhaben wollten, es beschönigten oder verdrängten. Ich selbst wäre fast das Opfer unbeirrbarer Führertreue geworden, als ich am 20. Juli 1944 nach der Rundfunkmeldung, HitIer habe das Attentat überlebt, den Verwaltungsdirektor unserer Leipziger Klinik fragte: "Was sagen Sie dazu, daß Hitler lebt? Ist das nicht schlimm?" Seine Antwort: "Das will ich nicht gehört haben, Herr Oberarzt!"

Wenn man aber in der letzten Zeit des Krieges bei Zivilisten und Soldaten herumhörte - und ich habe das gründlich getan -, dann wurde bestätigt, was Haffner meint: Die feindliche Besatzung, die dem Zusammenbruch folgte, sei - jedenfalls im Westen - ganz überwiegend als Erlösung begrüßt worden, die Amerikaner, Briten und Franzosen, die erwartet hatten, ein Volk von Nationalsozialisten vorzufinden, seien statt dessen auf ein gründlich desillusioniertes Volk gestoßen, das nichts mehr mit HitIer zu schaffen haben wollte. "Die Umerziehung, die die Alliierten sich vorgenommen hatten, hatte in den letzten Wochen HitIer auf drastische Weise selbst vollzogen." Freilich - Unentwegte gibt es auch heute noch. Dummköpfe, Unbelehrbare und Fanatiker sterben nicht aus!


Hitler als psychopathologisches Problem


Für den psychopathologisch Kundigen ist HitIer das massenkriminell gewordene Exempel eines "fanatischen Psychopathen", und zwar eines sogenannten Kampffanatikers": Kampffanatiker sind Persönlichkeiten, deren Denken, Wollen und Handeln von einer "überwertigen Idee" (oder Ideologie) und damit von der Überzeugung, im Besitz der alleingültigen Wahrheit zu sein, bestimmt wird. Sie verfolgen ihre Ziele mit der Starrheit, Verbissenheit und Radikalität ihres Sendungsbewußtseins. Die überwertige Idee war für HitIer wie für Goebbels und andere Nationalsozialisten - die Überzeugung, das "Internationale Judentum" sei als "zersetzendes Element" der Weltfeind, der "Weltvergifter", und in "schonungslosem Kampf' zu vernichten. In seinem Testament vom 29. April 1945 bezeichnete er dieses Ziel als eine "heilige Aufgabe". Die Juden und ihre Helfer trügen auch die Alleinschuld am Kriege!

Eine derartige Absurdität und realitätsfremde Verstiegenheit des Denkens grenzt an einen Wahn", ist aber nicht identisch mit diesem, in seinem strengen Sinne verstandenen Begriff. Ein Fanatiker ist kein Wahnkranker, kein Schizophrener, sondern eine "abnorme Persönlichkeit", ein "Charakteropath", wie ich den Typus des "Psychopathen" lieber nenne. Psychopathen sind nach einer Definition des Heidelberger Psychiaters Kurt Schneider, dem wir eine klare, wenn auch bisweilen unvermeidbar starre Begriffsordnung in der klinischen Psychopathologie verdanken, "abnorme Persönlichkeiten, die an ihrer Abnormität leiden, oder - und dies trifft im besonderen auf HitIer zu - unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet." Sie sind Varianten, Abweichungen von einer nicht näher bestimmbaren Durchschnittsbreite menschlicher Eigenschaften und Verhaltensweisen. Als fanatischer Psychopath war HitIer eine aktivaggressive, "expansive" Persönlichkeit, ein "Ideenfanatiker", der "für sein Programm kämpft oder demonstriert"! Bei ihm war zugleich ein Geltungsbedürfnis erkennbar, das sich in "exzentrischem Wesen" - "um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen" - und ein Bedürfnis nach "selbstgefälligem Renommieren" - "um die eigene Persönlichkeit zu heben" - äußerte (zitiert - ohne ausdrücklichen Bezug auf HitIer - nach Kurt Schneider). Er glaubte, im Auftrag der von ihm immer wieder beschworenen ,Vorsehung" eine "heils"-geschichtliche Sendung ("Heil Hitler!", "Sieg-Heil!") erfüllen zu müssen. "Ich gehe den mir vorgeschriebenen Weg mit nachtwandlerischer Sicherheit!", sagte er in seiner Münchener Rede am 15. März 1936. Dieses "nachtwandlerische" Sendungsbewußtsein unterscheidet sich von einem schizophrenen Wahn dadurch, daß es aus einer primären Persönlichkeitsstruktur und ihrer Lebensgeschichte verstehbar und kontinuierlich - sinngesetzlich ableitbar ist. Der schizophrene oder sonstige psychotische Wahn etwa als "Wahnwahrnehmung" oder "Wahneinfall" hingegen läßt sich vom Charakter und von der Biographie her nicht sinngesetzlich verstehen, sondern nur - und dies auch nicht immer - kausal erklären. (Ich folge auch hier der empirisch begründeten begrifflichen Unterscheidung Kurt Schneiders ).

Dies bedeutet: HitIer war kein seelisch Kranker! Er stand zwar gleichsam zwischen den Polen psychisch gesund und psychisch krank, aber er war auf Grund seiner Intelligenz und seiner unbezweifelbaren politischen Begabung fähig, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden und war damit auch voll verantwortlich für sein Wollen und Handeln. Wenn seine Verbrechen Gegenstand eines gerichtlichen Strafverfahrens geworden wären, hätte ein hinreichend erfahrener psychiatrischer Sachverständiger die Anwendung der Paragraphen 20 oder 21 des heutigen Strafgesetzbuches, das heißt: des Ausschlusses oder der Verminderung der Schuldfähigkeit nicht begründen können. Denn die im Gesetz genannten Voraussetzungen für Schuld-Unfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit im strafrechtlichen Sinne - : "krankhafte seelische Störung", "tiefgreifende Bewußtseinsstörung", "Schwachsinn" wären nicht erfüllt gewesen. Auch der in der neuen Fassung des Strafgesetzbuches hinzugekommene Begriff einer "schweren anderen seelischen Abartigkeit" hätte zwar diskutiert werden, aber nicht begründen können, daß diese "Abartigkeit" den "Angeklagten schuld-unfähig" oder "vermindert schuld-fähig" werden ließ. Denn dann müßte HitIer bereits seit seiner Jugend als nicht verantwortlich oder vermindert verantwortlich im strafrechtlichen Sinne gegolten haben, weil er schon im Jahre 1913, wie er in beiden Bänden seines Buches "Mein Kampf' schreibt, die Oberzeugung vom "Weltfeind Judentum" vertreten hat! Die Vorstellung vom Judentum als Haßobjekt war bei ihm sehr früh vorgeprägt durch den neurotisierenden Einfluß der Lektüre eines "rassekundlichen Magazins", das von einem verschrobenen Wiener "Philosophen" mit dem angemaßten Adelsnamen Jörg Lanz von Liebenfels herausgegeben wurde. Dieser seltsame Mann, ein entlaufener Mönch, verkündete ihm Namen der germanischen Frühlingsgöttin Ostara eine "ebenso schrullenhafte wie mörderische Lehre vom Kampf der Asinge (oder Heldlinge) gegen die Äfflinge (oder Schrättlinge)", einem "Kampf bis aufs Kastrationsmesser", mit welchem der Rassenkampf dem sozialistischen Klassenkampf entgegengesetzt, die Ausrottung des Tiermenschen und die Entwicklung des "höheren", blonden und blauäugigen "Neumenschen" erreicht werden sollte! Seine eigentliche antisemitische Ideologie wurzelte aber in "drei ideologischen Schlüsselfiguren", von denen HitIer in seinen Wiener Jahren beherrscht wurde: Dies waren der Begründer und Führer der Alldeutschen Bewegung, der österreichische Gutsbesitzer Georg Ritter von Schönerer, ein Radikalpatriot, der seine Briefe "mit deutschem Gruß" unterschrieb und über dessen Bett Kernsprüche hingen wie »Ohne Juda, ohne Rom Wird gebaut Germaniens Dom. Heil!" Der Andere, dessen Anhänger und Nachbeter HitIer wurde, war der Bürgermeister von Wien und Führer der Christlich-Sozialen Partei Dr. Karl Lueger, ein demagogisch begabter, populärer Mann, der die Interessen des Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft vertrat und von ihm überschwenglich als "der letzte große Deutsche der Ostmark" und "gewaltigste deutsche Bürgermeister aller Zeiten" gepriesen wurde. Sein drittes Idol war Richard Wagner, in dem er "die größte Prophetengestalt, die das deutsche Volk besessen habe", sah. An Wagner bewunderte er die verführerische, massenverzaubernde Wirkung der Musik der Opern mit ihrer "unverwechselbaren Mischung von Walhall, Revue und Tempeldienst" (den Vorläufern der Theatralisierung des öffentlichen Lebens im Dritten Reich!) (Joachim C. Fest), und er fühlte sich zugleich innerlich verwandt mit dem "großen Mann", von dessen überragender Bedeutung für die Entwicklung des "deutschen Menschen", seinem Mut und seiner Energie, politisch zu wirken, er fasziniert war. Er identifizierte sich auch mit Wagners frühen Enttäuschungen und unbeirrbaren Berufungsglauben erfülltem Leben, das "am Ende in Weltruhmesglanz mündete" (Thomas Mann in "Leiden und Größe Richard Wagners") und ihm als Vorbild seiner eigenen Lebensvision erschien. Der Judenhaß Wagners stand hinter Hitlers Widerwillen gegen Wien mit seinem "Völkergemisch" und dem "ewigen Spaltpilz der Menschheit - Juden und wieder Juden." (In: "Mein Kampf").

Im besonderen mochte den jungen, von sozialem Abgleiten bedrohten und zeitweilig unter Deklassierten in einem Wiener Männerheim lebenden HitIer mit seinem Idol Wagner der verbissene, eben fanatische Wille verbunden haben, die Menschheit durch ein außerordentliches, künstlerisches (!) Werk von der behaupteten Herrschaft einer minderwertigen Rasse, dem "Fluch des Goldes", der bürgerlichen Dekadenz zu befreien. Die entscheidende Rolle des Vernichtungsantisemitismus Wagners und seiner davon geprägten WerteIdee bei der Entstehung von Hitlers Vernichtungswillen gegenüber dem Judentum ist in den mit vorbildlicher wissenschaftlicher Sorgfalt dokumentierten Untersuchungen Hartmut ZeIinskys seit über zwanzig Jahren dargestellt worden. Den Anfang machte die 1976 erstmals erschienene Dokumentation zur Wirkungsgeschichte Richard Wagners 1876 - 1976 "Richard Wagner - ein deutsches Thema", der über ein Dutzend zum Teil umfangreiche Aufsätze und 1990 ein weiteres Buch über den Siegeszug der Werte-Idee Wagners als einer deutschen Idee und einer deutschen - das heißt antisemitischen - Bewegung seit der Thronbesteigung Kaiser Wilhelm II. 1888 folgten. ZeIinskys Arbeiten haben bei zahlreichen wagnerianischen Kritikern einen polemischen Zelinsky-Effekt ausgelöst, der es erschwert, daß diese grundlegenden Forschungsergebnisse so vorurteils- und emotionsfrei gewürdigt werden, wie sie es verdienen. Die Wirkung der Thesen ZeIinskys erkennt man zumindest daran, daß amerikanische Autoren - wie P. L. Rose oder Marc Winer - sie in ihren jüngeren Büchern ausdrücklich zur Sprache bringen, deutsche Autoren sich aber ihrer bedienen, ohne den Namen ZeIinskys überhaupt oder adäquat anzuführen. So z. B. Joachim C. Fest in einem umfangreichen Wagner-Aufsatz in der FAZ - im Oktober 1996 - oder Joachim Köhler in seinem 1997 veröffentlichten Buch "Wagners Hitler", für das er sich mit unbekümmerter Unverfrorenheit den Ansichten und Thesen ZeIinskys bediente und sie breit ausschlachtete.

Zu den Wagner-Einflüssen, die, wie HitIer selbst sagte, das granitene Fundament" seiner Weltanschauung bildeten, kamen die antidemokratischen Tendenzen der damaligen Zeit: die aristokratische Rassenideologie Graf Gobineaus und die wagnerhörigen Rassenschriften Houston Stewart ChamberIains sowie der "Sozialdarwinismus" als angewandte Naturwissenschaft im Denken des 19. Jahrhunderts ( Darwins "Kampf ums Dasein", Sicherung der Überlegenheit eines Volkes durch Ausmerzung der Minderwertigen, Untüchtigen und Züchtung eines biologisch und rassisch hochwertigen Menschen).

So erwuchs aus der charakterlichen Abartigkeit des eigenbrötlerischen, rechthaberischen und einer wirklichen Freundschaft unfähigen Außenseiters HitIer, aus seinen sozialen Ängsten und Ressentiments und aus dem Geist seiner Zeit die überwertige Idee, zum Erlöser des deutschen Volkes von seinen Verderbern, dem Judentum und den anderen rassisch Minderwertigen, ja, schließlich zum "Weltherrscher" berufen zu sein. Nietzsche hat mit seinem psychologischen Spürsinn erkannt, daß dem übersteigerten Selbstwertgefühl des Fanatikers keine eigentliche Ich-Stärke zugrundezuliegen braucht, sondern daß es Ausdruck des Versuches, innere Schwächen und Unsicherheiten zu überwinden, sein kann. "Der Fanatismus ist nämlich die einzige ,Willensstärke', zu der auch die Schwachen und Unsicheren gebracht werden können."

Ich erwähne diese psychologischen und zeitgeschichtlichen Deutungsversuche zum Problem "HitIer, Deutschland und die Deutschen!" - sie sind in detaillierter und überzeugender Darstellung bei Joachim C. Fest nachzulesen - um noch näher zu begründen, daß wir es bei HitIer eben nicht mit einem Wahnkranken zu tun haben, sondern mit einem Fanatiker, dessen unheilvolles Wirken sich rational und emotional, biographisch und zeitgeschichtlich verstehbar ableiten läßt. Dies gelingt jedoch nicht bei einem schizophren Wahnkranken, der, wie zum Beispiel einer meiner Patienten, die Wirtin seiner Berliner Wohnung auf grauenhafte Weise ermordete, weil er in ihr ein "hochgefährliches Insekt", den "Weltfeind", erkannte, von dem er die Menschheit befreien zu müssen glaubte. Hier handelt es sich nicht um eine "überwertige", sondern um eine mit halluzinatorischer Verkennung verbundene Wahn-Idee, die als etwas psychogenetisch Unverstehbares, qualitativ Neues und Fremdes die bisher unauffällige Persönlichkeitsentwicklung und Lebensgeschichte unvermittelt durchbrach. Natürlich kennen wir "überwertige Ideen" bei Entdeckern, Erfindern, Religionsstiftern. Aber sie unterscheiden sich von der Adolf HitIers dadurch, daß sie einem schöpferischen Genius entspringen und auf verschiedene Weise einem Fortschritt der Menschheit zu dienen pflegen. Hitlers überwertige Idee schien nur anfangs im Dienste eines aufbauenden Willens zu stehen, um sich später in das zerstörerischste Verhängnis des 20. Jahrhunderts zu verkehren. Er wollte nicht auch dienen, sondern nur herrschen, ohne sich selber beherrschen zu können - oder zu wollen.
 
Von einer inhaltlich verschiedenartigen, aber psychopathologisch vergleichbaren überwertigen Idee können wir auch bei einem anderen großen Kampffanatiker unseres Zeitalters, Lenin , sprechen. Von ihm sagte ein boischewikischer Kritiker", Woronski: "Er spricht wie ein Mensch, der immer die gleiche Idee hat, die Idee der Ideen, um welche die Splitter aller anderen Gedanken kreisen wie die Planeten um die Sonne" (zitiert nach Josef Rudin "Fanatismus", Walter Verlag Olten, 1965).
 

Es ist erwiesen, daß HitIer in den letzten Jahren seines Lebens an einem "Spätparkinsonismus" ("Schüttelzittern") gelitten hat. Aber keine Äußerung eines der Augenzeugen, die HitIer in den letzten Tagen seines Lebens gesehen und gesprochen haben (Speer, General Guderian, Dr. med. Giesing und Andere) läßt darauf schließen, daß er "wahnsinnig" oder "dement", das heißt intellektuell defekt, "schwachsinnig" geworden sei. Er wirkte auf Speer zwar "greisenhaft, gebeugt, seelisch leer, ausgebrannt, ohne Leben", sein Gedächtnis hatte nachgelassen, seine Hände zitterten, sein Gang war schleppend und schwankend, die Stimme matt, und seine Neigung zu ungehemmten Wutausbrüchen, bei denen er "am ganzen Leibe zitterte", und dem, der ihm zu widersprechen wagte, wie zuletzt seinem Generalstabschef Guderian, sich überschreiend seine Vorwürfe entgegenschleuderte, erschien noch nicht ganz erloschen. Albert Speer schreibt, wenn in der Presse zu lesen gewesen sei, HitIer sei in diesen letzten Wochen vor Wut, Ohnmacht und Verzweiflung über seine gescheiterten Pläne wahnsinnig geworden, so könne davon keine Rede sein. Von Sinnen sei ihm, Speer, vielmehr ein Teil seiner Umgebung erschienen, zum Beispiel ein General Busse, der von der Hinfälligkeit der Erscheinung des "Führers" geradezu geschwärmt und dann ausgerufen haben soll: "So habe ich mir immer Friedrich den Großen nach Kunersdorf vorgestellt." Inmitten der
allgemeinen Kopflosigkeit im unterirdischen Bunker der Reichskanzlei kurz vor dem Ende sei HitIer der einzige gewesen, der sich keine Illusionen darüber machte, daß der Krieg verloren ist. In seinem von dem englischen Historiker Hugh R. Trevor- Roper herausgegebenen "Politischen Testament" habe HitIer für die Nachwelt kühl, nüchtern und mit einer Art geschichtsphilosophischer Überlegenheit" begründet, warum Deutschland den Krieg verlieren mußte! Während er in den Lagebesprechungen "Zuversicht verbreitete, Zehntausende von Hitler-Jungen gegen russische Panzer schickte und unbefestigte Städte zu Festungen erklärte", habe er selbst davon nichts geglaubt - "alles Lüge, alles Zynismus!" Ich bezweifele, ob HitIer damit bewußt "gelogen" hat. Es liegt näher, anzunehmen, daß hier zwei Seiten seines Wesens hervorgetreten sind: Hier sein kalter, klarer Verstand, dort der irrationale und unbeirrbare Glaube an seine Sendung. Nach der jeweiligen Situation spielte er die eine oder die andere Seite aus. Das ist es, was Speer mit der Frage meinte: "Was war Verstellung, was Berechnung?", und was er mit dem Satz sagen wollte: "Er sprach mit zweierlei Zungen!" Mit einer Zunge sprach er, als er zu seinem Architekten und Rüstungsminister sagte: "Glauben Sie mir, Speer, es fällt mir leicht, mein Leben zu beenden. Ein kurzer Moment, und ich bin von allem befreit, von diesem qualvollen Dasein erlöst."

Daß HitIer in den letzten Monaten von Januar bis April 1945 jede Kontrolle über die Ereignisse und jeden Realitätssinn verloren hatte, war kein Zeichen einer seelischen Erkrankung, sondern Ausdruck eines psychologisch verständlichen Verdrängungsvorganges als Reaktion auf den Selbsterhaltungswillen in einer Extremsituation. "Wenn er vom Ende sprach, dann von dem seinen und nicht von dem seines Volkes", sagte Speer , der in Hitlers "Flucht in das zukünftige Todesgewölbe" auch eine symbolische Bedeutung sah, eine Abschottung von der Wirklichkeit der Tragödie "seines" Volkes, für die er nicht verantwortlich sein wollte. Hier enthüllte sich der wahre HitIer, der im Grunde nur sich selbst liebte, wenn er vorgab, sein Volk zu lieben.
Auch sein Mißtrauen, das sich in den letzten Monaten zu grotesken Formen gesteigert haben soll, gehörte zu den Merkmalen eines extrem egozentrischen Menschen. Es hatte nichts mit einer "paranoiden", krankhaften Persönlichkeitsveränderung zu tun. Albert Speer sind interessante Hinweise auf HitIers Charaktereigenschaften zu verdanken, wie er sie im langjährigen, engen Umgang mit ihm beobachten konnte: "Wohl könnte ich sagen, daß er grausam, ungerecht, unnahbar, kalt, unbeherrscht, wehleidig und ordinär gewesen sei, und tatsächlich war er das alles auch. Zugleich jedoch war er von fast allem auch das gerade Gegenteil: Er konnte ein fürsorglicher Hausvater, ein nachsichtiger Vorgesetzter, liebenswürdig, selbstkontrolliert, stolz und begeisterungsfähig für alles Schöne, Große sein ..."
 
Hierzu fällt mir ein, daß eine uns nahestehende Bekannte, die Hitler als Hausdame in der Berliner Reichskanzlei täglich gesehen und häufig gesprochen hat, "nur Gutes" von ihm zu sagen wußte: Er sei immer höflich, verbindlich, charmant und liebenswürdig gewesen und habe sich fürsorglich um das Wohl seiner engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gekümmert. Als die ersten "Gerüchte" über Verbrechen an Juden, Deportationen, Konzentrationslager usw. durchsickerten, hätte niemand dem "Führer" zugetraut, daß er dafür verantwortlich war. Das könnten nur ohne sein Wissen HimmIer oder Andere veranlaßt haben!

"Nur zwei Begriffe fallen mir ein", schreibt Speer weiter, die alle seine Charaktereigenschaften decken und der gemeinsame Nenner dieser vielen Gegensätze sind: "undurchschaubar und unaufrichtig!" "im ganzen blieb sein Wesen rätselhaft, auch für die wenigen ihm Nahestehenden. Er hatte keine Freunde. Wenn er einen Freund gehabt hätte, dann wäre er, Speer, es gewesen!" Aber er war keiner Freundschaft, die diesen Namen verdient, fähig. Als er erfuhr, daß Speer seinen "Verbrannte Erde"-Befehl - Zerstörung aller Industrie- und Nachrichtenanlagen, also der Grundlagen des Volkslebens - sabotiert hatte, befahl er ihn zu sich und verlangte von ihm eine Erklärung darüber, daß der Krieg nicht verloren sei (die amerikanischen Truppen standen vor Frankfurt, die russischen vor Berlin!). Zugleich drohte er ihm mit "Konsequenzen", falls er die Zerstörungsbefehle nicht ausführe, und verlangte von ihm, daß er einen "Krankheits"-Urlaub antrete. Speer erwiderte, er sei nicht krank und wolle sein Amt, das Rüstungsministerium, weiterführen. HitIer ging darauf ein, unter der Bedingung, daß er den Krieg nicht für verloren halte. Speer versuchte, seinen suggestiven Blick" und ,beschwörenden Ton" nicht auszuweichen und blieb stumm. Hitler insistierte: "Wenn Sie wenigsten glauben könnten, dann wäre alles gut." Sp.: "Ich kann es nicht, mit dem besten Willen nicht. Und schließlich möchte ich nicht zu den Schweinen in Ihrer Umgebung gehören, die Ihnen sagen, sie glaubten an den Sieg, ohne an den Sieg zu glauben." Sein Gesprächspartner: "Wenn sie wenigstens hoffen könnten, daß wir nicht verloren haben. Sie müssen das doch hoffen! ... dann wäre ich schon zufrieden." Keine Antwort. HitIer gab ihm 24 Stunden Zeit, um sich seine Antwort zu überlegen. Speer: "Die vierundzwanzig Stunden waren verstrichen. Ich wußte keine Antwort und überließ es dem Augenblick, was ich sagen würde." HitIer "Nun?" Speer ("ohne Überlegung und gänzlich nichtssagend"): "Mein Führer, ich stehe bedingungslos hinter Ihnen! ! " Hitler erleichtert: "Dann ist alles gut!"

»Nichtssagend" war Speers letzte Antwort natürlich keineswegs. Sie drückte dreierlei aus: Die Angst vor der Hinrichtung, die immer noch nicht erloschene Suggestivwirkung des großen Ver-Führers auf einen hochintelligenten Mann wie Speer und nicht zuletzt die geschickte Umgehung einer direkten Antwort auf die Tod oder Leben bedeutende Frage des Diktators. Das war Ende März 1945. Zuletzt - am 23. April, die Reichskanzlei lag schon unter schwerem Beschuß der sowjetischen Artillerie - fragte HitIer, apathisch und weich geworden, seinen Architekten, ob er in Berlin bleiben oder nach Berchtesgaden fliegen solle, und erhielt von ihm den Rat, es sei besser, wenn er sein Leben in der Hauptstadt als in seinem Wochenendhaus beschließen würde, was dann auch geschah, nachdem er noch schnell seine Geliebte Eva Braun geheiratet hatte. Beim Abschied von Speer "kamen seine Worte so kalt wie seine Hand": "Also Sie fahren? Gut. Auf Wiedersehen!" - kein Gruß an die Familie, kein Wunsch, kein Dank, kein Lebewohl. So viel - oder so wenig - über diesen schrecklichen Menschen, dem der
größere Teil des deutschen Volkes wie verfallen war. (Es war ein Massenrausch, dem es erlag, wenn er eine seiner großen Reden beim Nürnberger Parteitag, in Licht getaucht, die Menge im Dunkel, mit den Worten begann: "Ich sehe nicht Alle von Euch, aber Ihr Alle seht mich. Und obwohl ich Euch nicht sehe, fühle ich Euch, und Ihr fühlt mich - wir sind eins!") "Wer den Nationalsozialismus nur als politische Bewegung versteht, weiß fast nichts von ihm. Er ist mehr noch als Religion: Er ist der Wille zur neuen Menschenschöpfung!" - das hat er selbst einmal geäußert! Aber es war nicht nur die von diesem Pseudomessias ausstrahlende quasi-religiöse Suggestivwirkung, mit der das Phänomen "Hitler, die Deutschen und der Nationalsozialismus" erklärt wäre. "Die Geschichte liebt es bisweilen, sich auf einmal in einem Menschen zu verdichten, welchem hierauf die Welt gehorcht", hat Jacob Burckhardt gesagt. In Hitler und bestimmten seiner Eigenschaften verdichteten sich nicht nur die Sehnsüchte und Ressentiments des im Ersten Weltkriege geschlagenen und gedemütigten deutschen Volkes, sondern in ihm verkörperte sich auch, wie Joachim C. Fest denkt, eine "versteckte Wahrheit der Epoche". Er war "die Vereinigungsfigur vieler Zeittendenzen", eines "riesigen, ungeordneten Potentials an Aggressivität, Angst, Hingabewillen und Egoismus", "vor allem aber an jener großen Angst, dem Grundgefühl der Zeit"! Hinter seiner radikalen Aggressivität, seinem Mißtrauen, seiner Großmannssucht und unechten Theatralik stand wahrscheinlich auch Angst, die er mit diesen Verhaltensweisen zu überspielen wußte. Daß er im Grunde feige war, zeigte sich alleine schon in seiner überstürzten Flucht nach dem gescheiterten Putsch vom 9. November 1923 und seinem Versteck im Landhause HanfstaengI, nachdem er zuvor großspurig verkündet hatte: "Geht's durch, ist's gut, geht's nicht durch, hängen wir uns auf!" Wenn es ihm gelungen war, in nur 12 Jahren das Gesicht der damaligen Welt, vor allem Europas zu verändern, so lag das keineswegs allein an einer besonderen Anfälligkeit der Deutschen für die Unterwerfung unter den Machtwillen eines einzelnen Demagogen. Es entsprach auch dem Zeitgeist, der nach einem Retter aus den Ängsten und Bedrohungen im großen gesellschaftlichen, geistigen, politischen Umschichtungsprozeß der Epoche verlangen ließ. Auch andere Länder suchten und fanden ihren "starken Mann": Rußland seinen Lenin und Stalin , Italien seinen Mussolini , China seinen Mao Tse Tung usw. Sie alle erhofften sich eine neue, gerechtere Gesellschafts- und Weltordnung von einer Ideologie, verkündet und vertreten von einem Mann, dem sie sich unterwerfen wollten, um sich - nach den von Le Bon so meisterhaft analysierten massenpsychologischen Gesetzen - in der angstlösenden Geborgenheit einer "Volksgemeinschaft" endlich sicher fühlen zu können.
 
War es die "Schuld" der Deutschen, wenn auch sie diesem epochalen Sog und Druck unterlagen, freilich mit der ihrem Wesen - vielleicht - eigentümlichen, für HitIer selbst charakteristischen Alternative: "Sieg oder Untergang"? Diese Formel galt bereits für die Wilhelminische Zeit, wie Hartmut Zelinsky in seinem 1990 erschienenen Buch gezeigt hat: »Sieg oder Untergang : Sieg und Untergang. Kaiser Wilhelm II., die Werte-Idee Richard Wagners und der "Weltkampf!."

Nein! Kollektivschuld gibt es nicht. Es gibt immer nur Schuld des Einzelnen in der Verantwortung für das, was er getan oder versäumt hat. Das hat außer Theodor Heuss und Anderen auch Hannah Arendt gesagt, die mit Recht die Verantwortung des Einzelnen in einer Diktatur betonte. Für Verbrechen, die unter dem NS- und später unter dem DDR-Regime begangen worden sind, muß jeder Einzelne, der sie begangen hat, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Aber was konnte ein Einzelner wie ich damals tun, um einem zu spät als verbrecherisch erkannten System aktiven Widerstand zu leisten? Heute ist es leicht, uns, der älteren und alten Generation, den Vorwurf zu machen, wir, jeder Einzelne von uns hätten versagt und seien schuld daran, daß Verbrechen an Juden, Zigeunern, Polen begangen wurden und ein sinnlos gewordener Krieg verlängert werden konnte. Wer will den ersten Stein werfen auf den, der wie ich, nicht bereit war, öffentlich zu protestieren oder sich an einer der Widerstandsbewegungen zu beteiligen? Man wußte, was man zu erwarten hatte, zumal nach dem gescheiterten Attentat auf HitIer am 20. Juli 1944. Was wäre erreicht worden, wenn man das Risiko der Hinrichtung, des Gefängnisses oder Konzentrationslagers auf sich genommen hätte? Ein Toter oder ein Häftling mehr und weitere Verschärfung der Maßnahmen, deren sich eine Diktatur in solchen Fällen zu bedienen pflegt. Es war daher ein Gebot der Vernunft und der Verantwortung der Familie und dem eigenen Leben gegenüber, wenn man sich, wie wir es taten, darauf beschränkte, der inneren Ablehnung und Empörung durch das - nicht immer ungefährliche - Abhören feindlicher Rundfunksender" - gewöhnlich des englischen BBC - und kritische Äußerungen zu vertrauenswürdigen Menschen Ausdruck zu geben. Allerdings wagte ich es, in meinen Leipziger Vorlesungen über forensische Psychiatrie 1943 - 44 die von HitIer angeordnete "Euthanasie", die Massentötung psychisch Kranker und geistig Behinderter als unvereinbar mit den ethischen Grundsätzen des Arzttums zu bezeichnen. Meine Studenten trampelten sogar Beifall, niemand hat mich denunziert und mir ist nichts geschehen. Diese verbrecherische Aktion war dann unter dem Druck der Bevölkerung und auf den Protest mutiger Männer wie des Kardinals Graf Galen und des Betheler Pastors von BodeIschwingh abgebrochen worden. Das Risiko meiner Kritik war daher nicht mehr allzu groß. Größer hätte es sein können, als ich während des Winterfeldzuges in Rußland 1941 - 42 den Begleitarzt HitIers, den Chirurgen Dr. Karl Brandt, der meine Sanitätseinheiten in und um Dnjepropetrowsk inspizierte, unter vier Augen zu fragen wagte, wer denn eigentlich verantwortlich sei für die verheerenden Auswirkungen des sich bereits abzeichnenden militärischen Desasters auf die medizinische und sanitäre Versorgung der Soldaten: Mangel an Verbandsmaterial, Medikamenten, Stroh, geheizten Unterkünften usw. Karl Brandt: "Herr Janz, bitte verstehen Sie, wenn ich Ihnen diese Frage nicht beantworte!" Er flog am nächsten Tage ins Führerhauptquartier bei Rastenburg zurück, um HitIer persönlich über das Ergebnis seiner Inspektionsreise zu berichten und hätte mich leicht wegen defätistischer" Äußerungen denunzieren können. Daß er es nicht tat, rechne ich ihm heute noch hoch an. Daß er und der Reichsleiter BouhIer von Hitler mit der Organisation der "Euthanasie" beauftragt war, wußte ich nicht. Er ist dafür 1946 in Nürnberg zum Tode verurteilt und gehenkt worden.

Es war nicht mein Verdienst, davongekommen zu sein. Ich habe einfach Glück gehabt. Wie die Meisten, war auch ich kein Held, der sein Leben aufs Spiel setzte, um Deutschland und die Welt von dem Diktator zu befreien. Todesmutig waren die Männer des 20. Juli 1944, die das Scheitern ihres allerdings dilettantisch vorbereiteten Attentats mit der Hinrichtung durch den Henker bezahlen mußten. Sie hatten diese mögliche Konsequenz bewußt in Kauf genommen. General Henning von Tresckow schrieb bereits im Sommer 1941 von der Ostfront aus an Claus Graf Schenk von Stauffenberg: "Das Attentat muß erfolgen, coüte que coûte. Sollte es nicht gelingen, so muß trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat." Als Angeklagter vor dem Volksgerichtshof sagte er: "Ich halte HitIer nicht nur für den Erzfeind Deutschlands, sondern auch für den Erzfeind der Welt. Wenn ich in wenigen Stunden vor den Richterstuhl Gottes treten werden, um Rechenschaft abzulegen über mein Tun und Unterlassen, so glaube ich mit gutem Gewissen das vertreten zu können, was ich im Kampf gegen HitIer getan habe." (Zitiert nach Klaus Hildebrand: "Das Vermächtnis des anderen Deutschland. Diktatur und Widerstand - Zur Gegenwärtigkeit des Vergangenen", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Juli 1989, Nr. 167). Daß diese bewundernswerte Haltung, die den Tyrannenmord moralisch zu rechtfertigen vermochte, nur von ganz Wenigen aufgebracht wurde, kann der großen Mehrheit der Deutschen, die einfach überleben wollten, nicht zum Vorwurf gemacht werden. Jeder Einzelne von uns aber sollte im Aufstieg, in den Verbrechen und im Untergang der Hitler-Diktatur ein geschichtliches Vermächtnis sehen, das ihn mahnt und verpflichtet, einer neuen Alleinherrschaft, sei es einer Partei, einer Ideologie oder eines Machtmenschen beizeiten, im Rahmen seiner Möglichkeiten und des demokratischen Rechtsstaates, zu widerstehen! Principiis obsta! Wer, wie ich, zwei Diktaturen, die nationalsozialistische und die kommunistische, unmittelbar erlebt und erlitten hat, wird höchst empfindlich gegen alle Anfänge einer Unterdrückung der individuellen Meinungsfreiheit durch den Machtanspruch von Gruppen oder Personen.


Albert Speer

Es sind jedoch nicht allein politische, ideologische oder institutionelle Machtansprüche selbst, gegen die wir uns gar nicht genug sensibilisieren können. Es sind auch die Gefahren der fortschreitenden Technisierung, im besonderen der Kommunikationstechnik, deren sich die Machtstrukturen unserer Zeit bedienen, um große Menschengruppen indoktrinierend und manipulierend zu beherrschen. Albert Speer hat in seinem Schlußwort als Angeklagter im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß 1946 gesagt: "Die Diktatur Hitlers war die erste Diktatur eines Industriestaates dieser Zeit, einer Diktatur, die sich zur Beherrschung des eigenen Volkes der technischen Mittel in vollkommener Weise bediente . ... Durch Mittel der Technik wie Rundfunk und Lautsprecher (es gab noch kein Fernsehen) konnten 80 Millionen Menschen dem Willen eines Einzelnen hörig gemacht werden ... Das verbrecherische Geschehen dieser Jahre war nicht nur Folge der Persönlichkeit HitIers. Das Ausmaß dieser Verbrechen war gleichzeitig darauf zurückzuführen, daß HitIer sich als erster für ihre Vervielfachung der Mittel der Technik bedienen konnte ... In der Gefahr, von der Technik beherrscht zu werden, steht heute jeder Staat der Welt, in einer modernen Diktatur scheint mir dies aber unvermeidlich zu sein: Je technischer die Welt wird, umso notwendiger ist als Gegengewicht die Forderung der individuellen Freiheit und des Selbstbewußtseins des Menschen ..." Das sagte ein Mann, der selbst, geblendet von den Möglichkeiten der Technik als Hitlers Rüstungsminister, die katastrophalen Folgen ihres Mißbrauchs durch einen gewissenlosen Despoten in zwanzigjähriger Gefängnishaft und mit schwerer Gewissenslast erlitten und gebüßt hat. Speer interessiert mich nicht nur wegen seiner zeitgeschichtlichen Bedeutung, sondern auch, weil ich ihm dreimal persönlich begegnet bin: Er kam am 30. Januar 1942, zusammen mit Sepp Dietrich , einem der frühesten Anhänger HitIers und Befehlshaber eines SS-Panzerkorps, nach Dnjepropetrowsk in der Südukraine, um die Reparatur der zerstörten Eisenbahnanlagen vorzubereiten. Dort lernte ich ihn in einem abgestellten Eisenbahnwagen kennen, weil ich als Reserve-Sanitätsoffizier der Luftwaffe zur "Transport-Standarte Speer" abkommandiert war und in dieser Eigenschaft den Winterfeldzug in Rußland 1941-42 erlebt hatte. HitIers "Blitzkrieg" gegen die Sowjet-Union war nach riesigen Anfangserfolgen - von 260 sowjetischen Divisionen sollen 200 vernichtet worden sein - im Spätherbst zum Stehen gekommen. Anstatt nach Hitlers Plan bis zu den Ölfeldern am Kaspischen Meer vorgerückt zu sein, waren unsere Truppen aus Rostow am Don zurückgeschlagen worden und sahen sich dem frühen Einbruch des Winters unvorbereitet ausgesetzt. Die Flugplätze waren verschneit, und eine leicht mögliche erneute Zerstörung der gerade erst wieder aufgebauten langen Dnjepr-Brücke hätte die gesamte deutsche Süd-Armee vom Winternachschub abgeschnitten. Ich hatte mich von den bedrohlichen Nachschubproblemen bei einer Inspektionsfahrt zu meinen weit verstreuten Sanitätseinheiten bei Mariupol am Asowschen Meer selbst überzeugen können. Russische Panzerverbände waren bis auf etwa 20 Kilometer an Dnjepropetrowsk herangerückt, und wir sollten uns, obwohl wir kein Kampfverband waren, auf die Verteidigung vorbereiten. Es war dafür aber so gut wie nichts vorhanden, "einige Gewehre und ein liegengebliebenes Geschütz ohne Munition", erinnert sich Speer. Er mußte seine Rückreise verschieben, weil die Startbahn des Flugplatzes eingeschneit und sein Sonderzug in den Schneemassen steckengeblieben war. Dabei hatte er sich die Wangen erfroren und ließ sie von mir mit Salbe und Pflaster behandeln. Einen nachhaltigen Eindruck scheint diese truppenärztliche Versorgung allerdings nicht bei ihm hinterlassen zu haben, da er sich später nicht mehr an sie erinnern konnte. Dafür berichtet er in seinen "Erinnerungen", daß ein hilfreicher russischer Zivilist sein Gesicht mit Schnee eingerieben und aus seinem verdreckten Anzug ein blütenweißes, sauber gefaltetes Taschentuch hervorgezogen habe, um ihn abzutrocknen. Dieser und andere Russen hatten seine Erfrierungen bemerkt, als sie den Weg zum Flugplatz von dem meterhohen Schnee - vergeblich - zu räumen versuchten. So konnten sich Russen verhalten, die von Hitler pauschal als "Untermenschen" und "Bestien" bezeichnet wurden!

Ich selbst hatte mich damals innerlich darauf eingestellt, nicht mehr nach Hause zurückkehren zu können, verhalf aber einigen Soldaten, darunter auch einem Reserve-Sanitätsoffizier, durch psychiatrische Attestierung ("reaktive Depression", "seelische Belastung für die Truppe"!), aus der ihnen hoffnungslos erscheinenden Situation des Abgeschnittenseins herauszukommen. Speer berichtet, daß unsere Soldaten bei Kameradschaftsabenden sehr wehmütige Lieder sangen, die den Drang zur Heimat und die Trostlosigkeit der russischen Weite zum Ausdruck brachten und "unverhüllt die seelische Anspannung zeigten, unter der diese Außenposten standen." Erst nach dem Kriege erfuhr er, daß HitIer gegen die für den Druck dieser Lieder Verantwortlichen ein Kriegsgerichtsverfahren angeordnet hatte! Ich versuchte, meine eigene trübe Stimmung und die meiner Kameraden aufzuhellen, indem ich abends vor versammelter Mannschaft das Lied von der schönen Minka" anstimmte: "Im Ural, da bin ich geboren, bin eines Kosaken Sohn, Dem Zaren, dem hab' ich geschworen, zu schützen sein Land und sein' Thron ... Wenn im Ural die Sonne sich neiget, dann singt meine Minka und weint, Und sie windet aus Tränen ein Kränzlein, worin uns're Liebe sich eint ... Und dann sing' ich: Schöne Minka, leb' wohl, lebe wohl, schöne Minka, schöne Minka, leb' wohl!". Im Soldatensender Ost erzählte ich die Geschichten vom masurischen Rekruten "Kapaunke" (u.a.: Wie ist .der Kaiser mit der Kaiserin verwandt? Sind Brieder!", oder: Unteroffizier: "Wenn Du Wache stehst vor einem Munitionslager und eine unbekannte Person will an Dir vorbei reingehen, was machst Du dann?" Kapaunke: "Ich weiß nicht, Herr Unteroffizier!" Uffz.: "Du verlangst das Losungswort!" K.: "Jawoll, Herr Unteroffizier!" Uffz.: "Wenn der Mann kein Losungswort sagt, was machst Du dann?" K.: "Ich weiß nicht." Uffz.: Dann kannst Du ihn über den Haufen schießen!" K.: "Wenn aber kein Haufen da ist, Herr Unteroffizier?"); und für Ablenkung sorgte ich durch Vorträge über Gesundheitsfragen.

Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Dnjepropetrowsk erfuhr Speer durch den ihm nahestehenden Dr. Brandt, daß der Minister für Bewaffnung und Munition Dr. Todt mit einem Flugzeug tödlich abgestürzt sei, in dem er selbst vom Führerhauptquartier in Rastenburg nach Berlin hatte fliegen wollen! HitIer ernannte ihn unverzüglich, um seinem Rivalen Göring zuvorzukommen, zum Nachfolger Todts. Damit begann seine verhängnisvolle Tätigkeit, die ihn vor das Nürnberger Tribunal brachte. Nach Speers Entlassung aus dem Spandauer Gefängnis, in dem er seine zwanzigjährige Haft verbüßt hatte, bin ich ihm noch zweimal wieder begegnet: Im Düsseldorfer Hause unseres "Schwippschwagers" Ernst Wolf Mommsen, dem er seit der gemeinsamen Tätigkeit im Rüstungsministerium freundschaftlich nahestand. Da ich wußte, daß er von allen Gesprächspartnern immer nur nach Hitler gefragt wurde, nicht nach ihm selbst, habe ich jene Frage vermieden und mich mit ihm nur über seine "Erinnerungen" unterhalten. Dieses Buch bildet mit den 1975 erschienenen "Spandauer Tagebüchern" ein einzigartiges Dokument zur Geschichte des "Dritten Reiches". Nach der Lektüre der "Erinnerungen" habe ich ihrem Autor am 31. Dezember 1969 einen Brief geschrieben, den er aus Gründen, die mir unbekannt sind, nicht erhalten, jedenfalls nicht beantwortet hat. Die "Spandauer Tagebücher" sind aus über zwanzigtausend Notizen auf Kalenderblättern, Zetteln, Pappdeckeln oder Toilettenpapier entstanden, die er aus dem "bestbewachten Gefängnis der Welt" "kassibert" hatte. Die "Tagebücher" habe ich vor und nach meiner dritten Begegnung mit ihm, am 13. Dezember 1975, gelesen. Erst an diesem Tag kam es in der Bar des "Breidenbacher Hofes" in Düsseldorf zu einem ausführlichen Gespräch mit ihm und auch mit seinem Sohn, einem Professor der Architektur, und dessen zweiter Frau, der Schauspielerin Ingmar Zeisberg. Bei dem vorangegangenen Hauskonzert im Mommsenschen Hause konnte ich beobachten, daß der sowjetische Botschafter FaIines vermied, Speer die Hand zu geben! Anscheinend hatte er das Schuldbekenntnis, das Speer in den beiden Büchern glaubhaft zum Ausdruck bringt, nicht zur Kenntnis genommen oder angesichts seiner schweren Verstrickung in das nationalsozialistische Regime und die Kriegsrüstung für bedeutungslos gehalten. »Dieser Mann ist zu schade für Hitler !°, das war der Eindruck, den ich von dessen Chefarchitekten und jüngstem Minister schon in Dnjepropetrowsk gewann. Künstlerisch hochbegabt, zu romantischen Visionen neigend, ein urbaner Geist, fern von allem Antisemitismus und Rassenfimmel" war er trotz seines frühen Eintritts in die NSDAP (1931) ein im Grunde unpolitischer Mensch. Als Architekt hätte man ihm keine Hauptkriegsverbrechen vorwerfen können. Seine Schuld begann mit der Tätigkeit als Rüstungsminister, der für die Massendeportationen, die Zwangsarbeit und die Konzentrationslagerhaft ausländischer Industriearbeiter verantwortlich gemacht wurde. Daß Hitler ihn in dieses Amt berief, war aber nicht nur durch seine Leistungen als "Generalbauinspekteur" und seine ungewöhnliche organisatorische Begabung begründet. Mit dieser Berufung bestätigte und steigerte sich auch sein Machtgefühl, das ihm die großartige Inszenierung des Nürnberger Parteitages, der Bau der Reichskanzlei und die Planung von Monumentalbauten verliehen. hatten. Als junger, begeisterungsfähiger, von Stefan George erglühter und ruhmbedürftiger Architekt war er bereits seit 1933 dem verführerischen Reiz erlegen, den Hitlers frühe gigantomanische Entwürfe, z. B. Zeichnungen eines riesigen Triumphbogens und einer gewaltigen Kuppelhalle, auf ihn ausgeübt hatten. Er war der suggestiven, bezwingenden Macht verfallen, die von dessen Person ausging und ihn, wie er schreibt, "zu ungeheuren Selbststeigerungen befähigte". Er sah HitIer"damals durchaus als großen Mann, ganz in der Nähe Friedrichs des Großen oder NapoIeons, "und er erlebte den Genuß von Macht an seiner Seite"! Seine überredende Kraft, die eigentümliche Magie seiner keineswegs angenehmen Stimme, die Fremdartigkeit seines eher banalen Gehabes, die verführerische Einfachheit, mit der er die Kompliziertheit unserer Probleme anging - das alles verwirrte und bannte mich. Von seinem Programm wußte ich so gut wie nichts. Er hatte mich ergriffen, bevor ich begriffen hatte."
 
Der Preis, den er für dieses "Ergriffenwerden" bezahlen mußte, war sehr hoch: In zwanzig Jahren Einzelhaft "zum alten Mann geworden," "deformiert", "mit dem immerwährenden Gefühl der Schuld belastet", in seiner moralischen Integrität zerstört, in dem Bewußtsein weiterlebend, "meine ganze Existenz auf einen Irrtum gegründet zu haben" - erschütterndes Lebensfazit! Darüber habe ich mit Speer bei unserer letzten Begegnung gesprochen. Sechs Jahre später, 1981, ist er mit 76 Jahren in London nach einem Fernseh-Interview an "Gehirnschlag" gestorben. Es blieb ihm erspart, die Schmähungen zu erleben, mit denen ein Amateur-Historiker namens Mathias Schmidt, ihn in einer Schrift "Ende eines Mythos" post mortem bedacht hat. Daß der bedeutende englische Historiker Hugh Trevor-Roper sein zunächst positives Urteil "ein gebildeter Mann von offensichtlicher Intelligenz, der nicht katzbuckelte oder die Hände rang oder seine Vergangenheit verleugnete, sondern vernünftig sprach, klar, offen, würdevoll ..." - später modifizierte und ihn als denn wirklichen Verbrecher Nazideutschlands" beschrieben hat, beruht auf der Verkennung zweier wichtiger psychologischer Gesichtspunkte: Der Bedeutung des
Verdrängunsprozesses auf der einen und der Persönlichkeitsreifung auf der anderen Seite. Wenn Speer sich gegenüber den Haßtiraden HitIers und Goebbels' und "noch schlimmeren Dingen" nach seinen eigenen Worten "taub und blind" gestellt hatte, so war dies ein typisches Beispiel für die "Skotomisierung", die "Ausblendung" des Bewußtseins, des kritischen Denkens und moralischen Empfindens durch die faszinative Kraft der Ausstrahlung Hitlers und durch das eigene Machterlebnis. Speer hat das in der Strafhaft selbstkritisch erkannt und in den "Spandauer Tagebüchern" ausgesprochen: Es sei nicht einfach Opportunismus und Feigheit gewesen, wenn ihm das HitIersche Vokabular "Vernichtung" oder "Ausrottung" "gar nicht auffiel"! Wir lebten damals, schreibt er, in einer fest geschlossenen, nach außen oder auch unserem bürgerlichen Selbst gegenüber isolierten Wahnwelt. Erst nach der Aufdeckung der Massenmorde an den Juden, von denen er bei seiner Vernehmung als Angeklagter "keine Kenntnisse" oder "richtig doch nur auf eine "äußerliche Weise" gehabt haben will, sei eine Scham in ihm aufgekommen über das mutlose Schweigen bei Tisch, die moralische Dumpfheit, über so viele Jahre des Verdrängens. "Niemals werde ich darüber hinwegkommen, an führender Stelle einem Regime gedient zu haben, dessen eigentliche Energie auf die Menschenausrottung gerichtet war." Daß dieses Scham- und Schuldgefühl ihn zwar erst spät und unter dem Druck der Anklage befallen, dann aber sein ganzes weiteres Leben hindurch belastet hat - auch darüber sprach er offen mit mir - rechtfertigt nicht, ihn als "wirklichen Verbrecher` zu bezeichnen. Es spricht vielmehr dafür, daß sich in ihm ein tiefgreifender Persönlichkeitswandel, ein Reifungsprozeß, vollzogen hat, der ihn eine "neue Identität", sein wahres Selbst, sein eigentliches Wesen finden oder wieder finden ließ.

"Das hervorragende Merkmal von Albert Speer war sein Mut zur Bekenntnis", hat Dr. Robert M.W. Kempner, der ehemalige stellvertretende Hauptankläger in Nürnberg, gesagt. "Sein Auftreten in Nürnberg unterschied sich von dem der anderen Angeklagten, die bis auf wenige ihre Verbrechen leugneten." Weil er die persönliche Verantwortung auf sich nahm und die Strafe, zu der er verurteilt wurde, akzeptierte, warfen ihm die anderen, Göring, Schirach, Dönitz, Funk, Treulosigkeit und Verrat vor und distanzierten sich von ihm. Kempner berichtet auch, daß Speer ihm bald nach seiner Entlassung aus dem Spandauer Gefängnis erklärt habe, er wolle "die volle Wahrheit über das verbrecherische Regime dem deutschen Volke "nahebringen", was dann auch in den "Erinnerungen" geschehen ist. Der amerikanische Historiker Eugene Davidson hat sie als "unvergleichliches historisches Zeugnis, ein absolut unbezahlbares Dokument" bezeichnet. Kempner erwähnt dann noch, daß Speer einen Teil des Erlöses aus dem Riesenerfolg der "Erinnerungen" einem New Yorker jüdischen Altersheim, in dem zahlreiche kranke Naziverfolgte leben, und einem holländischen Karmeliterinnenkloster, das mehrere "nichtarische" Ordensfrauen, darunter die Professorin Edith Stein, versteckt hatte, zur Verfügung gestellt habe, ohne daß dies in der Offentlichkeit bekannt werden solle!

Speer war, wie Kempner mitteilt, in Nürnberg von dem amerikanischen und dem russischen Richter in geheimer Beratung zum Tode verurteilt worden, aber der britische und der französische Richter setzten sich mit der Strafe von zwanzig Jahren Gefängnis durch.

Warum habe ich mich so lange, vielleicht allzu lange bei dem Thema Albert Speer aufgehalten, obwohl sich jüngere Leser meiner "Memorabilien" kaum noch für das Leben und Schicksal dieses zeitgeschichtlich herausragenden Mannes interessieren dürften?
Ich wollte warnen vor dem "kleinen Speer in uns". vor der Gefahr, die Moral dem Ehrgeiz zu opfern! Warnen auch vor der latenten Gefährdung, der selbst intelligente und gebildete Menschen erliegen können, wenn sie der "Diktatur der Faszination" durch einen Einzelnen oder den "Zeitgeist" nicht widerstehen. Das Beispiel "Speer" zeigt, daß Intelligenz, Bildung, Begabung nicht zu schützen braucht vor der Unterwerfung unter eine solche Diktatur, mit der die innere Freiheit preisgegeben und die Selbstverantwortung durch das "Mitmachen" in einer Massenbewegung erdrückt wird. "Wer Speer versteht, versteht die Deutschen!", hat Trevor-Roper ganz richtig gesagt. Die Deutschen und gerade auch viele "Intellektuelle" waren durch und mit Hitler auf eine unreife, "infantile" Stufe der Unselbständigkeit und Kritiklosigkeit verwiesen worden und schienen einer Art von atavistischem Götzendienst verfallen zu sein. Das Schicksal Speers lehrt, wie schwer es sein kann, welche Lebenskrisen durchlitten und bestanden werden müssen, damit ein Mensch, der schon seiner Erfolge und damit seiner selbst sicher sein zu können glaubte, reifer, verwachsen" wird!

Jene "Diktatur der Faszination" gemahnt an das, was Goethe mit dem "Dämonischen" meint, das er "eine der moralischen Weltordnung, wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht" nennt. Bei aller Banalität und Primitivität, die Hitlers Wesen und seinen Lebensstil kennzeichnet, ließe sich von ihm sagen, es seien "nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an Talenten (an denen es ihm allerdings nicht gefehlt hat!), selten durch Herzensgüte sich empfehlend; aber eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus, und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe, ja sogar über die Elemente, und wer kann sagen, wie weit sich eine solche Wirkung erstrecken wird? Alle vereinten sittlichen Kräfte vermögen nichts gegen sie; vergebens, daß der hellere Teil der Menschen sie als Betrogene oder als Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen angezogen. Selten oder nie finden sich Gleichzeitige ihresgleichen, und sie sind durch nichts zu überwinden als durch das Universum selbst, mit dem sie den Kampf begonnen ...". Ich habe diese Worte aus Goethes "Dichtung und Wahrheit" einmal während des Krieges, 1942 in Berlin, in vertrautem Kreise zitiert.

Speers Schicksal mahnt uns ganz einfach - und dies gilt nicht nur für die Zeitgenossen eines totalitären Systems, sondern auch für Jeden, der in einem demokratischen Gesellschafts- und Wirtschaftsgefüge lebt -, Geltungsehrgeiz, Eitelkeiten und Machtgelüste beizeiten durch die Tugenden der Bescheidenheit und Dankbarkeit zu zügeln! Nicht zuletzt läßt es uns hoffen, daß durch das Bekenntnis zu ihr und durch die läuternde Kraft der Sühne vergeben werden kann.

Ich habe weit vorgegriffen, gefesselt durch das auch für die Zukunft unerschöpfliche Thema "Hitler und die Deutschen". Doch zurück zum Jahre 1933! Es brachte mir die Fortsetzung der internistischen Ausbildung. Ich mußte sie kurz vor dem Erwerb der Facharztanerkennung abbrechen, weil ich das unerwartete Angebot des Bostroemschen Oberarztes, Priv.-Doz. Dr. Moser, zum 1. Januar 1934 eine Assistentenstelle an der Königsberger Universitäts-Nervenklinik zu übernehmen, nicht ausschlagen zu dürfen glaubte. Es bot mir die Chance, den seit jeher erstrebten Weg in die Psychiatrie und Neurologie zu eröffnen. Daß diese Chance sich ergab, war das Ergebnis der Mühe, mit der ich am Städtischen Krankenhaus in Altona neben der anstrengenden und zeitraubenden Tätigkeit als Medizinalpraktikant und Volontär meine

Dissertation

 

über Psychobiologische Untersuchungen an Ehefrauen chronischer Alkoholiker" in Nacht- und Sonntagsarbeit zustandegebracht hatte. Da sie trotz meiner selbstkritischen Zweifel mit "Summa cum laude" bewertet wurde, meinte ich - in aller Vorsicht - mir damit die Anwartschaft auf weitere klinische und wissenschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten einer Universitätsklinik - mein stiller Wunsch! - erworben zu haben. Das Thema der Arbeit, das Geheimrat Ernst Meyer mir gestellt hatte, war damals so gut wie neu. Man interessierte sich noch wenig für sozial-psychologische Fragen, und es gab bis dahin nur vereinzelte Untersuchungen zur Rolle der Ehefrau in ihrer Bedeutung für das Verhalten des alkoholabhängigen Ehemannes, die Entwicklung seines Alkoholismus und die Aussichten einer Behandlung. Erst in letzter Zeit ist die Rolle der Ehefrau und anderer Bezugspersonen des Alkoholkranken als "Ko-Abhängige" oder auch "Antitherapeuten" erkannt und näher untersucht worden. Ich hatte bei meinen Königsberger Untersuchungen, die der Dissertation zugrundelagen, gefunden, daß viele Ehefrauen durch Nachgiebigkeit, Einsichtslosigkeit oder Indulenz die Alkoholabhängigkeit des Mannes indirekt unterstützten und damit die damals ohnehin noch recht unzulänglichen ärztlichen und sozialen Hilfen erheblich erschwerten. So gut wie nie kam es zu Ehescheidungen, weil die Frauen ihren Männern die verbalen Demütigungen oder die Schläge, mit denen sie nicht nur bedroht, sondern auch traktiert wurden, zu verzeihen pflegten. Sie glaubten immer wieder den Beteuerungen des Ehemannes, nicht mehr trinken zu wollen, verlangten häufig seine vorzeitige Entlassung aus der stationären Behandlung oder die Aufhebung der Vormundschaft und verhielten sich zurückhaltend oder ablehnend gegenüber den alkoholgegnerischen Abstinenzverbänden. "Wenn er nicht trinkt, ist er der beste Mensch von der Welt", lautete die Begründung, mit der sie ihre Nachgiebigkeit und Inkonsequenz zu rechtfertigen suchten. Mit einer verzeihenden, duldenden oder übertrieben fürsorglichen Haltung unterstützten sie nur noch die Tendenz der Männer, ihren Alkoholismus zu verleugnen oder zu bagatellisieren, und stärkten zugleich ihr eigenes schwaches Selbstwertgefühl oder neutralisierten Schuldgefühle und Selbstvorwürfe. Eine besondere Rolle spielte vielfach auch die wechselseitige instinktive Anziehungskraft, die psycho-pathologisch strukturierte Persönlichkeiten aufeinander ausüben. Die Mehrzahl der Trinkerfrauen repräsentierten nämlich einen psychopathisch-psychasthenischen, affekt- und willenslabilen, stark gefühlsambivalenten Persönlichkeitstypus, der dem charakteropathischen Bilde des Ehemannes entsprach. Zum Teil war es auch eine sogenannten "Kontrastehe", die aus der Polarität der Ich- und Triebschwäche der Frau und der robusten "animalischen" Triebhaftigkeit des Mannes oder einer dominierenden, maskulin akzentuierten Partnerin und ihrem eher weichen, nachgiebig-unterwürfigen Ehemann die gegenseitige Bildung fixierte und eine schon zerrüttet erscheinende Trinkerehe aufrecht erhalten ließ. Weit häufiger sind Trennungen oder Ehescheidungen, wenn die Frau selbst Alkoholikerin ist - damals seltene Ausnahmen, heute in beunruhigender Zunahme! - und der Ehemann die destruktiven Folgen für das Familienleben, die Kinder, den Haushalt nicht länger hinnehmen zu können glaubt. Die praktische Schlußfolgerung meiner Arbeit entsprach der Forderung Emil Kraepelins, des selbst alkoholabstinent lebenden Begründers der neueren, wissenschaftlich fundierten Psychiatrie, "die unwürdige Stellung der Trinkerfrau" im Sinne politischer Gleichberechtigung zu überwinden und sie durch Aufklärung, Belehrung und Beratung zur tätigen Mitarbeit an der Abwehr der Alkoholgefahren heranzuziehen, wobei ich einem besseren Verständnis ihrer psychobiologischen Eigenart und ihrer sozialen Stellung eine besondere Bedeutung beimaß. Zugleich wies ich auf die Notwendigkeit von Reformmaßnahmen in der Trinkerfürsorgegesetzgebung hin und versuchte damit einen Beitrag zur Bekämpfung des Alkoholismus zu leisten.

Die Dissertation, die ich mit stark vereinfachenden, heute "altmodisch gewordenen Methoden der Persönlichkeitsanalyse - nach dem Kretschmerschen psychobiographischen Einteilungsschema - erarbeitet hatte, bildete den Auftakt zu meiner späteren intensiven Beschäftigung mit dem Alkohol- und Drogenproblem unter individual- und sozialpsychologischen, im besonderen auch geistes- und zeitgeschichtlichen Aspekten. Daß dem Problem des Alkoholismus und Alkoholmißbrauchs mit gesetzlichen Verbotsmaßnahmen nicht beizukommen ist, hatte sich damals schon durch das Scheitern des amerikanischen Prohibitionsgesetzes erwiesen. Mein Correferent, Prof. Martin Nippe, Ordinarius für gerichtliche Medizin in Königsberg, fragte mich in der mündlichen Dr.-Prüfung nach dem Ergebnis dieses inzwischen aufgehobenen Gesetzes. Ich konnte ihm nur antworten, daß es ein völliger Fehlschlag gewesen sei, weil das Alkoholverbot zur illegalen Herstellung alkoholischer Getränke geführt habe, die in der Form des Methylalkohols gesundheitlich weit gefährlicher als der übliche Aethylalkohol seien (Erblindung!), und weil es, abgesehen vom Schmuggel und anderen kriminellen Folgen, verfehlt sei, dem Verlangen des Menschen, sozialer Not und individuellen Problemen durch den Rausch zu entfliehen, mit staatlichem Zwang begegnen zu wollen.


1933


Das Jahr 1933 brachte für Deutschland und die Weit zunächst den Brand des Reichstagsgebäudes am 27. Februar und den am nächsten Tag beginnenden staatlichen Terror mit Massenverhaftungen und der vom Reichspräsidenten von Hindenburg nach stillschweigender Zustimmung des Vizekanzlers von Papen unterzeichneten "Verordnung zum Schutze von Volk und Staat". Mit ihr wurden alle Grundrechte aufgehoben und der Weg zur Willkürherrschaft HitIers freigegeben, wie Haffner schreibt, der diesen verhängnisvollen Schritt als die wirkliche "Magna Charta des Dritten Reiches" bezeichnet. Ich, und mit mir sicherlich viele andere politisch - noch! - Naive erkannte nicht die Tragweite der Entmachtung des Reichspräsidenten zugunsten des Reichskanzlers HitIer. Wir wußten nicht und konnten damals auch nicht voraussehen, daß das, was Hindenburg , wenn auch zögernd, unterschrieben hatte, "viele Blanko-Todesurteile", und schließlich das Ende des Deutschen Reiches bedeutete! Nach der Auflösung des Reichstages folgten am 5. März Neuwahlen, bei denen die NSDAP mit nur 43,9 % der Stimmen keine parlamentarische Mehrheit gewonnen hatte. Aber am 21. März beschwor HitIer in einem feierlichen Staatsakt in der Potsdamer Garnisonskirche den "Geist von Potsdam"! Damit nahm er, der Österreicher, bedenkenlos preußische Traditionen für sich und seine Partei in Anspruch, Traditionen, die anstelle des "Geistes von Weimar" den "Aufbruch der Nation" begründen sollten! Mit dem "Ermächtigungsgesetz" vom 23. März befreite er sich von allen Bindungen an die Verfassung und von der parlamentarischen Kontrolle. Das Zentrum und die bürgerlichen Parteien stimmten dem Gesetz zu, nur die Sozialdemokraten votierten mit "Nein!" Damit war der Reichstag überflüssig geworden, Legislative und Exekutive als Grundlagen der Demokratie (Montesquieus Gewaltenteilung in "Vom Geist der Gesetze") wurden gleichgeschaltet, Diktatur und totalitärer Staat waren etabliert. Nach dem "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 konnten nichtnationalsozialistisch gesinnte Beamte, auf Grund eines besonderen "Arierparagraphen", auch jüdische Beamte, entlassen werden. Auch mein Vater war als Freimaurer, und unser Freund, Nachbarkreisarzt und Corpsbruder Dr. med. Kurt RiedeI wegen seiner weit zurückliegenden "nichtarische" Abstammung von dieser Gefahr bedroht. Sie durften jedoch auf Grund ihrer Verdienste in ihren Ämtern verbleiben. Aber es hatte in beiden Familien entsprechende Aufregungen und Besorgnisse gegeben, bei Kurt RiedeI im besonderen auch verständliche Empörung, weil er sich als durchaus patriotisch gesinnter Arzt völlig unerwartet in die demütigende Rolle eines "Paria" versetzt fühlen mußte. Unsere Familie war von den "Nürnberger Gesetzen" indirekt dadurch betroffen, daß die Kinder des Bruders meines Vaters, "Onkel Baus", und seiner jüdischen Frau, Tante Frida, geborenen Michalowski, unter der Judenächtung zu leiden hatten: Mein Vetter Joachim Janz durfte nicht studieren und nicht Reserveoffizier werden, obwohl er am Zweiten Weltkriege als tapferer Soldat teilgenommen hatte, und seine Schwester Jutta nahm sich, nachdem sie nach dem Kriege einen Amerikaner in Kalifornien geheiratet hatte, in einer Heimwehdepression das Leben. Aus ganz anderen Gründen, aber auch im Zusammenhang mit dem NS-Regime, traf uns das Schicksal des Freundes meiner Eltern, des Domvikars Werner Kreth, der wegen homophiler Handlungen zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt wurde und in seiner Haftzelle an Lungentuberkulose starb. Wir waren von diesem Anklagepunkt durch sensationell aufgemachte Pressemeldungen völlig überrascht worden. Der "Fall Kreth" paßte natürlich ausgezeichnet in das Kampfkonzept der NSDAP gegen die katholische Kirche. Allerdings hatten wir uns darüber gewundert, daß Werner als höherer Geistlicher und Angehöriger des Frauenburger Domkapitels Mitglied der NSDAP geworden war und, mit dem Parteiabzeichen am Priestergewande, dem Braunsberger Kreisleiter nahestand. Wir konnten nicht wissen, daß er dieses doppelte Spiel, das mein Vater ihm seit längerem vorgeworfen hatte, nur betrieb, um seine zum Teil recht unvorsichtigen und leider auch geschmacklosen Aktivitäten mit Hilfe des Wohlwollens der Partei zu tarnen - vergeblich! Das traurige Ende dieses guten Freundes, eines musikalisch hochbegabten - er war Organist am Dom zu Frauenburg -, gebildeten, geist- und humorvollen Mannes, hat uns mehr noch bedrückt als enttäuscht. Er soll auch noch im Gefängnis versucht haben, seinen Neigungen nachzugehen. Der Bischof von Ermland, Maximilian Kaller, hat ihm die Absolution erteilt. Erst rückblickend wurde uns klar, daß er zum katholischen Glauben konvertiert war und Theologie studiert hatte, um eine - vermeintliche Schranke gegen seine schon auf der Schule deutlich gewordene Homophilie zu errichten. Ich selbst war froh, daß er in meiner Knaben- und Jünglingszeit, wohl mit Rücksicht auf meine Eltern, nicht versucht hatte, sich mir zu nähern. Als Erinnerung an ihn besitze ich noch eine sehr schöne, in Pergament gebundene und mit Reproduktionen der Zeichnungen Goethes geschmückte Ausgabe der "italienischen Reise", die er mir zur Einsegnung am 9. April 1922 geschenkt hat.

Wie alle meine Barmbeker Mitassistenten ließ ich mich - wie ich schon erwähnte - in eine im Ärztekasino ausgelegte Liste - wohl im Mai 1933 - als Mitglied der NSDAP eintragen. Ich hatte keine Bedenken, die vaterländischen und gesellschaftspolitischen Ziele der NS-Bewegung - sie nannte sich ja "sozialistisch" - zu unterstützen. Daß sich dies später als schlimmer Irrtum erweisen und mich nach dem Zusammenbruch 1945 in große Schwierigkeiten versetzen würde, konnte ich nicht voraussehen. Mein Vater wurde als alter Anhänger und Wähler der nationalliberalen ("Deutschen Volks"-) Partei Stresemanns nicht Parteimitglied und wäre als Logenbruder auch nicht für würdig befunden worden. Ich habe keine Parteiämter bekleidet, war aber einverstanden mit meiner Übernahme in das "NS-Fliegerkorps", die sich aus meiner späteren Tätigkeit bei der Flieger-TauglichkeitsUntersuchungsstelle an der Königsberger Universitätsnervenklinik und aus meiner segelfliegerischen Ausbildung ergeben hatte. Die politische Harmlosigkeit dieser Vorgeschichte trug dann dazu bei, daß ich mit handfesten "Persilscheinen", Entlastungszeugnissen, die mir von Juden, Sozialdemokraten, Holländern, Polen und anderen "Antifaschisten" ausgestellt wurden, nach dem Zusammenbruch des "Dritten Reiches" "entnazifiziert" werden konnte.

Meine Abkehr vom Nationalsozialismus begann mit der sogenannten "Reichskristallnacht" am 9. November 1938. Mit dieser verharmlosenden Bezeichnung war nichts anderes gemeint als die Verwüstung und Plünderung jüdischer Geschäfte und Wohnungen, das Niederbrennen der Synagogen und die Verhaftung von rund zwanzigtausend Menschen. Daß auch nahezu hundert Juden ermordet wurden und die SS-Zeitung "Das schwarze Corps" die Ausrottung des Judentums in Deutschland mit "Feuer und Schwert" gefordert hatte, erfuhr ich erst aus der 1973 erschienenen Hitler-Biographie von Joachim C. Fest. Anlaß dieser barbarischen Aktion war das durch überwiegend persönliche Gründe motivierte Attentat eines 17-jährigen jüdischen Emigranten auf den deutschen Legationssekretär Ernst vom Rath in der Pariser Deutschen Botschaft. HitIer konstruierte aus dessen Ermordung einen der "Anschläge des Weltjudentums" und glaubte mit einer bis in die Schulen und Betriebe hinein organisierten Feierstunden-Kampagne, Beethoven-Musik und demagogischen Totenklage den Volkszorn entfesseln zu können. Er hatte sich, wie Fest schreibt, geirrt, auch bei mir: Als ich die Nachricht von der "Reichskristallnacht" im Rundfunk der Klinik gehört hatte und nach Hause kam, sagte ich zu Antonia: "Das ist der Anfang vom Ende!" Aber durch Hitlers außenpolitische Erfolge und die militärischen Siege am Anfang des Zweiten Weltkrieges beeindruckt, zweifelte ich - wie viele andere auch - an der Richtigkeit meiner pessimistischen Voraussage, sah sie dann jedoch Schritt für Schritt bestätigt. Leider hatte ich zuvor nicht die Tragweite der Reaktion Hitlers auf den "Röhm-Putsch" am 30. Juni 1934 erkannt: Er selbst ließ Röhm, den homophil veranlagten Stabschef der SA, den ebenfalls männerliebenden SA-Führer Heines, zahlreiche andere höhere SA-Führer, seinen früheren Kampfgefährten und ehemaligen Rivalen Gregor Strasser, den General und früheren Reichskanzler von Schleicher mit dessen Frau erschießen und rechtfertigte diese Mordaktion nachträglich, indem er am 3. Juli 1934 ein Gesetz erließ, nach dem die "zur Zerschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen als Staatsnotwehr rechtens sind."

Er proklamierte sich als "des Deutschen Volkes oberster Gerichtsherr" und als Retter, dem das Volk für die "Befreiung von einer tödlichen Bedrohung" zu danken habe. In seiner großen Rechtfertigungsrede vor dem Reichstag am 13. Juli 1934 sagte er wörtlich, er habe den Befehl gegeben, "die Hauptschuldigen an diesem Verrat zu erschießen" und "die Geschwüre unserer inneren Brunnenvergiftung auszubrennen bis auf das rohe Fleisch". Diese durch den Rundfunk übertragenen, herausgebrüllten Worte klingen heute noch in meinem inneren Ohr nach. Was ich - und mit mir wahrscheinlich die Mehrzahl der Deutschen nicht wußte, war die Tatsache, daß viele der ermordeten SA-Führer weder einen Putsch noch ein Komplott geplant hatten, und daß sich ein angeblicher Geheimbefehls Röhms, der die Sturmabteilungen zu den Waffen rief, als Fälschung erwies! In Wirklichkeit wollte Hitler seinen einzigen ernstzunehmenden Rivalen, Röhm, der den "Primat des weltanschaulichen Soldaten" mit einer zahlreichen Anhängerschaft "alter Kämpfer" repräsentierte, beseitigen. Nutznießer seines Zuschlagens waren die SS und die Reichswehr.


1934 - 35 in Königsberg


Meiner Hamburger Zeit folgte die Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent an der Königsberger Universitäts-Nervenklinik unter Professor Dr. August Bostroem. Er wurde für mich der maßgebliche klinische und wissenschaftliche Lehrer und später mein väterlicher Freund. Dem NS-System stand er in kritischer Distanz gegenüber. Es fiel ihm sichtlich schwer, den Arm zu amtlich vorgeschriebenen "Heil-Hitler"-Gruß zu erheben. Als ich mit ihm über die Folgen des "Röhm-Putsches" sprach, erwähnte er, daß den Erschießungen sein guter Bekannter, ein völlig unbeteiligter Münchener Musikkritiker Dr. Willi Schmid, wegen einer Verwechslung mit dem SA-Gruppenführer Wilhelm Schmidt zum Opfer gefallen sei!

An der Klinik stürzte ich mich geradezu auf meine neuen Aufgaben und begann mich auch sogleich für psychotherapeutische Hilfen zu interessieren. Ohne dazu von Bostroem oder älteren Mitarbeitern angeregt oder angehalten worden zu sein, eignete ich mir autodidaktisch die Methode der Hypnose an und konnte mir ihr bald einige neurotisch oder psychosomatisch erkrankte Patienten erfolgreich behandeln. Dabei erkannte ich schnell ein Risiko: Die angenehm passive Rolle, in die der Hypnotisierte versetzt wird, kann ihn zur Abhängigkeit vom Therapeuten verleiten und suchtartige Ausmaße annehmen. Ich lernte, daß Hypnose, wie Psychotherapie überhaupt, immer nur ein befristeter Weg zum Ziel des Wiedergewinns der Selbständigkeit des Patienten sein dürfe und ohne seine eigene aktive Mitarbeit nicht gelingen könne. Da Bostroem diese und meine weiteren Interessen an der psychiatrischen Arbeitstherapie bemerkt hatte, schickte er mich als Gast in die Heidelberger Psychiatrische Universitätsklinik zudem dortigen Ordinarius Carl Schneider, bei der ich mich mit einer gut organisierten und effizienten Arbeitstherapie vertraut machen konnte. Es gelang mir dann auch, mit Hilfe arbeitstherapeutischer Methoden den bis dahin sehr hohen Narkotika- und Schlafmittelverbrauch auf den "Unruhigen Abteilungen" der Königsberger Klinik auf ein unvermeidbares Minimum zu reduzieren. Lange vor der Einführung der psychiatrischen Pharmakotherapie war es grundsätzlich möglich geworden, auch bei akut Kranken nach dem Prinzip "Medica mente, non medicamentis!" Erregungs- und Aggressionszustände einzudämmen. Daß die Arbeitstherapie auch bei chronisch Kranken wirksam ist, hatte schon Hermann Simon Mitte der zwanziger Jahre an dem von ihm geleiteten Westfälischen Landeskrankenhaus Gütersloh nachweisen können. Über meine eigenen Erfahrungen habe ich in einer Sitzung des Königsberger "Vereins für wissenschaftliche Heilkunde" - meinem Vortrags-Debut! - berichten dürfen. Ich verschwieg nicht, daß der Versuch, schwerere Erregungszustände ohne Medikamente zu beherrschen, auch seine Tücken haben kann: In der Waschküche der Heidelberger Klinik flog mir plötzlich ein sehr nasser Lappen um die Ohren, den eine manisch erregte Patientin gegen mich geschleudert hatte. Ernster war ein Zwischenfall an der Königsberger Klinik, bei dem ein schizophrener Oberlehrer einem Patienten, den er wahnhaft für seinen Feind hielt, mit einem Brett aus der Segelflug-Werkstatt so heftig auf den Kopf schlug, daß dieser an einer Hirnblutung starb! Mehr oder weniger bedenkliche Erfahrungen mußten später, unter meinem Nachfolger Dr. CorneIsen, junge Adepten machen, die mit dem Anspruch, die "alte Psychiatrie" reformieren zu müssen, psychotische Erregungszustände ganz ohne Medikamente, nur durch "Gespräche" abschwächen oder beseitigen zu können glaubten. Einem dieser "Systemveränderer" wurde dabei von seinem Patienten das emanzipatorische Statussymbol, der Vollbart, ausgerissen! Das kommt davon, wenn man Ideologie statt Therapie betreibt!

Prof. Carl Schneider - nicht zu verwechseln mit seinem berühmten Nachfolger Kurt Sch. - , ein begabter, aus der Anstaltspsychiatrie hervorgegangener, origineller, aber im wissenschaftlichen Denken nicht recht disziplinierter Psychiater, war übrigens, was ich nicht wußte, ein überzeugter Nationalsozialist und hat 1945 wegen mir nicht näher bekannter Anschuldigungen, Suizid begangen!
 
Nach der Rückkehr aus Heidelberg baute ich in der Klinik eine regelrechte Arbeitstherapie auf, eine Einrichtung, die es bisher nur an psychiatrischen Langzeitanstalten, in dieser Form noch nicht an Universitätskliniken, gegeben hatte. Außerdem befaßte ich mich näher mit der neurologischen Diagnostik und Therapie und erlernte die Subcoccipitalpunktion und die Ventrikulographie zur röntgenologischen Darstellung der Hirnhohlräume, Methoden, mit denen noch vor Einführung der Elektroenzephalographie der Nachweis von Hirntumoren, Hirnatrophien, traumatischen Hirnveränderungen und anderen organischen Gehirnerkrankungen möglich geworden war.


Heirat 1935


Mit eigentlich wissenschaftlicher Arbeit begann ich erst nach meiner Heirat! Zuvor glaubte ich, mich von den noch frischen Erinnerungen an das Scheitern einer Partnerschaft mit den damit verbundenen Schuldgefühlen durch zeitweilige muntere "Schlürfereien" und andere junggesellige Allüren entlasten zu können. Es bedurfte der Einmündung dieses Obergangs- und Krisenstadiums in die ruhige Harmonie meiner Verbundenheit mit Antonia und der Begründung eines geordneten Ehelebens in der Königsberger Schrötterstraße auf den Hufen - in Kliniknähe - , um mir, dem immerhin schon 29-jährigen, zu konzentrierter Planung und Stetigkeit wissenschaftlichen Bemühens zu verhelfen. Die erste Begegnung mit Antonia geschah am 30. Juni 1934, dem Tage des Röhm-Putsches. Die Geschichte dieser privaten Begebenheit und ihrer Folgen habe ich in einem umfangreichen pseudopoetischen Epos in holperigen Knüttelversen zum 30. Juli 1978, Antonias siebzigstem Geburtstag, aufgezeichnet. Hier einige Auszüge bis zum Abschluß unserer Königsberger Zeit:

(Für den außenstehenden Leser ein paar Erklärungen mehrerer Namen: "Adsch" = Adalbert Connor, Sohn des Pastors der Deutschen Kirche in Tilsit, in dessen Familie Antonia und ihre Schwester Vera als Schülerinnen in "Pension" wohnten, Corpsbruder und späterer Schwager. "Lieschen Siehr" = in Tilsit wohnende Nachkommin bedeutender Landsmannschaften und Corpsbrüder der Littuania, darunter des ehemaligen Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen Ernst S., unverheiratet geblieben. Antonias früherer "keuscher Bräutigam" = Herbert Langkeit aus Skaisgirren, nach der - einvernehmlichen - Trennung, Lösung des Verlobtseins, einer unserer engsten Freunde, glücklich verheiratet mit Charlotte Le Jeune, später Richter und Senatspräsident am Bundessozialgericht in Kassel. Der "weitere Rivale" = Paul DargeI, hoher NS-Funktionär, Gauorganisationsleiter von Ostpreußen, nach dem Kriege verschollen. "Mika" = Abkürzung von "Mistkarre", einem alten, klapperigen Ford unseres Corpsbruders Ernst Kemke, Sohn des Widminner Gemeindevorstehers, dem ich als kleines Jungchen mit dem trotzigen "Einen Finger nehm' ich nich!" den Handdruck verweigert hatte. Die "drei Pastoren" = Vater Connor, Martin Braun, mein Corpsbruder und Leibbursch, später Superintendent in Münster. Werner Kreth = Domvikar und Domorganist in Frauenburg (siehe oben!) "Emmuschka" = Emma Jurkat, treue Helferin der Familie Hellwich, zuerst als liebevolle Kinderfrau, dann als treffliche Köchin, eng vertraut und doch distanziert, wie es sich für den Umgang der "Dienstboten" mit der "Herrschaft" in der patriarchalischen Gesellschaftsordnung des damaligen Ostpreußen gehörte. Sie redete Antonia später mit "Frau Professor, weißt Du noch?" an und bemerkte einmal zu einem meiner ärztlichen Mitarbeiter, auf Antonia weisend: "Wenn Sie mal wüßten, wie ich der Gnädigen ihr Popochen geküßt habe!" ! "Abschied von Soldatenleben" = Ich hatte während meiner soldatischen Grundausbildung als "Schütze Janz" geheiratet und mußte mir die Genehmigung eines Sonderurlaubs zu diesem Zweck vom Batallionskommandeur durch gute Schießleistungen "erschießen", wobei ich aus lauter Angst, vorbeizuschießen, so gut schoß, daß ich zwei Tage zusätzlichen Urlaub erhielt.

Nun der Text des Geburtstagsgedichtes:

"Antonia, Du mein liebstes Wesen,
Laß heute mich ein wenig lesen
Im Buche unsres langen Lebens,
Das mit des Nehmens und des Gebens
Sinnvollem Wechsel sich uns schenkte
Und unsre Wege glücklich lenkte
Auf Höhen, aber auch durch Tiefen -
Je nach den Stimmen, die uns riefen,
Unüberhörbar, wenn auch leise
Zu Zweit auf unsres Daseins Reise.
Ja - sie begann an jenem Tag,
Da Adsch und ich im "Hanomag
Von Papchen Janz mit viel Pläsier
Auf Brautschau fuhr´n zu Lieschen Siehr
Gen Tilsit, ohne uns zu irren.
Doch machten Halt wir in Skaisgirren,
Wo uns - ich weiß es noch, wie gestern -
Freundlich empfingen erst zwei Schwestem!
Die eine blond, die andre dunkel,
Die Blonde - so des Adsch Gemunkel -
Verlobt und so bereits vergeben,
Die andre sogar schon fürs Leben
Gebunden an den Connor-Knaben,
Sodaß hier leider nichts zu haben
Schien für mich, zumal durch früh'ren Schmerz
Zur Lieb' noch kaum bereit mein Herz.
Doch unerwartet wurde leise
Mein Inneres auf sanfte Weise
Berührt von süßem Ahnen:
Dies Blondköpfchen ist schon ein bißchen
Reizvoller noch als Tilsits Lieschen!
Und so verzichteten wir weise
Auf den weit'ren Teil der Reise!
Das Folgende ist rasch erzählt:
Antoniachen hat nicht erwählt
Den Bräutigam, den keuschen,
Von dem sie keinen Kuß erheischen
Durft' weil dieser streng - asketisch
Erklärt; ein Christ müßt' vor der Eh'
Auf solche Sünden fromm verzichten
Dies ging zu weit - sie sprach: "Mit nichten!"
Damit wurd' plötzlich für Hans-Werner
Der Weg frei, zumal ferner
Ein weiterer Rivale
Ihm weichen mußt' mit einem Male
(Obwohl der gut war anzuschau'n,
lamettaschön und durchaus braun!).
Nun folgte aber Schlag auf Schlag,
Bis schließlich zu dem großen Tag,
Nach Stiftungsfest und Stadthallball
Nach "Kaltem Näschen?«, Königshall
(Wobei Hans-Werner niedersank,
Doch rasch erhob sich wieder, Gottseidank!),
Nach Wochenend im Hellwich-Haus
Am Maientag, Verlobungsschmaus,
Belebt durch Opis Küken, Omis Segen,
Führt' Amor uns auf guten Wegen
So ward verbunden Schütze Janz
Mit Toni unterm Myrtenkranz,
Zugleich auch Adalbert mit Verchen
Es war warhaftig wie im Märchen!
(Wenn auch im Hochzeitsbett als Pärchen
Ausnahmsweis' statt der Ehegatten
Die Schwäger Platz genommen hatten,
Da Beide leider vor Beschlürfnis
nach andrem fühlten kein Bedürfnis!)
Hernach jedoch der Ehemann
Wurd' feurig so, daß ein Gespann
Des Bierfuhrwerkes aus Ponarth
Er streift' auf "Mikas" kühner Fahrt
In dichtbelebter Junkerstraße,
Weil er verkannt die breiten Maße
Von Kemkes altem Klapper-Ford
Drum flugs verließen diesen Ort
Die Flitterpaare Connor - Janz
in Richtung auf das Seebad Cranz.

Die Hochzeitsfeier, fast hätt' ich's vergessen,
Beschränkt sich nicht auf opulentes Essen
Aus Omis einzigart'ger Küchenkunst -
Nein, sie erfreute sich besondrer Gunst
Durch Gegenwart von drei Pastoren.
Die uns vom Himmel warn erkoren:
Vater Connor, der die Paare traute,
Martin Braun, der nicht genau hinschaute
Als jener ihm, damit er besser höre,
Darbot seine Ohrenröhre,
Verkannt' den Zweck des Hörgerätes
Als Aschenbecher. da schon spät es
War und die geistlichen Herren
Vergeblich suchten zu erklären
Gemeinsam mit dem Domvikar
Als Brüder in Christo: Warum wohl
war Des Teufels Existenz notwendig,
Wenn Gottes Geist im Mensch doch ist lebendig?
(Emmuschka wundert sich indessen,
Das Tischtuch hebend: Der Domherr hab' vergessen,
Beim langen Gespräche und reichlichem Weine
Sich mal zu vertreten die Beine!
Die Gute, sie konnte nicht wissen:
Der Geist schwebt über derlei Hindernissen!)
 
Der Abschied vom Soldatenleben
Beim Dorfe Arys fiel nicht eben
Sehr schwer, da wir erwarteten
Die Hochzeitsfahrt, zu der wir starteten
Mit Papchens "Hanomag", den Spuren
Der Kindheit folgend nach Masuren.
Dort war's denn auch beglückend schön
Der dunklen Wälder und der Seen
Tiefernste Stille uns umfing,
Sodaß die Zeit im Flug' verging
und unversehens uns tat rufen
Zur Schrötterstraße auf den Hufen,
Wo unser Nestchen wir beziehen
Konnten, sogar von den Mühen
Der Hausarbeit vorerst befreit
Durch Gerda, unsre Küchenmaid.
Denn "Tonichen" konnt' damals noch nicht kochen.
Der Krieg erst hat ein emstes Wort gesprochen
Und ohne Gerda sie gezwungen,
das zu erlernen, womit ihr gelungen,
Nicht nur zu kochen "so und so",
Sondern Hausfrau zu werden comme il faut!

Das war'n die ersten gute Jahre
In Königsberg, die ich bewahre
Mit Dir, mein Herz, im tiefsten Grunde
Als ruh'ges Glück, dem keine Stunde
Zu schlagen schien die Uhr des Lebens
Im Zauber wechselseit'gen Gebens
O, daß er ewig grünen bliebe,
Der süße Traum der jungen Liebe!
Doch nicht nur flitternd wird verbracht
Die schöne Zeit - Nein, manche Nacht,
Sogar der Urlaub ward mißbraucht
Zu Forschungsarbeit, daß es raucht
Im Kopf des Gatten.
Es kam hinzu: Gutachten hatten zu füllen
Die knappe Kasse im Stillen!
Mein Weibchen nahm dies brav in Kauf,
Es sagte sich, so ist der Lauf
Und auch der Ernst des Lebens
Nun einmal, und vergebens
Sind auf der Suche wir nach Rosen,
Die dornenlos uns nur umkosen!

Dir dank' ich's, Deiner, unsrer Liebe,
Daß manche jener wilden Triebe
Des Junggesellen (so das "Schlürfen"!)
Nun nicht mehr wie ehemals dürfen,
Edlere Seiten meines Seins verdrängen
Und meinen Daseinssinn verengen
Vielmehr der Wunsch nach höherer Entfaltung
Bestimmt nun meines Tuns Gestaltung!

"Zweite Hochzeitsreise" ins Saargebiet 1936


Ein Jahr nach unserer Hochzeit unternahmen wir eine "zweite Hochzeitsreise" zu und mit Connors. Adalbert hatte sich als Hals-, Nasen-, Ohrenarzt in Neunkirchen/Saar niedergelassen und dort schon erfolgreich gewirkt. Bei unserer nächtlichen Ankunft empfing uns die den Hochöfen entströmende, den Himmel flammend rötende "Waberlohe", Tag und Nacht ertönte das Hämmern, Quietschen, Rumoren aus dem riesigen Stummschen Eisenwerk, aus der Bessemer Birne sprühte blutrote Glut, aus dem Werk rollten glühende Eisenblöcke eine für uns agrarlandverbundene Ost-Elbier fremdartige, zunächst etwas unheimlich - verwirrende Welt, an die man sich aber bald gewöhnte. Die kleinen, ärmlichen, eng beieinander stehenden Häuschen der Eisenhütten- und Kohlengrubenarbeiter mit den von einem schweren Explosionsunglück 1932 herrührenden, notdürftig verklebten Rissen in den Mauern, die wir in den umliegenden Orten sahen, deuteten die sozialen Probleme der Menschen im saarländischen Industriegebiet an, das erst seit kurzem wieder zu Deutschland gehörte. Der Begründer des Neunkirchener Eisenwerkes, der - später geadelte - Freiherr Karl Ferdinand von Stumm, mit Borsig, Krupp, Siemens, Emil Rathenau einer der großen Industrie-Unternehmer-Persönlichkeiten der Bismarck -Zeit, war als politisch höchst aktiver Repräsentant der "Freikonservativen" und Berater Kaiser Wilhelms II. frühzeitig für eine Altersund Invalidenversicherung der Arbeiter eingetreten und hatte mit seiner "patriarchalischen Sozialpolitik" Arbeiterwohnung, Betriebskranken- und Pensionskassen sowie eigene Konsumanstalten geschaffen. Damit verstanden er, der "Saarkönig", und die anderen "Schlotbarone", wie sie respektlos genannt wurden, die Arbeiter an den Betrieb zu binden und einer von der Sozialdemokratie geforderten umfassenden staatlichen Arbeiterschutzgesetzgebung entgegenzuwirken und der Gewerkschaftsbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen - wenigstens eine Zeitlang. Wilhelm II. hatte sich übrigens im sozialpolitischen Bereich bei der Groß- und Schwerindustrie soviel politische Rückendeckung verschafft, daß er "nun leichter auf sein Ziel Iosgehen konnte, den unbequemen Kanzler loszuwerden", schreibt Ernst EngeIberg im zweiten Band seiner monumentalen Bismarck-Biographie. Dank der sozialreformerischen Vorarbeit Stumms waren die Arbeiter des Neunkirchener Eisenwerkes in einem patriarchalischen Treueverhältnis mit ihrem Betrieb verbunden und im allgemeinen zufrieden, jedenfalls nicht kommunistisch verhetzt und zum Teil sogar Mitglieder des "Stahlhelm". Hingegen gab es unter den Arbeitern in den staatlichen Gruben viel Unzufriedenheit und infolge der Verteuerung der Lebensmittelpreise und durch den Wegfall der billigen Versorgung aus dem französischen Elsaß - ohne Lohnerhöhung! - Anlaß zu linksgelenkter Auflehnung ("Deutsch ist die Saar - schlimmer als es war!").

Einen beklemmenden Eindruck von der schweren und gefährlichen Arbeit unter Tage gewann ich bei der von unserem späteren Freunde, dem Bergassessor Rudolf Wawersik, ermöglichten Einfahrt in ein Kohlebergwerk bis zu einer Tiefe von 700 m - für mich nachmaligen Segelflieger ein gleichsam "antipodisches" Erlebnis, das den ernsten Sinn des Bergmanngrußes "Glück auf!" ebenso eindringlich verstehen ließ wie den des fliegerischen "Glück ab!"

Von sozialen Spannungen war nichts zu vermerken bei der Kirmes, "Kerb" genannt, die gerade gefeiert wurde, als wir dort waren: Die Straßen erfüllt von laut singenden, lachenden, torkelnden Menschen mit grünen Hütchen und Federn am Kopf und unter dem nächtlichen Glutschein der "Waberlohe" die sich drehenden Lichter der Karussells - harte Arbeit und ausgelassene Fröhlichkeit, Walzwerk und Kirmes, Kohlengrube und Karussell, Kapitalismus und Arbeiterschaft - diese Kontraste nur 25 Kilometer von der deutsch-französischen Grenze entfernt! "Mit einem nach Entfernung und Geschwindigkeit genau berechneten Schuß und mit gezielt abgeworfenen Bomben könnte dieses wichtige Industriegebiet mit seinen Menschen schlagartig ausgelöscht werden!" schrieb ich am 1. September 1936 ahnungsvoll an meine Eltern!

Von Neunkirchen ging es mit Adalberts neuem Heckmotor-Mercedes an die Mosel (in Abwandlung der damals viel gelesenen Bindingschen Novelle "Moselfahrt aus Liebeskummer" war es eine "Moselfahrt aus Liebesfreude"), nach Heidelberg und in die Pfalz. Beim "Dürkheimer Wurstmarkt" schlug ich mit dem Hammer des "Haut den Lukas" so konstant daneben, daß das umstehende Publikum sich vor Lachen bog, und in Heidelberg ahmte ich vom Fenster einer Zahnarztpraxis aus, in die sich Adalbert begeben mußte, den Vorgang des Bohrens und Ziehens pantomimisch offenbar so eindrucksvoll nach, daß ein Ausflugsbus vor dem Hause hielt, um den Insassen diese im Programm nicht vorgesehene Darbietung nicht entgegen zu lassen. Auch sie lagen sich vor Lachen in den Armen. So munter waren wir damals!


Zur Weltausstellung in Paris 1937


Ein Jahr später, im Juli 1937, unternahm ich gemeinsam mit Antonias Skaisgirrer Vetter Dr. med. Frank Lenuweit eine Reise zur
Pariser Weltausstellung. Wegen der strengen Devisenbestimmungen durften nur wenige deutsche Reichsmark mitgenommen werden. Als wir die Grenze passiert hatten, zog Vetter Frank mit schlauem Blick eine größere Summe aus seinem Schuh-Versteck hervor, was mich zu der scheinheiligen Bemerkung veranlaßte, ich wolle mit seinen schmutzigen Devisenschmuggeleien nichts zu tun haben. Dies hinderte mich jedoch nicht, ihn anzupumpen. Devisenstark, wie er war, konnte er es sich leisten, die "Folies Bergères" zu besuchen und einiges vom Pariser Nachtleben zu genießen. Das hatte ihn so ermüdet, daß er im Louvre mehrfach sanft entschlummerte und auch durch den Anblick der Leonardoschen Mona Lisa, "La Gioconda", nicht recht erfrischt werden konnte.

Mit Hilfe unserer illegal aufgestocken Devisen konnten wir Beide ein am Boulevard Edgar Quinet gelegenes Etablissement "Aux belles Poules" aufsuchen, das uns von einem lettischen Verwandten Antonias, dem Juristen Udrys, empfohlen worden war. (Udrys wurde später, bei der sowjetischen Okkupation Lettlands, als Generalstaatsanwalt von den Russen verhaftet und verschleppt und ist verschollen geblieben!) Beim Betreten dieses Lokals, das nur durch Klopfzeichen geöffnet wurde, erschrak ich so über das "Obenohne" der "schönen Hühner", daß ich meine Brille abnahm, um nichts Genaueres erkennen zu müssen. Aber ich setzte sie bald wieder auf und sträubte mich nicht, als ein schmuckes "Hühnchen" sich zu mir setzte und folgenden Dialog begann: "Un petit baiser, Monsieur?" Ich: "Non Mademoiselle, merci!" Sie: "Un peu d'amour?" Ich: "Non, non!" Sie: "Peut être une petite exibition?" Ich "Aussi non, merci!" Sie: "Mais avec belles positions!" Ich: "Pardon, je suis marie!" Sie: "Ah, vous êtes un Allemand?" Ich: "Oui, Mademoiselle, et je regrette: Je n'ais pas des divises!" Damit verließ mich das schöne Hühnchen, nachsichtig lächelnd. Die Wahrheit dieser Geschichte kann von Vetter Frank, der dabei war, bezeugt werden! Während er, devisengeschwollener als ich, bei den Hühnern verweilte, entschwand ich in unser dürftiges Hotelchen und verbrachte die Nacht einsam in einem typisch französischen Doppelbett, das ich erst gegen Morgen mit dem Spätheimkehrer Frank teilen konnte.

Von der Weltausstellung selbst sind mir nur der deutsche, von Albert Speer entworfene, und der russische Pavillon in Erinnerung geblieben, beide herausfordernd einander gegenüberstehend, der deutsche mit Reichsadler und Hakenkreuz, der russische mit einem Hammer- und Sichelbewehrten Arbeiterpaar - die beiden feindlichen und doch so verwandten Weltanschauungen symbolisierend.

Vom Eiffelturm habe ich ein Scherz-Photo aufbewahrt, auf dem Vetter Frank und ich, an jeder Seite mit dem Arm am Gitter hängend, zu sehen sind.

Unser letztes Jahr in Königsberg war überschattet vom langen Sterben und dem erlösenden Tod meiner Mutter, unseres auch von Antonia geliebten und verehrten "Mamchens". Als Tote hatte sie ein schönes, jugendliches, die Reinheit ihrer Seele ausstrahlendes Antlitz.

Mit dem verwitweten "Papchen" haben wir nach meiner zweiten Segelflugprüfung in Wenningstedt auf Sylt noch kurz vor Ausbruch des Krieges letzte Sommertage auf der Kurischen Nehrung, in Nidden, genossen. Wir wohnten bei Hermann BIode, dessen schlichtes Gasthaus durch Maler wie Pechstein, Bischoff-Kuln, Mollenhauer, Kallmeyer, Partikel berühmt geworden und mit deren Bildern geschmückt war. Mein Vater belohnte Antonia für jeden Elch, den sie erblickte, mit einer Mark, bis sie täglich drei und mehr von ihnen aufspürte und der Finderlohn eingestellt wurde!

Papchen teilte uns damals schon mit, daß er an eine neue Partnerschaft mit einer Braunsberger Lehrerin denke, was uns - Mamchens Tod lag erst vier Monate zurück - eine schlaflose Nacht einbrachte. Er hat diese gut aussehende, gebildete und gesellschaftlich angesehene Frau auch geheiratet, ist aber bald danach, am Jahrestag der Beerdigung meiner Mutter, an doppelseitiger Lungenentzündung im Elisabeth-Krankenhaus in Königsberg gestorben, neben dem Krankenbett seiner zweiten Frau, die zugleich mit ihm wegen einer septischen Kieferhöhlenentzündung eingeliefert worden war! Sein Immunsystem, wie man heute sagen würde, war hochgradig geschwächt durch eine radikale Abmagerungskur, der er sich, ein gar nicht einmal dicker Pykniker, aus Rücksicht auf Mamchens Nachfolgerin, die keine beleibten Männer liebte, unterzogen hatte. Die Nonnen des Braunsberger Katharinenklosters, deren eine, die gute Schwester Gonsalva, meine kranke Mutter rührend gepflegt hatte, meinten: "Jetzt hat die Frau Medizinalrat ihn zu sich in den Himmel geholt!"

Ich bemühte mich um Verständnis für die zweite Heirat meines Vaters, weil er ein "Du-Mensch" war, der nicht lange allein bleiben konnte und in der viele Jahre andauernden Krankheit meiner Mutter - "chronische Polyarthritis" tuberkulöse Aussaat, die schließlich zur Miliartuberkulose und Meningitis führte - auf eine intimere eheliche Gemeinschaft hatte verzichten müssen. Auch Bostroem, dem ich mich mit diesem Problem anvertraute, teilte mein Verständnis, und mein Vater hat es mir gedankt. Mein verehrter klinischer Lehrer war mir inzwischen innerlich immer näher gekommen und zur zweiten Vaterfigur geworden. Er nahm mich denn auch nach Leipzig mit, als er dem Ruf auf das dortige Ordinariat folgte, und damit begann für uns ein neuer Lebensabschnitt.

Leipzig 1939 - 1947
 

Fortsetzung des Geburtstagsgedichtes für Antonia:

        Und so ging's weiter auf die Reise

        Vom Pregelstrom zum Rinnsal Pleiße,

        Von Königsberg, wie es noch hieß,

        Von Kant zu Goethes "Klein-Paris",

        Mit Bostroem, väterlichem Freund,

        Dienstlich und persönlich eng vereint,

        Zu neuen Ufem, neuer Wohnung

        (Und neuer Hilfskraft - mit Betonung

        Sag' ich's: Nicht Gerda nannte sich die Holde,

        Nein: Dieses Prachtstück hieß Isolde

        Vor Liebestod blieb sie gefeit

        Durch Körperumfang: Hoch wie breit!)


Medizingeschichtliches

In Leipzig empfing mich eine akademische Tradition, die durch drei berühmte Namen vertreten war: Strümpell, Möbius, Flechsig. Sie waren es, die Leipzig Ende des 19. Jahrhunderts zu einer der Hauptstätten neurologischer Forschung entwickelt hatten. Adolf StrümpeII, Sohn eines Professors der Philosophie im baltischen Dorpat, wurde als Internist einer der Mitbegründer der Neurologie in Deutschland. Als Dreißigjähriger hatte er 1883 ein Lehrbuch der Speziellen Pathologie und Therapie der Inneren Krankheiten verfaßt, das in einem "Nervenband" bereits ein geschlossenes Lehrbuch der Neurologie enthielt, ein Jahr später eine Auflage von 70 000 Stück erlebte und bis 1934 in 32 Auflagen erschienen ist. Ich besitze noch ein Exemplar aus dem Jahre 1907! StrümpeII - er wurde durch Verleihung des bayerischen Kronenordens in den persönlichen Adelsstand erhoben, machte aber keinen Gebrauch davon, sondern führte in seinen Publikationen auch weiterhin seinen _alten bürgerlichen Namen" - hatte frühzeitig und weit vorausschauend die Bedeutung des "psychischen Ursprungs zahlreicher Krankheitszustände und der Möglichkeiten ihrer Heilung wiederum auf psychischem Wege" erkannt, so lautete das Thema seiner Erlanger Rektoratsrede. Zwölf Jahre vor den Veröffentlichungen Freuds und Breuers ist er bereits auf die psychische Entstehung der Neurosen eingegangen - wobei er unter "Neurosen" allerdings auch bestimmte Organkrankheiten wie die Epilepsie, die Basedowsche und die Parkinsonsche Krankheit verstand -, und mit einer 1896 erschienen Schrift hat er die Grundlagen für den Begriff der "Unfallneurosen" und dessen intensive Diskussion geschaffen. Im Unterschied zu seinem verehrten Lehrer Erb - der auch der Lehrer Nonnes war - forderte er nicht die Selbständigkeit der Neurologie gegenüber der Psychiatrie, sondern trat für die Untrennbarkeit der beiden Gebiete ein, die auch für meinen Lehrer Bostroem wie für mich selbst noch zusammengehörten. Inzwischen hat sich die Neurologie mit ihrer fortschreitenden Spezialisierung als selbständiges Fachgebiet durchgesetzt und die Psychiatrie in biologische, neurochemische und neuropharmakologische Richtungen auf der einen und eine soziologische, verstehend anthrologisch-personalistische Orientierung auf der anderen Seite aufgegliedert. Das StrümpeIIsche Postulat einer Einheit der Psychiatrie und Neurologie gehört der medizingeschichtlichen Vergangenheit an. Aber Adolf StrümpeII steht mir innerlich in seiner geistigen Haltung und als Mensch, Gelehrter und Universitätslehrer nahe, zumal von ihm ein fachlich-akademischer Weg über seinen ehemaligen Leipziger Fakultätskollegen Oswald Bumke, den späteren Münchener "Psychiatrie-Papst", zu dessen Schüler, meinem Lehrer Bostroem, führt. Bemerkenswert ist, daß StrümpeII als Internist wie danach auch andere Internisten - Viktor von Weizsäcker, Thure von UexküII, Arthur Jores - zu den Wegbereitern der "Psychosomatischen Medizin" im deutschen Sprachraum gehört. Bumkes Münchener Nachfolger Kurt Kolle hat in einem von ihm herausgegebenen Sammelwerk "Große Nervenärzte" (1963) ein lebendiges Bild StrümpeIls hinterlassen, dieses "bescheidenen, stillen Gelehrten, der ganz aufgeht in seinem Dienst als Arzt und Lehrer, der sich an Kunst und Natur begeistert", eines "Repräsentanten der akademischen Medizin, der die besten Eigenschaften eines vielseitig gebildeten, schöpferischen und zugleich kritischen Geistes in sich vereinigt" - ein, wie hinzuzufügen wäre, inzwischen ausgestorbenes Leitbild!

StrümpeIIs Assistent an der Neurologischen Abteilung der Leipziger Medizinischen Poliklinik war der hoch- und vielseitig begabte Paul Julius Möbius, eine der interessantesten, ideenreichsten und eigenwilligsten Persönlichkeiten in der Geschichte der Nervenheilkunde und Psychiatrie. Möbius, Enkel eines Professors der Mathematik und Astronomie, Direktors der Leipziger Sternwarte, Neffe eines bedeutenden Philologen, Sohn des Direktors der Ersten Bürgerschule in Leipzig, Nachkomme von Künstlern und Pastoren bis zurück zu Martin Luther, verkörperte um die Wende des 19. Jahrhunderts den Versuch, als fachlicher Außenseiter „Kultur und Bildung seiner Epoche zu umfassen", wie sein Biograph A. R. Bodenheimer aus Zürich schreibt. Nach dem Theologie- und Philosophiestudium - die Philosophie diente ihm wesentlich, um die geistigen Eigenschaften des Menschen, ihre Entstehung und ihre Beziehung zu den körperlichen Eigenschaften genauer zu erforschen" - erwarb er als niedergelassener Nervenarzt die Venia legendi an der Leipziger Universität und erteilte zehn Jahre lang neurologischen Unterricht, wurde aber wegen seines schwierigen, die Universitätskollegen häufig brüskierenden Verhaltens nicht zum Professor ernannt. Gleichwohl sind ihm bedeutende wissenschaftliche und klinische Leistungen zu verdanken: Die Erkenntnis, daß die Basedowsche Krankheit auf einer Überproduktion des Schilddrüsenhormons beruht und mit einem „Antithyreoidin" behandelt werden kann, die Erforschung der Syphilis des Zentralnervensystems ( „Neorolues") und verschiedenartiger Lähmungen im Bereiche der Hirnnerven, wichtige Beiträge zur allgemeinen Psychopathologie und vertieftes Verständnis für die Symptomatik und das Wesen der sogenannten „Hysterie". Dies alles mit einer auch von Bumkes Vorgänger KraepeIin in München, dem Begründer der damals neuen Lehre einer Einteilung der psychischen Krankheiten, anerkannten Klarheit des Denkens, aber auch mit dem „fanatischen Drang, das als wahr Erkannte provozierend auszusprechen" und damit den Widerspruch zu herrschenden Ansichten herauszufordern. Als vorausschauender „Psychosomatiker" erwies er sich allein mit den Worten: „Man kann wohl sagen, die ganze Geschichte der Medizin wäre eine andere, weniger beschämende, hätte man jederzeit den seelischen Faktor (bei organischen Erkrankungen) genügend berücksichtigt. Ein Gramm Kenntnis des menschlichen Gemütes kann dem Ärzte nützlicher sein als ein Kilogramm Physiologie ohne jenes!" Besonders weitsichtig und kühn war auch sein militanter Kampf um die Errichtung von „Nervenheilstätten" mit der Forderung nach Arbeitstherapie und nach dem, was wir heute „Gruppentherapie" nennen würden, die er sich in einer Art „moderner klösterlicher Einrichtungen", aber nicht im Stile der konventionellen Pflegeanstalten, vorstellte. Er wandte sich damit scharf gegen

en die im ausgehenden 19. Jahrhundert aufgekommenen Tendenzen zu einer „Ausmerzung" der lebensuntüchtigen, „die Volkskraft bedrohenden Minderwertigen" und „nervösen Schwächlinge", und er kämpfte mit der gleichen Entschiedenheit, aber auf ziemlich verlorenem Posten gegen den Alkoholismus. Medizin und geistesgeschichtlich interessant ist auch, daß Möbius in seiner späten Schrift über „Die Hoffnungslosigkeit aller Psychologie" der naturwissenschaftlich fundierten „Experimentalpsychologie" eine scharfe Absage erteilt. Er nimmt darin mit dem Konzept des „Unbewußten" die Grundlagen der modernen Psychologie vorweg, ohne die Person und das Werk seines Zeitgenossen Freud gekannt zu haben, und beruft sich auf Eduard von Hartmann , der die fundamentale Bedeutung des Unbewußten für die Physiologie der „Nervencentra", die Biologie, die Psychologie und Charakterkunde, die Ethik und Entwicklungsgeschichte, ja, für das menschliche Leben überhaupt in seiner ehemals berühmten Philosophie des Unbewußten" (1868) herausgearbeitet und begründet hat. Eduard v. Hartmann, ein kritischer Außenseiter der damaligen Universitätsphilosophie, hat im Vorwort zur 12., 1923 bei Kröner - Leipzig erschienenen Auflage seines dreibändigen Werkes daran erinnert, daß der Begriff des „Unbewußten" bereits in ScheIIings „Naturphilosophie" und „transzendentalem Idealismus" „am deutlichsten zu Tage getreten" und in der Ästhetik von Jean Paul , Friedrich Theodor Vischer und Moritz Carriere übernommen worden sei. In Carl Gustav Carus, der ScheIIings Natur philosophie besonders nahestand, sah v. Hartmann geradezu einen „Vorläufer der Philosophie des Unbewußten". Den Ausgangspunkt seiner Untersuchungen fand er aber in Kants „klaren Worten" aus dessen Anthropologie: „Vorstellungen zu haben, und sich ihrer doch nicht bewußt zu sein, darin scheint ein Widerspruch zu liegen ... Allein wir können uns doch mittelbar bewußt sein, eine Vorstellung zu haben, ob wir gleich unmittelbar uns ihrer nicht bewußt sind."
Es wäre lohnend, sich heute, da das "Unbewußte", meist unreflektiert, in aller psychologisierenden Munde ist, wieder mit v. Hartmanns tiefgründigen Gedanken zu diesem Gegenbegriff des „Bewußtseins" zu beschäftigen. Ich selbst neige zur Zurückhaltung gegenüber seiner Definition des „Unbewußten" und glaube, daß es in seinem Einfluß auf das menschliche Verhalten seit Freud weit überschätzt worden ist und immer noch wird.

Wenn dem „Neuropsychiater" Möbius auch eine breitere Resonanz in seiner Zeit versagt blieb, so erlangte er in der Mit- und Nachwelt eine - allerdings höchst fragwürdige Berühmtheit mit seiner Broschüre „Über den Physiologischen Schwachsinn des Weibes". Sie erlebte in acht Jahren neun Auflagen und löste zahlreiche anerkennende, aber noch viel mehr leidenschaftlich ablehnende Leserstimmen aus. Abgesehen von dem Widerspruch, daß „Schwachsinn" nicht „physiologisch" sein kann, mußte und muß heute noch diese „Diagnose" als eine unwissenschaftliche und empörende Verunglimpfung der Frau empfunden werden, mit der sich zu Recht geradezu ein Wasserstrom auf die emanzipatorische Mühle unserer Feministinnen ergießen würde. Möbius versuchte sich mit dem Argument zu verteidigen, er habe mit seiner Arbeit der Frau nur einen Dienst erweisen wollen, um sie vor Überforderung zu schützen und vor falscher Beurteilung zu bewahren. Das mag insoweit sogar plausibel sein, als die bürgerliche Frau seiner Zeit tatsächlich immer noch als das „schwache Geschlecht" galt. Vom Manne erwartete die Gesellschaft, daß er, wie Stefan Zweig es in „Die Weit von gestern" so anschaulich beschreibt, „forsch, ritterlich und aggressiv", von der Frau, daß sie „scheu, schüchtern und defensiv" sei, „Jäger und Beute statt gleich und gleich". Das junge Mädchen sollte „töricht und unbelehrt, wohlerzogen und ahnungslos, neugierig und schamhaft, unsicher und unpraktisch" sein, ... durch diese lebensfremde Erziehung von vornherein bestimmt, in der Ehe dann willenlos vom Manne geformt und geführt zu werden."... „Das unverheiratete Mädchen wurde zum ,sitzengebliebenen' Mädchen, das sitzengebliebene Mädchen zur ,alten Jungfer', an der sich der schale Spott der Witzblätter unablässig übte." Dies alles als „das kunstvoll gezüchtete Produkt einer bestimmten Erziehung und Kultur" schien in der Tat nicht weit entfernt von einer Art „sozialen Schwachsinns" der Frau zu sein.
Daß Möbius aber die Frau wegen ihrer Konstitution und ihres Hirngewichtes als schwachsinnig bezeichnete, ist bei einem sonst so klar und scharfsinnig denkenden Wissenschaftler, wenn überhaupt, am ehesten psychologisch zu verstehen, und zwar dadurch, daß er nie über die Bindung an seine Mutter hinausgelangt ist und nach unharmonischer, bald geschiedener kinderloser Ehe mit einer zehn Jahre älteren, als geistvoll, aber geschwätzig geschilderten Frau mit keiner Frau jemals eine glückliche, nachhaltige Beziehung erlebt hat. Die

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öffentliche Wirkung seiner unglücklichen Publikation trieb ihn noch tiefer in die seinem Wesen eigene Einsamkeit hinein, die er mit Pathographien über Sch u man n , den von ihm hoch verehrten Schopenhauer, sein anderes Idol Rousseau , über Nietzsche und mit zwei umfang- und gehaltreichen Werken über Goethe produktiv auszufüllen wußte. Eine alte Cousine „farblos und treu", hatte ihm nach dem Tode der Mutter den Haushalt geführt und bei seiner wissenschaftlichen Arbeit geholfen. Eine Pathographie über Darwin blieb unvollendet. Hunde, deren Verhalten er sorgfältig beobachtete, wurden ihm wichtiger als Menschen. In seinem Testament vermachte er eine große Summe dem Tierschutzverband. „Den Schreibtisch des vormaligen christlichen Theologen behütete eine Buddha-Statuette." Mit 54 Jahren ist er an einem KieferCarcinom, der Krankheit F r e u d s , gestorben. Kein Geistlicher begleitete seinen letzten Weg.
Der dritte bedeutende Repräsentant der Leipziger akademischen Psychiatrie und Neurologie war Paul FIechsig (1847 - 1929), einer der Vorgänger Bostroems als Ordinarius und Direktor der Universitäts-Nervenklinik. Flechsig hatte die embryologische (ontogenetische) Entwicklung verschiedener Leitungsbahnen des Gehirns und Rückenmarks untersucht und damit auch andere, ähnlich ergebnisreiche hirnanatomische Forschungen angeregt. Sein Vorläufer in der entwicklungsphysiologischen Erforschung des zentralen Nervensystems war der berühmte Franz Josef GalI, Goethes Zeitgenosse, der mit seinen bahnbrechenden Untersuchungen zur vergleichenden Anatomie des menschlichen und tierischen Gehirns in die Geschichte der naturwissenschaftlichen Anthropologie eingegangen ist. GalI hat zum Beispiel die Bedeutung des Stirnhirns als Hauptsitz der intellektuellen Fähigkeiten und Leistungen des Menschen und die Kreuzung der sogenannten PyramidenLeitungsbahnen im verlängerten Rückenmark genau beschrieben, die es erklärt, daß Schädigungen in der einen Gehirnhälfte Lähmungen und andere neurologische Störungen in der entgegengesetzten hervorrufen - eine seit der antiken Medizin neue Erkenntnis. Allerdings erlag GalI der romantischen Bewegung seiner Zeit, wenn er etwa im Hinterhauptlappen und zentralen Sehorgan des Gehirns die Gefühle der „reinen Liebe zu Eltern, Gatten und Kind" lokalisieren wollte. FIechsig hat dann die GalIsche Hirnlokalisationslehre und deren romantische Visionen (man sprach zu meiner Zeit gerne von „Hirnmythologie")

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auf eine materialistisch-mechanische Formel zurückzuführen versucht. In seiner Leipziger Rektoratsrede 1894 sieht er alle psychischen Funktionen an „höhere" Zentren, „Denkorgane" gebunden, in denen die verschiedenen Sinneseindrücke „assoziiert" werden. Die Gedächtnisspuren als Grundvorgang des Denkens seien materieller Natur und in den Ganglienzellen gespeichert. Auch bei den großartigsten Werken der Gelehrten und Künstler handele es sich um einfache mechanische Vorgänge, das ganze geistige Leben sei als ein an eine materielle Substanz gebundener Vorgang zu erklären. Auch die Moral, die Sittenlehre - er bezieht sich hierbei auf die materialistische Philosophie des Barons d' HoIbach (1723 - 1789) - beruhe auf physiologischen Grundlagen, und die medizinische Physiologie müsse eine „Moralphysiologie" erarbeiten, auf der eine künftige Gesetzgebung aufgebaut werden könne. Dazu hätte aber die Psychologie erst den Rang einer exakten Wissenschaft zu erbringen, an dem es ihr noch fehle! Für die Immaterialität des Psychischen und Geistigen wie für die notwendige Relativierung einer strengen Himlokalisationsiehre war in diesem Denken kein Platz. Die „sittliche Hebung der Menschheit" müsse vielmehr von der körperlichen Seite her angestrebt werden, von der die „Kraft des Geistes" abhängig sei! Folgerichtig führte FIechsig die damals „moral insanity" genannte, durch eine Neigung zu unsittlichen Handlungen charakterisierte Abartigkeit, den „moralischen Schwachsinn" - mit der Bezeichnung „Schwachsinn" ging man recht freigebig um - auf eine „Schwäche des Großhirns" zurück, wie er in seiner Rektoratsrede ausführte.
Offenbar fehlte es FIechsig bei dieser materialistischen Einstellung auch an menschlicher Nähe zu seinen psychisch Kranken. Uns wurde z.B. berichtet, daß er es ängstlich vermied, bei seinen Visiten die Schwerkrankenabteilungen der Klinik zu betreten! Sein großes Verdienst war die Konzeption und der Bau der Leipziger Klinik. Zuvor soll er, um alle wichtigen Anstalten zu besichtigen, durch halb Europa gezogen sein, und zwar, wie man sagte - zu Fuß!?
Bostroems direkter Vorgänger war Paul Schröder, „kein Mann der diffizilen Diskussion, aber der große Praktiker", von seinem ehemaligen Oberarzt, dem späteren hochberühmt gewordenen „Nestor der deutschen Psychiatrie", Hans Bürger - Prinz in Hamburg, als großer Lehrer und Arzt verehrt. So sahen ihn auch wohl seine Mitarbeiter, und Bostroem hatte es nicht leicht, ihre Sympathie zu gewinnen. Sie nannten den neuen Chef wenig

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freundlich und auch unverdient „Feldwebel", weil er in seiner disziplinierten und nach außen zunächst kühl wirkenden Haltung die Zügel der Klinikführung merklich straffte. Schröder hingegen hatte mit eigenen gesundheitlichen Problemen zu tun: Er litt an schwersten Migräneanfällen mit tiefen, mißlaunigen Verstimmungen, unter denen dann auch seine Umgebung und das Arbeitsklima der Klinik zu leiden hatten. Auf mich wirkte er ausgesprochen milde und gutherzig, was er sicherlich auch war, im besonderen auch angenehm unprofessoral. Daß er noch an dem konventionellen Stil der Vorlesung festhielt, merkte ich, als er sich verwundert darüber äußerte, daß ich das Thema meiner Antrittsvorlesung, an der er teilnahm, - „Zentralnervöse Reaktionen auf akute Hypoxaemien (Sauerstoffmangel) des Gehirns" - mit einem wissenschaftlichen Film zu veranschaulichen suchte. Das hatte es anscheinend bisher noch nicht gegeben.
Bürger-Prinz erzählt von ihm, daß er, wenn ihm ein Patient mit der subtilen psychopathologischen Diagnostik der Heidelberger Schule vorgestellt wurde, „mit säuerlicher Miene zuhörte und schließlich nuschelte" (er war Berliner): ;,Naja, wird jesund!" Das war dann vorerst alles. Diese schroffe Kurzformel änderte jedoch nichts an der Tatsache, daß Schröder ein Meister in der psychiatrischen Erfahrung war. Er war auch ein ausgezeichneter Neurologe und Neuropathologe. „Nur schätzte er das rein Theoretische eben gar nicht. Auch Theorie mußte einen klaren Bezug zum Praktischen haben." (In: „Hans Bürger-Prinz - Ein Psychiater berichtet". Hoffmann und Campe Verlag Hamburg, 1971). Sein besonderes Interesse galt auch der Psychiatrie Jugendlicher. Dank seiner Initiative war eine Jugendpsychiatrische Abteilung an der Klinik eingerichtet worden, die von Frau Dr. Leiter vorbildlich geführt wurde.
Die Umstellung auf Leipzig wurde uns erleichtert durch die gegenseitige Sympathie mit Schröders letztem Oberarzt Gerhard Schorsch und seiner Frau. Sie luden uns bald zu ihren Hausfesten ein, die sie mit besonderem Sinn für individuelle Gestaltung zu feiern wußten-. Die einen hörten leichte Unterhaltungs-, die anderen klassische Musik, die einen betrachteten Bilder oder lasen etwas, die anderen unterhielten sich plaudernd oder diskutierten ein wissenschaftliches oder literarisches Thema - immer wieder Nietzsche - zu dessen Grab Schorsch gerade mit Freunden gewallfahrtet war - nur gefachsimpelt wurde nicht. Das damals zur Welt gekommene Töchterchen der Gastgeber wurde von ihnen„ Irene" = „Frieden" genannt, eine Vorbedeutung, die

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bald danach zunichte wurde. Frau Schorsch, eine diplomierte Psychologin, ließ den Säugling in ein anderes Zimmer bringen, damit Antonia, die unter unserer Kinderlosigkeit litt, nicht von dessen Anblick schmerzlich berührt werden sollte - Ausdruck eines feinen Einfühlungsvermögens und Taktgefühls, das wir bei anderen ihrer Berufskolleginnen vermissen mußten! Gerhard Schorsch haben wir es zu verdanken, daß wir später die „DDR" verlassen konnten, um in Ilten seßhaft zu werden: Als ich im Jahre 1947 von einer kommunistischen Fachkollegin, Frau Dr. med. Bendrat, die nach meiner Oberarztstelle strebte - sie war im „Dritten Reich" brauner als braun gewesen und wurde im Vierten „märxer als Marx" - wegen „antidemokratischer" Äußerungen beim Dekan der Medizinischen Fakultät Hueck, dem Prorektor LendIe und dem Rektor der Universität Gadamer und schließlich bei ihrer Parteileitung denunziert worden war, läutete er mich an, um mir mitzuteilen, daß die Chefarztposition der Wahrendorffschen Privaten Nervenklinik neu zu besetzen sei. Falls ich einverstanden sei, würde er mich bei Herrn Hugo Homann, dem Sprecher der Wahrendorffschen Erbengemeinschaft, vorschlagen. Bürger-Prinz -Hamburg und Störring -Kiel hätten abgelehnt, weil sie Aussicht hatten, auf ihre Lehrstühle zurückzukehren. Natürlich habe ich sofort dankbar zugestimmt, bin „schwarz" über die Grenze gegangen, von Schorschs in den Bodelschwingschen Anstalten Bethel bei Bielefeld, deren ärztliche Leitung Gerhard nach Leipzig übernommen hatte, liebevoll-freundschaftlich aufgenommen worden, konnte mich Herrn Homann und den Geschwistern Wahrendorff vorstellen - und wurde gewählt. Allerdings bedurfte die Wahl noch der Bestätigung durch die Niedersächsische Landesregierung und durch Gutachten der Professoren Bürger-Prinz , Mauz und Pette (Nonnes Nachfolger) - Hamburg, Kretschmer - Tübingen und Wagner - München. Aber den Anstoß zu dem Weg in einen neuen Lebensabschnitt hat Gerhard Schorsch gegeben, mit dem uns seitdem eine stetige, ungetrübte Freundschaft verbindet, in die wir auch seine zweite Frau Lilo - die erste starb zu früh -, einen wunderbaren Menschen, eingeschlossen haben. Auch sie hat inzwischen dieses Erdendasein verlassen. Schorsch selbst hat bis zu seiner Pensionierung segensreich in Bethel gewirkt. Pastor v. Bodelschwingh sagte von ihm, er sei „ein Gottesgeschenk für die Kranken"! Als einer der ganz wenigen Psychiater hat er sich wissenschaftlich und praktisch mit dem oft so schwer

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einfühlbaren Wesen und Verhalten der geistig Behinderten, im besonderen auch der intellektuell Tiefststehenden befaßt. Er war ein ausgezeichneter Graphologe und hat mit der Analyse der Handschriften Jugendlicher wichtige Ergebnisse für die Frühdiagnose psychischer Erkrankungen erzielt. Bis zu seinem Tode im 91. Lebensjahr hat er noch unentwegt an einem Manuskript über „Das Geistige in der Evolution" gearbeitet.
Übrigens: Meine nantidemokratischen" Äußerungen, deren und Schorschs Hilfe ich es zu verdanken habe, daß ich aus der Deutschen „demokratischen" Republik in die Bundesrepublik „emigriert" wurde, bestanden darin, daß ich im Kreise meiner Mitarbeiter und in Gegenwart der Denunziantin bestimmte, mit konkreten Beispielen benannte Praktiken des „Vierten Reiches" mit der Begründung kritisierte, sie unterschieden sich von ähnlichen des "Dritten Reiches" nur durch die ideologische Etikettierung! Seitdem weiß ich, wie der Begriff „antidemokratisch" definiert werden kann!
Zwei anderen ehemaligen S c h rö d e rschen Mitarbeitern sind wir in Leipzig menschlich nähergekommen: Frau Dr. Wendlandt und Dr. Polte. Beide sind 1944 gemeinsam aus dem Leben gegangen, weil sie nach der Einberufung Poltes zum Wehrdienst in einem praktisch bereits verlorenen, der Katastrophe entgegengehenden und weitere unzählige Opfer fordernden Kriege keinen Lebenssinn mehr sahen. In einem Abschiedsbrief hatte sie dem kommissarischen Leiter der Klinik, Professor Werner Wagner, ironisch gedankt für seine „Gerechtigkeit", die sie in den Tod getrieben habe! („Liebe ist größer als Ihre Gerechtigkeit! Poltes.") Diese „Gerechtigkeit" sei es gewesen, die ihn davon abgehalten habe, die Freistellung Dr. Poltes für den Dienst an der Klinik zu beantragen, mit der Begründung, sie würde eine Ungerechtigkeit gegenüber den Vielen bedeuten, bei denen ebenfalls keine Ausnahme von der Einberufung zum Wehrdienst gemacht werden kann! Das Begräbnis der beiden Menschen gehört zu meinen bedrückendsten Erinnerungen aus der Kriegszeit. Um die Trauerrede, die Wagner vor den Gräbern, neben ihm der bejammernswerte Vater Dr. Poltes mit einem dürftigen Blumensträußchen in der Hand, halten mußte, habe ich ihn nicht beneidet.
Eine lebenslange Freundschaft entwickelte sich mit Dr. Otto Michael Rütt , der seine fachärztliche Ausbildung als aktiver Sanitätsoffizier der Wehrmacht an der Königsberger und der Leipziger Klinik absolviert hatte. Er

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war schon frühzeitig, seit den zwanziger Jahren, ein konsequenter Gegner des „Hitlerismus", hatte dessen unheilvolle weltgeschichtliche Auswirkungen illusionslos vorausgesehen und sich in die parteipolitisch neutrale oder zumindest nicht aktive Wehrmacht zurückgezogen. Zugleich gehört er zu den scharfen Kritikern der Kirchen aus der katholischen ist er ausgetreten - und neigt zur stoisch-epikureischen Philosophie, die ihm, einem lebensfrohen Rheinländer (und Ostpreußenfreund!) auch als Richtschnur für das praktische Leben dient. Über Heideggers Denkwege haben wir in jahrelangem Briefdialog nicht zueinander finden können, was unserer Freundschaft nach dem G o e t h e - Wort: „Meinungen trennen, Gesinnungen verbinden" nichts anzuhaben vermochte.
Da die beiden Dozenten der Königsberger Klinik, v.d. H e y d t und H e m p e l , dort verblieben, holte B o s t r o e m sich die habilitierten Mitarbeiter seines Breslauer Ordinariatskollegen Johannes Lange (der "Lange-Bostroem" war damals das meist gelesene Kurzlehrbuch der Psychiatrie und Neurologie) nach Leipzig: Prof. Werner Wagner und Dr. Klaus J e n s c h . Beiden sind Antonia und ich persönlich, J e n s c h auch freundschaftlich, nahegekommen. Beide waren hoch- und vielseitig begabt, und beide sind früh gestorben: Wagner als Direktor des Münchener Max-Planck-Institutes für Psychiatrie und ideenreich-eigenwilliger Kritiker der Kretschmerschen Konstitutionstypologie (mit einer Monographie „Die Exekution des Typus") und Vordenker einer anthropologisch orientierten Psychiatrie. Er erlag, noch voller unsystematisch-zukunftsweisender wissenschaftlicher Pläne, in München in einer Apotheke einem Sekundenherztod. Klaus J e n s c h s Schicksal zeigte mir wieder einmal, wie kurzschlüssig und verfehlt es sein kann, eine Wende des Lebens, mit der bestimmte Hoffnungen nicht erfüllt werden, für ein Unglück zu halten. B o s t r o e m hatte, als er 1942 nach Straßburg berufen wurde, versucht, mich aus Rußland, wo ich als Regimentsarzt der Luftwaffe „eingesetzt" war, für die oberärztliche und Dozententätigkeit an der dortigen Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik freistellen zu lassen. Da dies trotz aller seiner Bemühungen („Ich kämpfe um Sie wie ein Löwe!") nicht gelang, mußte er statt meiner den etwas jüngeren Dozenten Dr. J e n s c h nach Straßburg mitnehmen. Antonia und ich wären sehr gerne nach der „wunderschönen Stadt" gegangen, hatten schon eine Wohnung angeschaut und waren traurig über das „Mißgeschick", das mich im harten russischen Winter festhielt. Ein leises Neid

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gefühl in mir wurde durch die Freundschaft mit Klaus, der sich fairer Weise für meine Berufung nach Straßburg eingesetzt hatte, gemildert und konnte mich später nur beschämen. Denn der „Fehlschlag" bewahrte uns vor wirklichem Ungemach: B o s t r o e m starb ganz plötzlich, Straßburg wurde von den alliierten Truppen eingenommen, die Professoren und Dozenten der „Reichsuniversität" galten allesamt als Nazis, J e n s c h wurde wie die Anderen in ein Internierungslager bei Marseille verbracht, mußte sich, aus der akademischen Laufbahn gerissen, nach dem Kriege in Bremen als Nervenarzt niederlassen und ist dort früh gestorben. Sein Tod war die traurige Konsequenz des Unvermögens, das Scheitern seiner Ambitionen zu verarbeiten. Weder seine intelligente und charmante, aus Litauen stammende Frau Cecile noch ich hatten ihm in seiner inneren Not helfen können.
Inzwischen war ich dank Wagners Initiative doch noch von der Wehrmacht freigestellt worden, konnte als Oberarzt an der Leipziger Klinik arbeiten und meine Lehrtätigkeit wieder aufnehmen. Hätten sich unsere Straßburger Wünsche erfüllt, wäre das nicht möglich gewesen. Ob das Leben es gut mit uns gemeint hat oder nicht, erkennen wir oft erst später. Stefan Zweig sagt zu den „Zufälligkeiten", die eine bestimmende Wirkung auf die Richtung seines Lebens hatten: ...Später weiß man, daß die eigentliche Bahn des Lebens von innen bestimmt war; wie kraus und sinnlos unser Weg von unseren Wünschen abzuweichen scheint, immer führt er doch schließlich zu unserem unsichtbaren Ziel."
Ich habe vorgegriffen: Inzwischen konnte ich - nach einigen anderen Veröffentlichungen - meine Habilitationsschrift ( „Klinische und experimentelle Untersuchungen über Konstitution und Krampfbereitschaft bei Epileptikern") in mühsamer Nacht- und Sonntagsarbeit abschließen. In die Prüfung zum Dr. med. habil. vor der Medizinischen Fakultät ging ich an einem heißen Julitag, ohne mir den Hitze- und Examensschweiß von der Stirn wischen zu können, da ich mein Taschentuch vergessen hatte. B o s t r o e m lieh mir schnell das seine, sauber gefaltete, und ich bestand die Prüfung mit getrockneter Stirn. Ein Jahr danach schickte er mir vor meiner Antrittsvorlesung - Habilitation und Dozentur vollzogen sich noch in zwei getrennten Verfahren - aus seinem Schwarzwälder Urlaubsort ein kleines Papiertüchlein zur Erinnerung und als Talisman für die Vorlesung. So war er! Ich besitze eine Photographie, auf der wir - Antonia, Klaus

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J e n s c h , Werner W a g n e r , Werner H a u ß (später Ordinarius der Inneren Medizin in Münster), dessen Schwester Marlis, Frau Dr. Margarete K e s s I e r und ich (in Uniform!) vor dem Portal des Leipziger Universitätsgebäudes versammelt sind, in dem ich die Antrittsvorlesung gehalten hatte. Zehn Jahre später, 1950, prangten über diesem Portal, aber unter den alten Worten „Universitas literarum Lipsiensis" je zwei riesige Transparente mit den überlebensgroßen „Ikonen" von Marx und Engels auf der einen, Lenin und Stalin auf der anderen Seite, und der Devise: „DER MARXISMUS IST ALLMÄCHTIG, WEIL ER WAHR IST!" Von diesem Aus- und Anspruch läßt sich alles ableiten und im Namen der Wahrheit als Allmacht rechtfertigen, was der real existierende Sozialismus, besonders der Leninismus-Stalinismus, an Verbrechen gegen die Menschlichkeit angerichtet hat. Inzwischen ist das schöne alte Leipziger Universitätsgebäude abgerissen und im „Namen der Wahrheit und Allmacht" durch einen grauenhaften Beton-Hoch-Klotz ersetzt worden.
Obwohl wir als Ostpreußen im Lande der Sachsen nicht recht warm werden konnten, hat uns die musische und geistige Atmosphäre Leipzigs doch viel gegeben. In Stichworten: Gewandhauskonzerte, Thomaner-Chor, Bachsche Orgelmusik in der Thomaskirche, Begegnungen mit den Philosophen Hans-Georg G a d a m e r und Theodor Litt , der mich in eine Arbeitsgemeinschaft mit den Theologen Dedo Müller und Martin D o e r n e , dem Sinologen E rk e s , dem Kunsthistoriker Hermann B e e n k e n , der unser Freund wurde, dem Dichter Georg Maurer , dem Romanisten von Jan , dem Pharmakologen Ludwig L e n d l e einführte. Geistige und religiöse -nicht eng konfessionelle -Nähe fanden wir zu Dr. Josef Becker , dem katholischen Studentenpfarrer von Leipzig, der dem G u a r d i n i kreis angehört hatte, und eine warme menschliche, wenn auch nur kurzdauernde Beziehung ergab sich mit dem Orientalisten Professor W e ! I e r und seiner Frau. Im letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahr erlebten wir musisch und literarisch genußreiche Stunden in der „Mulina" (Abkürzung von Musik, Literatur, Naturwissenschaften), einer kleinen Gruppe um Frau Ragna C a r r i e r e mit dem frühund hochbegabten Pianisten und Komponisten Alexander M e y e r v o n B r e m e n und seiner russischen Mutter (Frau C a r r i ä r e war Norwegerin, Björnstierne B j ö r n s o n ihr Vorfahr, ihr Mann Psychiater, Nachkomme Justus v o n L i e b i g s , K e k u I e von S t r a d o n i t z (des Entdeckers des Benzolringes) und des

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Malers Ludwig von Hofmann , ihr Sohn Bern später mein lieber, junger Mitarbeiter, den ich von Leipzig nach Ilten „geholt" habe). Nicht zuletzt sind es die Leipziger Buchhandlungen und Antiquariate, denen ich nachtrauere, aber noch einige bibliophile Kostbarkeiten entlocken konnte.


Krieg
 

Der von H i t I e r mit einem vorgetäuschten polnischen Überfall" auf den Rundfunksender Gleiwitz provozierte Ausbruch des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 hat uns kaum überrascht und zunächst innerlich nicht tiefer berührt. Wir, und mit uns die meisten Deutschen, ja, die Europäer, waren durch die Expansionspolitik Hitlers , dieüberstürzteAufrüstung,dieEinverleibung Österreichs in das Deutsche Reich vorbereitet auf die Möglichkeit eines Krieges, hofften aber immer noch, er könnte vermieden werden. Diese Hoffnung wurde gestärkt durch das Münchener Abkommen, mit dem H i t 1 e r , Mussolini , C h a m b e r l a i n , der englische und D a 1 a d i e r , der französische Ministerpräsident, den Frieden - einstweilen - gerettet zu haben schienen. Stefan Z w e i g schildert in der „Welt von gestern", wie begeistert die Engländer waren, als C h a m b e r I a i n von der Konferenz nach London zurückkehrte und von der Tür des Flugzeugs aus stolz und lachend jenes historische Blatt schwenkte, das „Peace for our time!" verkündete. Hitler hatte Alle getäuscht: Mit dem "Friedens"Abkommen hatte er die Tschechoslowakei preisgegeben und die „Appeasement"-, die „Try and try again" - Politik Europas endgültig scheitern lassen. Der Krieg, seit jeher sein Ziel, war da! „Der Gedanke zum Schlagen war immer in mir!", hatte er einmal gesagt. „Der ordinärste kleine Hund, dem ich je begegnet bin",sagte C h a m b e r l a i n von ihm nach seinen Gesprächen wegen der Sudetenkrise!
Für uns änderte sich vorerst nichts, bis ich 1940 zur Wehrmacht eingezogen und zur Luftwaffen-Sanitäts-Staffel Sorau in der Niederlausitz, danach im schlesischen Sagan kommandiert wurde. Im dortigen Schloß des Hauses B i r o n von Kurland, später der T a l I e y r a n d - P e r i g o r d s,  waren kriegsgefangene französische Offiziere untergebracht, mit denen ich mich so zwanglos unterhalten konnte, als ob es keinen Krieg gäbe. Wir sprachen von der Ge

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schichte des berühmten Schlosses, seiner ehemaligen Bewohnerin, der Herzogin Dorothea von D i n o , und von ihrem Onkel (und Geliebten?) Charles-Maurice Prince de T a I I e y r a n d , dem Meister der großen Diplomatie, dem geistvollen Spötter, politischen Ränkeschmied und Bischof von Autun. Von der Sprache hatte er gesagt, sie sei dazu da, die Gedanken der Menschen zu verbergen, von der Liebe: „L'Amour est une realitä dans le domaine de I' Imagination", und von den Versuchungen der Korruption: „Ich stehe für mich bis zu einer Million!" Erst auf dem Sterbebett ließ er sich ein reuiges Bekenntnis zur Heiligen Römisch-Katholischen Kirche abringen.
Das schöne Schloß von Sagan ist 1945 abgebrannt.
Von Sagan wurde ich nach Halle versetzt, um in dem dortigen Luftwaffenlazarett eine psychiatrisch-neurologische Untersuchungs- und Beratungsstelle für „abgeflogene" Flieger einzurichten. „Abgeflogen" nannte man Soldaten einer Flugzeugbesatzung, die auf die psychischen Belastungen durch das Gefahrenrisiko ihres Einsatzes mit vegetativnervösen, affektiven Störungen, oder Erschöpfungserscheinungen reagiert hatten. Daraus ergab sich ein interessantes Aufgabengebiet, bei dem ich viel gelernt habe und mich fachlich betätigen konnte. Als Hilfstherapeut wurde ein psychoanalytisch ausgebildeter Psychologe an diese Abteilung kommandiert, der sich der freudianischen Traumanalyse zu bedienen versuchte. Da die Patienten sich, sobald sie im Lazarett zur Ruhe gekommen waren, eines vorzüglichen, traumlosen Schlafes erfreuten, wußten sie dem enttäuschten Analytiker bei der Morgenvisite keine nächtlichen Traumerlebnisse anzubieten. Weil er aber auf ihre Träume für seine therapeutische Arbeit nicht verzichten zu können glaubte, wollten sie ihm behilflich sein, indem sie eine „Traumbörse" erfanden. Sie bestand darin, daß sie sich Träume ausdachten und sie gegenseitig in Zigarettenwährung verhökerten. „Hast Du nicht 'nen guten Traum für mich?' „Gute" Träume kosteten eine, weniger „gute" eine halbe Schachtel usw. Die Pseudoträume wurden am nächsten Morgen dem Freudianer serviert, und er konnte sie befriedigt für seine Analysen verwerten. Ob er später etwas von diesem heiteren Täuschungsmanöver erfahren und wie er darauf reagiert hat, weiß ich nicht.
Die Abteilungen des Luftwaffenlazaretts Halle-Dölau waren von ausgezeichneten Fachleuten besetzt, die Innere z.B. von dem Freiburger Ordinarius H e i I m e y e r und dem Hamburger N o n n e schüler Carl Mumme. Mit

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Immo von H a tt i n g b e rg , Internist, Psychiater und Psychotherapeut, Sohn des ersten Inhabers eines Lehrstuhls für Psychotherapie Ende der dreißiger Jahre in Deutschland, Hans von H a t t i n g b e r g , entwickelte sich eine enge, bis in seine letzte Lebenszeit dauernde Freundschaft, die durch seine vielseitige Begabung und seine philosophische Bildung - er stand dem H e i d e g g e r-Kreis nahe-, namentlich auch durch seine ebenso spannungsreichen wie liebenswerten menschlichen Eigenschaften unser Leben bereichert hat. Auch der aus dem Baltikum stammende Carl M u m m e wurde damals unser guter, besonders auch in der Nachkriegszeit durch seine Hilfsbereitschaft bewährter Freund.
Dies alles gehörte zu den positiven Seiten, die sich dem Kriege abgewinnen ließen. Wir versuchten überhaupt, uns durch dessen immer bedrohlicher werdende Ausweitung nicht niederdrücken zu lassen, sondern in ein galgenhumoristisches "Après nous le déluge !" zu flüchten nach dem Motto: »Genießt den Krieg, der Frieden wird fürchterlich!" Allerdings nahm dieses »Genießen" im Kasino des Luftwaffenlazaretts zuweilen alkoholfeucht-turbulente Ausmaße an, an die ich mich nicht gerne erinnere, obwohl ich an ihnen nur sporadisch beteiligt war. In angenehmerer Erinnerung geblieben sind mir Besuche des Begründers des „autogenen Trainings" Professor Johannes Heinrich S c h u I t z , und des Professors Mathias G ö r i n g , eines Onkels des „Reichsmarschalls". Onkel Görings , eines „Neuroseforschers", milde Art und sein zu der Luftwaffenuniform wenig passender weißer Vollbart versöhnten ein wenig mit der verwandtschaftlichen Nähe zu dem Hitler-Paladin und martialischen Condottiere Hermann.
In dem ruhigen, durch Tagesarbeit nicht übermäßig belasteten Klima des Lazaretts fand ich genügend Zeit, noch zwei wissenschaftliche Arbeiten zu schreiben, an Vorträgen und Diskussionen teilzunehmen und sogar hin und wieder Antonia im nahen Leipzig zu besuchen.
Aus dieser Beschaulichkeit wurden wir jäh gerissen durch die Nachricht vom Überfall H i t I e r s auf die Sowjet-Union am 21. Juni 1941. Ich wurde zur „TransportStandarte Speer " in Berlin abkommandiert und hatte die schwierige, für mich völlig fremde Aufgabe, eine tropenmedizinische Ausrüstung zusammenzustellen, die für eine Luftwaffeneinheit der Armee des Feldmarschalls R o m m e I in Nordafrika bestimmt war. Zu diesem Zweck mußte ich

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aus verschiedenen Sanitäts-Depots die geeigneten Medikamente für die Behandlung von Tropenkrankheiten heraussuchen und transportbereit machen. Das Ganze, im besonderen der Gedanke an einen truppenärztlichen Einsatz in Afrika war mir äußerst unbehaglich, und ich überlegte, wie ich diesen lästigen Auftrag Ioswerden konnte. Einen militärischen Befehl zu umgehen, war natürlich nicht möglich. Da kam mir eine tropenärztliche Untersuchung, der ich mich zu unterziehen hatte zu Hilfe: Es wurde ein kariöser Zahn festgestellt, der mich „tropendienstuntauglich" machte, weil es durch hohe Außentemperaturen zu Schwellungen und Entzündungen an der Zahnwurzel kommen könnte. Ich atmete auf, ohne zu ahnen, daß mir der hohle Zahn das Leben gerettet hatte: Erst später erfuhr ich, daß das Schiff, das mich nach Afrika bringen sollte, von einem englischen Unterseeboot torpediert und mit der gesamten Mannschaft und meiner mühsam zusammengestellten Sanitätsausrüstung untergegangen ist! Ich blieb also auf unserem Kontinent, wurde nach Rußland kommandiert und sagte mir, es sei immer noch besser, kein Meer zwischen sich und der Heimat zu wissen. Dies war nach Straßburg mein zweites „Reiter-über-den-Bodensee" - Geschick. Ein drittes fügte sich einige Zeit danach: Nach der Niederwerfung Polens sollte Krakau, die schöne alte deutsche Kolonialund polnische Krönungsstadt, ähnlich wie Straßburg Sitz einer "Reichsuniversität" werden. Ich war für das psychiatrische Ordinariat und die Leitung der dortigen Universitätsklinik vorgeschlagen worden. Der zuständige Sachbearbeiter beim Ministerium starb plötzlich. Sein Tod bewahrte mich vor den sicheren Folgen einer Berufung: Nach der Wiedereroberung Krakaus durch die Sowjet-Armee hätte mich Verschleppung in ein Straflager, wahrscheinlich mit frühem Lebensende erwartet.
Einstweilen konnte ich Krakau als Angehöriger der deutschen Besatzungsarmee noch friedlich erleben und mich an seinen Schönheiten erfreuen: An der Marienkirche, den Tuchlauben, dem Schloß und dem Dom. Von dort ging es weiter in die Ukraine: Über Lemberg und Bialacerkew nach Shitomir westlich von Kiew, wo ich zu meiner TransportEinheit stieß. Zuvor hatte mir ihr ärztlicher Gesamt-Leiter in Berlin, Dr. R a f f l e n b e u I , anvertraut, daß sein Bruder Kommandeur dieser Truppe sei, obwohl er an einer Gehirnerkrankung litt. Er bat mich, ein wachsames psychiatrisches Auge auf ihn zu werfen und ihn über etwaige Verhaltensauffälligkeiten zu unterrichten! Wahrscheinlich war es überhaupt dieser Auftrag, der zu meinem besonderen Kommando in Rußland geführt

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hatte. Ich konnte aber außer einigen unwesentlichen neurologischen Abweichungen nichts besonderes an der Persönlichkeit dieses Kommandeurs, eines durchaus sympathischen Mannes und fronterfahrenen Teilnehmers des Ersten Weltkrieges, erkennen und wunderte mich, daß er dann doch aus Gründen, die mir nicht bekannt waren, abgelöst und durch einen wesentlich jüngeren, sehr forschen und nicht weniger sympathischen Nachfolger ersetzt wurde. Mit ihm habe ich mich trotz seiner unbeirrbaren Führergläubigkeit kameradschaftlich verbunden gefühlt. Er ist 1942 bei dem zweiten Vorstoß der deutschen Truppen in Rußland gefallen.
Auf unserer Fahrt durch die Ukraine im offenen Jeep wurden wir deutschen Soldaten von der Bevölkerung mit Blumen und Transparenten begeistert begrüßt. Die Menschen glaubten in uns die Befreier vom sowjetischen Kommunismus feiern zu können. Sie wurden bald eines Schlechteren belehrt, als sie erfuhren, daß die beiden Führer der ukrainischen Autonomie-Bewegung, B a n d e ra und M e I n i k , von der SS in „Schutzhaft" genommen wurden und daß die NS-Funktionäre die Herrschaft über ihre Heimat übernahmen. Sie mußten erkennen, daß der kommunistische Teufel durch den nationalsozialistischen Beelzebub abgelöst und ihre Hoffnung auf Befreiung und Selbständigkeit durch neue Diktatur und Unterdrückung zunichte wurde. Aber vorerst erfreuten wir uns noch der Sympathien der Ukrainer, zumal wir Soldaten und nicht zivilistische Partei-Funktionäre waren. Ein ukrainischer Arzt, in dessen Haus in Kirowograd ich Quartier bezogen hatte, wurde mit Frau und Töchtern regelrecht mein Freund. Als ich weiter nach Dnjepropetrowsk ziehen mußte, konnten wir uns feuchter Abschiedsaugen nur schwer erwehren! Zuvor war ich bei einem anderen ukrainischen Arzt aufgenommen und von seiner jüdischen Frau rührend-fürsorglich verpflegt worden. „Kuschet, kuschet!" „Essen, Essen..!" forderte sie mich immer wieder auf. Ich konnte sie vor dem Zugriff durch ukrainische Milizionäre bewahren, die eines Nachts mit Maschinenpistolen bewaffnet Einlaß begehrten, aber von mir, dessen Offiziersuniform sie respektierten, abgewiesen wurden. Nachdem das Ehepaar das Haus noch rechtzeitig verlassen hatte, fand ich den Hausschlüssel und zwei Zettel mit den teils russisch, teils deutsch geschriebenen Worten vor: „Arzt Janz, guter Mann", und -in kyrillischer Schrift: „Lieber Doctor Janz! Ich lasse Ihnen den Schlüssel von der Tür auf dem Tisch. Bitte die Tür schließen, wenn Sie gehen! Ich komme später. 1.10.41. Michailowski." Er kam nicht wieder! Ich hoffe, daß es ihm gelungen ist, seine Frau und sich in Sicherheit zu bringen.
Am nächsten Tag wollten mich andere Bewohner des Ortes bei sich aufnehmen. Es hatte sich offenbar herumgesprochen, daß ich sie vor dem Abgeholtwerden schützen konnte.
Es war also die ukrainische Miliz, vor der die Leute Angst hatten, nicht die deutsche Wehrmacht. Später hörten wir, daß auch Sonderformationen der SS, die sogenannte „Grüne Polizei°, für die Verbrechen an jüdischen Menschen verantwortlich gewesen seien. Mir selbst ist nicht bekannt geworden, daß deutsche Wehrmachtangehörige im Rußlandkrieg in die Verbrechen hineingezogen worden seien. "Der deutsche Soldat ist kein Verbrecher!" Dieses Wort stand fest.
Unter der deutschen Besatzung durften die Ukrainer wieder die Kirchen besuchen, soweit diese nicht zu Heringslagern, Magazinen, Kinos oder bestenfalls Museen „zweckentfremdet" waren. Eine Ukrainerin, die bei einem Oberfeldwebel übernachtet hatte - das gab es! - sagte ihm, wenn die Sowjets wieder hierher kommen sollten, was Gott verhüten möge, würde sie mit vielen ihrer Landsleute bei uns Deutschen bleiben und mit uns zusammen fliehen oder sterben. Von den Russen hätten sie nur Arbeitslager oder den Tod zu erwarten.
Die Sympathien der Ukrainer für die Deutschen wurden zunächst noch dadurch erhöht, daß wir den Kolchosbauern für Weizen das Vierfache des Geldes gaben, das sie von den Sowjets erhalten hatten. Von dem Deputat an Weizen war ihnen nichts, an Roggen nur ein Bruchteil dessen geblieben, was ihnen zustand. Das Getreide wurde, so gut es noch ging, gedroschen. Scheunen gab es nicht, da das Korn so gestapelt wird, daß der Regen abläuft und Scheunen überflüssig sind. Deutsche Landwirte hatten als „Sonderführer" mit halbmilitärischem Status die schwierige, nahezu unerfüllbare Aufgabe, die Kolchosen zu reorganisieren. Sie waren ganz auf sich allein gestellt, zum Teil ohne Fahrzeuge, nur schwach bewaffnet und den Gefahren durch Partisanenüberfälle ausgesetzt. Ich habe sie bedauert und bewundert. Bei dem Fehlen von Menschen, Maschinen, Traktoren usw. würde es noch Jahre dauern, bis der Getreidestand der Ukraine voll ausgenutzt werden könnte. Nur die großen Sonnenblumenfelder wurden anscheinend weitgehend abgeerntet und lieferten eine wichtige Ernährungsgrundlage für die Bevölkerung.

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Interessant waren die Eindrücke, die ich von unseren Verbündeten gewinnen konnte: Die Ungarn schneidige Kerle, entschlossen, scharf an den bolschewistischen Feind heranzugehen, aber vielleicht etwas ungeduldig und ungebärdig, die Slowaken, die in der Nähe eines soeben durch Bomben zerstörten Munitionslagers lagen - ich war bei einer ihrer Batterien zu Gast - kümmerten sich vorbildlich um unsere verwundeten Soldaten, schienen aber gewisse interne Schwierigkeiten mit den Volksdeutschen zu haben. Die Italiener machten äußerlich einen vorzüglichen Eindruck, waren tadellos mit Uniform, Fahrzeugen, großer fahrbarer Röntgen-Ambulanz und sanitären Anlagen ausgestattet. Aber es blieb abzuwarten, ob ihre militärischen Leistungen später im Ernstfall ihrem hohen Ausrüstungsstand entsprechen würden. Da wir mit unserem Transport-Regiment ziemlich weit hinter der Hauptkampflinie lagen, gerieten wir in keine Kampfhandlungen hinein. Gefahren drohten uns nur von russischen Partisanen, die sich in Wäldern versteckt oder als Zivilisten getarnt hatten, und natürlich von Fliegerbomben. Ende August 1941 hätte es mich leicht „erwischen" können, als südlich von dem noch nicht eroberten Kiew ein Munitionslager in unserer unmittelbarer Nähe bombardiert wurde und unter gewaltigen Detonationen in die Luft flog. Der Einladung eines bayerischen Luftwaffenhauptmanns zu Schweineschnitzel mit Kartoffelsalat, Äpfeln und französischem Kognak war es zu verdanken, daß ich auf der Fahrt zu meinem Regiment aufgehalten wurde und erst kurz nach dem Bombardement dort eintraf. Ich brauchte nur die Verwundeten zu versorgen und überließ es meinem Regimentskommandeur, sich als alter Frontsoldat „heldenmütig" die noch stundenlang herumschwirrenden Splitter um die Ohren fliegen zu lassen. Einige Male mußte ich auch vor Fliegerbomben, die in meiner Nähe einschlugen, in Deckung gehen. Verglichen mit dem, was die Zivilbevölkerung und später auch ich in den letzten zwei Kriegsjahren mit der Bombardierung der deutschen Städte ausstehen mußten, waren dies harmlose Vorkommnisse. Es ging uns sogar in den ersten Wochen und Monaten des Rußlandfeldzuges noch ausgesprochen gut. Heiteren Sinnes erinnere ich mich einer ebenso unerwarteten wie erfreulichen Wiederbegegnung mit

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Peter Bamm


zwischen Otschakow am Schwarzen Meer und Nikolajew an der Mündung des Bug im Aufmarschgebiet vor Odessa. Das kam so: Wir gehörten zu den ersten Soldaten, die kurz nach der Einnahme der Stadt und Festung Otschakow ans Schwarze Meer gelangt sind. (in diese Festung hatte sich im russischtürkischen Krieg der Oberst Baron von M ü n c h h a u s e n auf einer Kanonenkugel hineinschießen lassen!! Bei den Proben zu dem Ufa-Film Münchhausen" in Berlin Babelsberg habe ich dem gerade auf seiner Kugel sitzenden Hauptdarsteller Hans A I b e r s erzählen können, daß ich im Jahre vorher die Festung Otschakow aufgesucht habe!) Nachdem wir uns in den Wogen des Pontos Euxeinos, des "gastfreundlichen Meeres", wie die Griechen das Schwarze Meer euphemistisch nannten, erfrischt hatten, sonnten wir uns am Strande angesichts russischer Truppen, die noch auf einer nahe gegenüberliegenden Halbinsel lagen - ein friedliches Spätsommerbild! Als wir danach ein Nachtlager suchten, wies uns der Divisionsarzt einer Heeresdivision an seinen „Quartiermeister und Kolchosverwalter", den Stabsarzt Dr. . E m m r i c h - es war Peter B a m m
Nach freudig-überraschter Begrüßung führte er uns in ein von Deutschen besiedeltes Dorf - nach den dürftigen Lehmhütten in der ukrainischen Steppe, an denen wir vorbeigefahren waren, plötzlich ein wohltuender Anblick mit festen, rotbedachten Steinhäusern, einer Windmühle, Obst- und Gemüsegärten und breiter, sauberer Dorfstraße! PB: „Sehen Sie, lieber Janz: Früher reiste ich mit Cook, jetzt reise ich mit Hitler!" Und: Der Krieg hat auch seine guten Seiten. Man braucht ihn nur zwei Jahre mitzumachen, um dann 30 Jahre lang damit ,angeben' zu können!" „Alles, was mein Kolchos hergibt, wird Ihnen aufgetischt werden!" So geschah es! Es gab Gulasch mit Curry, zum Nachtisch Krapfen, Kartoffelpuffer mit Kompott und als Krönung eine Waschschüssel mit einem Berg aus Schlagsahne, dazu Krim-Rotwein und Absinth! Es war erstaunlich, was PB aus „seinem" Kolchos herausgeholt hatte. Er berichtete anschaulich von seinen Erlebnissen im Balkan-Feldzug und seinem Besuch bei den Mönchen in den Felsenklöstern des Berges Athos. Nach dem opulenten Abendschmaus blieben wir bis in die späte Nacht hinein noch alleine beisammen und schickten einen gemeinsamen Kartengruß an Antonia. Seine Frau „Penelope" habe ich

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nicht kennengelernt. Er hat sie, für beide spät, geheiratet. Sie brachte einen Enkelsohn in die Ehe mit und er meinte, er sei auf diese Weise mühelos Großvater geworden. Nebenbei erwähnte er, er wolle später vielleicht ein Buch über seine Kriegserlebnisse schreiben. Es wurde die 1952 erschienene „Unsichtbare Flagge - Ein Bericht°, im menschlichen Gehalt eines seiner reifsten Werke und einer der wertvollsten Beiträge zur Kriegsliteratur überhaupt. Mit dem Titel war die „Flagge der Humanitas" gemeint, „die über dem kleinen Zelt unter dem ungeheuren Himmel der Ukraine wehte". In solchen Zeiten hat er als Chirurg einer pferdebespannten Sanitäts-Kompanie des Heeres fast vier Jahre lang vom Balkan bis zum Kaukasus mit seinen treuen Helfern gewirkt. Jene Flagge weht unsichtbar heute noch in seinem denkwürdigen „Bericht" und in den Worten: Ich habe diesen Bericht aufgezeichnet allen denen zum Gedächtnis, die unter der unsichtbaren Flagge ihr Leben dahingegeben haben um der Liebe zu ihrem Nächsten wollen. Ober die halbe Welt sind ihre Gräber verstreut... Der Kriegsgott entfesselt nicht nur die Dämonen. Er macht auch die Engel mobil. Die Dämonen lärmen. Die Engel verrichten still ihr Werk. Es ist keiner von uns ganz schuldig am Ausbruch der Barbarei. Es ist aber auch keiner von uns ganz unschuldig. Wir sollten nicht vergessen, daß die, welche ihr Leben für ihren Nächsten dahin gegeben haben, uns unsere Schuld ein wenig leichter tragen lassen. Das Licht, das von ihren Gräbern leuchtet, wirft einen hellen Schein auf den Weg des Menschen in die Zukunft. Die unsichtbare Flagge, unter der sie gefallen sind, ist keine verlorene Flagge gewesen. So ist in ihrem Tod ein wenig Trost."
Ich hatte PB 1932 in Hamburg kennengelernt, als wir am Barmbeker Krankenhaus, er auf der Chirurgischen, ich auf der Inneren Abteilung, tätig waren. Er konnte herrlich erzählen und herrlich albern sein. „Die Albernheit ist ein Protest gegen die festgefügte und stumpfsinnige Ordnung der Weit, ein Aufstand der menschlichen Seele gegen das Gefängnis, das sie sich selber gebaut hat", schreibt er einmal. Und weiter: „Die Albernheit ist eine männliche Tugend, die Geist voraussetzt, um ihn aufgeben zu können. Voltaires Albernheiten sind großartiger als die seines Dieners... Nichts sollten die Frauen so sehr ernst nehmen wie unsere Albernheiten. Und über nichts sollten sie trauriger sein, als wenn wir nicht albern genug sind..." Dem Lob der Albernheit hat PB einen eige

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nen, köstlichen Abschnitt in „Der Hahnenschwanz" gewidmet, den Antonia mir zu Ostern 1940 geschenkt hatte.
Vom Ärztekasino des Barmbeker Krankenhauses, in dem wir nach getaner Arbeit höchst beschwingte Stunden miteinander verbracht haben, sagt PB in seiner Autobiographie „Eines Menschen Zeit", es habe dort „eine durchaus noch liberale Atmosphäre geherrscht". Freilich erinnere er sich, „daß dann, einer nach dem anderen der Kollegen, ganz gelegentlich und dann immer ein wenig verlegen, im Kasino in brauner oder schwarzer Uniform erschien". Aber Hamburg sei, und das kann ich bestätigen, der Gleichschaltung in all den Jahren immer erst mit der äußerst möglichen Verzögerung gefolgt". Der „Simplificateur der Rednertribüne" habe dort einmal gesprochen. "Hanseaten haben keinen Sinn für Hysterie. Er hatte keinen Erfolg. Er ist nicht wiedergekommen."
Einen Tag vor meiner Hochzeit erhielt ich PB's erstes Buch „Die kleine Weltlaterne" mit Zeichnungen seines Freundes Olaf G u I b ra n s s o n und kurzer Widmung: »Seinem lieben Janz. Peter Bamm. Hamburg 5.9.35." Nach unserem ukrainischen Intermezzo habe ich ihn erst wieder und zum letzten Mal 1947 in Tübingen wiedergesehen, wo er in einer "Dachstube mit Blick auf einen großen schwäbischen Garten mit vielen Apfelbäumen ein leeres Blatt vor sich hinlegte und nachzudenken begann." Dieses Blatt war der Anfang des Manuskriptes seiner nachdenklich-heiteren Essays zur Krisis in der Medizin, die er unter dem Titel „Ex ovo" veröffentlicht hat. Ein Exemplar ließ er mir durch den Hamburger Robert Mölich Verlag zusenden. „Als der Mensch die Obhut des Glaubens verlassen und sich unter die Obhut der Wissenschaft begeben hatte, war Therapie mit der gleichen Notwendigkeit ein moralisches Problem geworden, wie Moral aufgehört hatte, ein therapeutisches Problem zu sein." Um diesen Satz kreist sein kritisches Fragen und Denken. Unser Freund Dr. Phil. Hartmut Z e I i n s k y hat Antonia und mir zur Goldenen Hochzeit 1985 ein Exemplar des Buches geschenkt, dessen erstes mir abhanden gekommen war. Es trägt das gleiche Monatsdatum wie die „Kleine Weltlaterne": 5.9.
Paul F e c h t e r hatte die feuilletonistische Begabung PB's frühzeitig erkannt, gefördert und sein Pseudonym erfunden, für das die Tänzerin „ B a m b u I a ", die spätere Frau des Kunsthistorikers und Sammlers Hildebrandt G u r I i t t , Patin gestanden hatte. „ B a m b u I a " gehörte mit Yvonne G e o r g i und Grit P a I u c c a zu den begabten Schülerinnen der großen Mary

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W i g m a n und war, wie ihr Mann, befreundet mit unserem Freunde, dem Kunsthistoriker Dr. phil. Erich K r aus e aus Skaisgirren.
In den „Goldenen zwanziger Jahren" verdiente PB sein Geld mit entzückenden kleinen Feuilletons in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung" und in der „Deutschen Zukunft". Den besonders fruchtbaren Jahren nach dem Zweiten Weltkriege verdanken wir seine in hohen Auflageziffern erschienenen Bücher: „Frühe Stätten der Christenheit", „Alexander oder die Verwandlung der Welt", „Alexander der Große - Ein königliches Leben", „Anarchie mit Liebe", die Essaybände „Adam und der Affe", „Am Rande der Schöpfung", „Der Hahnenschwanz", „Der i-Punkt - Der Kleinen Weltlaterne zweiter Schein". Was soll man mehr bewundern und lieben an seinem schriftstellerischen Werk? Die Meisterschaft der kleinen Form, die feine, nie verletzende, nie überheblich oder belehrend wirkende Ironie, die elegante Leichtigkeit des Stils, die im Deutschen so häufig vermißt wird und hier zu Recht „Esprit" genannt werden darf, weil sie es vermeidet, Geist schwerfällig auszudrücken, die überraschenden, gleichsam spielerischen Gedankensprünge, -spritzer und -splitter, die immer neue Fülle der Einfälle, den blitzenden Witz und die fragende Nachdenklichkeit, die munter verpackten kleinen und größeren Lebensweisheiten, die brillanten Apergus und köstlichen Bonmots („Der Bauch ist der Stoßdämpfer des Daseins!"), die Gabe, kühne Bögen vom alltäglich-Banalen, scheinbar Nebensächlichen zum Metaphysischen, „vom Hosenknopf zum Universum" zu schwingen, in kleinen Zeitungsnotizen große Einsichten zu suchen und zu finden, die Wärme des Menschlichen in die Kühle des Verstandes zu hüllen, die logische Schärfe und Klarheit wissenschaftlicher, philosophischer, sogar theologischer Gedankenführung, die durch kritische Vernunft gezügelte Begeisterungsfähigkeit, die bildungs- und abenteuerhungrige Neugier seines Weltenbummlertums, die Freude am Anekdotischen, die Höflichkeit des Herzens und den ritterlichen Charme in seiner Haltung zur Frau, die erstaunliche Belesenheit, die Vielfalt und Gründlichkeit seiner Bildung auf historischem, kulturgeschichtlichem, naturwissenschaftlichem Gebiet, nicht zuletzt den Ernst seines Glaubens an das Göttliche in der Welt hinter der Heiterkeit seiner Lebenskunst? - Alles in allem: PB war und bleibt ein Solitär in der deutschsprachigen Literatur. Friedrich L u f t , der große, ihm geistesverwandte Berliner Theaterkritiker, hat von ihm gesagt: ,...Ein graziöser Geist, der mit seiner kleinen Weltlaterne herumleuchtete, um überall das Menschliche zu su

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chen..." Und: „...Er ist ein Herr, und das ist schon selten. Und er ist ein Mann mit der raren Gabe des Humors. PB ist ein Labsal. In Abständen muß man mit einer gewissen Zärtlichkeit und Bewunderung an ihn denken."
Und das tue ich heute noch. „Übrigens" wurde ihm als einem der Ersten die höchste Auszeichnung der deutschen Ärzteschaft, die Paracelsus-Medaille, verliehen.
Nach dem Kriege, als ich nahe daran war, die „Schlangengrube", die ich in Ilten vorgefunden hatte, resignierend zu verlassen, fragte ich ihn, den Weitgereisten und Orientkundigen, an, was er dazu meine, wenn ich ein psychiatrisches Ordinariat an der Universität in Karachi , das gerade ausgeschrieben war, annehmen würde. Seine Antwort, abratend wegen des Klimas und der isolierten Position der europäischen Frau inmitten der Einheimischen, gab den Ausschlag für mein Verbleiben bei der einmal übernommenen Aufgabe.
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Ukrainischen Winter:


Es hieß zwar, wir würden noch vor Einbruch der Regen- und Schneezeit abgelöst werden und in die Heimat zurückkehren können, da die Fahrzeuge dann nicht mehr einsatzfähig sein würden. Aber es kam anders: Nachdem unser Transport-Regiment dem Vorstoß der deutschen Armee unter Feldmarschall von K I e i s t im Südabschnitt gefolgt und ich zwischen meinen weit verstreuten Sanitäts-Einheiten vom Dnjepr und Bug bis an das Schwarze und Asowsche Meer hin- und hergependelt war, kam der Vormarsch zum Stehen - der Winter brach ein, früher und schlimmer, als wir erwartet hatten. Wir saßen in Djnepropetrowsk fest. Die Temperaturen sanken auf Minus 20, dann bis auf Minus 36 Grad, mehrere Meter hohe Schneeverwehungen machten die Wege unpassierbar, verhinderten Start und Landung der Flugzeuge. Schaufeln war zwecklos, da der Sturm die Flugplätze und Straßen sofort wieder zuwehte. Wenn ein Flugzeug doch noch starten konnte, bestand Vereisungsgefahr an den Tragflächen mit dem Risiko des Absturzes, dem ich ein paar Mal gerade noch entgangen bin. In den Fahrzeugen froren die Brennstoffleitungen ein. Das Brennmaterial in den Unterkünften wurde knapp, die Kälte drang durch die nicht völlig verschließbaren Fensteröffnungen ein. "Es ist wieder recht schattig hier!", pflegte

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unser Kommandeur zu sagen. Während man sich an die Außenkälte allmählich gewöhnte und gegen sie noch einigermaßen schützen konnte, waren die Untertemperaturen in den Quartieren wesentlich unangenehmer. Eines Tages entzündeten wir aus Stühlen, die wir mit einem Kosakensäbel zerhackt hatten, ein offenes Feuer, das uns wenigstens vorübergehend wärmte. Im Scheine der hohen Flamme deklamierte ich den Chorgesang an die Sonne aus der „Antigone" des Sophokles, und mit der Holzkohle, die aus dem Feuer zurückgeblieben war, heizten wir meinen Samowar an, der uns einen wärmenden Wodka-Grog spendierte. Zeitweilig gab es kein Wasser, weil die Leitungen eingefroren waren. Aber es gab genug Schnee zum Abkochen. Truppenärztlich hatte ich jetzt täglich Erfrierungen ersten und zweiten Grades zu behandeln. Zu schaffen machte uns Läusebefall wegen der Gefahr der Fleckfieberübertragung durch die Läuse. Einmal war auch mir eine Laus - nicht über die Leber, sondern - über den Mantel gelaufen. Als es wieder Wasser gab, habe ich außer für Läusepulver, so gut wie möglich für Baden und Waschen der Männer gesorgt.
Inzwischen rückten die Russen mit Panzern und Kavallerie (!) immer näher. In aller Eile mußten Vorbereitungen für unsere Verteidigung getroffen werden. Wir wurden als „nicht-kämpfende Truppe" mit Waffen versorgt und mußten eine Ernstfall-Übung absolvieren. Insoweit traf nun auch auf uns zu, daß der Rektor der Leipziger Universität, der Romanist B e r v e , mir im Januar 1942 ein Büchlein ( K I e i s t : „Die Verlobung auf St. Domingo" und „Das Erdbeben in Chili") mit einem persönlichen Weihnachtsgruß und dem Wortlaut schickte: „Die Universität Leipzig gedenkt auch in diesem Jahr voll Stolz ihrer unter den Waffen stehenden Angehörigen und sendet ihnen in herzlicher Verbundenheit dieses Büchlein als Weihnachtsgruß. Der Rektor B e r v e ." Zum Stolz auf uns war wenig Anlaß. Denn wir rechneten mit einem Vorstoß der Russen aus dem Raum C h a r k o w , vielleicht auch vom Südosten über das zugefrorene Asowsche Meer. Wir hätten dem fast nichts entgegenzusetzen gehabt. Aber die sowjetische Armee war damals selbst noch zu schwach, um bis zum Dnjepr vordringen zu können. Trotzdem sank unsere Stimmung bedenklich, zumal Hitler im Dezember 1941 den USA den Krieg erklärt hatte und ein Ende nicht abzusehen war. Ein Hauptmann und ein Major der Luftwaffe, die mir näher standen und offen sprechen konnten, äußerten sich derart kritisch zu H i t I e rs strategischen Plänen und zu der Gesamtperspektive des Rußlandkrieges, daß

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es schwer war, nicht pessimistisch zu sein. Es trug auch nicht gerade zur Aufhellung der Stimmung bei, wenn ein Panzerleutnant und ein anderer Panzermann mir erzählte, die Russen hätten unsere Soldaten aus ihren Panzern herausgeholt, nackt ausgezogen, an Bäume gebunden und mit Wasser übergossen, bis sie in der mörderischen Kälte erfroren. Das waren unkontrollierbare Gerüchte, denn wer will diese zu Eissäulen erstarrten deutschen Soldaten gesehen haben? Aber es änderte nichts an der Tatsache, daß die Absicht des „Gröfaz", des „größten Feldherrn aller Zeiten", wie man ihn damals schon zu nennen wagte, noch vor Einbruch des Winters bis zum Kaspischen Meer vorgestoßen zu sein und die dortigen Ölquellen zu besetzen, gescheitert war. Da wirkte es auch wenig beruhigend, daß es hieß, wir produzierten monatlich 1200 bis 1400 neue Panzer, die Russen nur etwa 300. Jedenfalls waren wir völlig unvorbereitet in diesen besonders strengen Winter hineingeführt worden. Es fehlte an allem, namentlich an warmer Bekleidung, an Pelzstiefeln, an Brennmaterial, Stroh, aber auch an Medikamenten, Verbandsstoffen usw. Es war wie ein Hohn, als wir erfuhren, daß G o e b b e I s einen Aufruf erlassen habe, Skier zu sammeln und an die Front zu schicken!
Zu den rationalen Argumenten einer skeptisch-pessimistischen Beurteilung der Gesamtlage kamen nicht minder gewichtige emotionale Beweggründe: Das beängstigende Gefühl, die Hiltlersche Hybris dieses Eroberungskrieges könne nicht gut ausgehen, sie werde sich rächen. Ich gestehe auch, daß ich ganz einfach Angst hatte! Angst befiel mich zum Beispiel schon im Herbst bei einer Nachtfahrt mit meinem Mercedes-„Sanka" (Sanitäts-Kraftwagen), den ich selbst steuerte, neben mir mein Sanitätssoldat E g g e r ein netter, stämmiger Tiroler, mit der Maschinenpistole im Anschlag. Wir kamen an einem nahen Waldstück vorbei, in dem zuerst ein, dann, an anderer Stelle ein zweites Licht aufleuchtete. Das konnten nur Partisanen sein, die sich versteckt hatten und gegenseitig Zeichen gaben. Ich sah, wie der brave E g g e r zitterte. Ich gab Gas. Es passierte nichts. Aber wir wußten, daß die Partisanen keine Rücksicht auf Fahrzeuge nahmen, die durch das Rote Kreuz gekennzeichnet waren. Die Genfer Konvention galt für Rußland nicht! Eine solche Situation war unerheblich im Vergleich etwa mit den hunderten unmittelbar lebensbedrohenden Gefahren, wie Peter B a m m sie erlebt hat und in der „Unsichtbaren Flagge" schildert. Aber eines Nachts träumte ich, Leipzig wimmelte voller russischer Soldaten, die

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die Stadt erobert hatten. So irrational dieser Traum mir auch erschien - daß er sich später verwirklichen würde, konnte man damals nicht voraussehen - : Er wollte mich nicht mehr Ioslassen und steigerte meine innere Angst, die ich nach außen natürlich nicht zeigen durfte. Deprimiert wirkte auf uns deutsche Soldaten alleine schon die baumlose Eintönigkeit und Weite der südukrainischen Ebene (das erwähnte Waldstück lag weiter nördlich). Der Deutsche braucht Baum und Wald für sein Gemüt.
Ich reagierte auf die Sorge, hier nicht mehr herauszukommen, mit Schlafstörungen und depressiv gefärbten Anwandlungen. In meinen fast täglichen Briefen an Antonia - sie sind zum größten Teil erhalten geblieben! - wiederholen sich immer wieder Überlegungen, wie und wann die in Aussicht gestellte Rückkommandierung nach Deutschland zu ermöglichen sein könnte. Es sind Briefe, in denen sich Liebe, Trennungsnot und Sehnsucht zu starken, mir heute etwas übersteigert erscheinenden Gefühlsäußerungen anstauten. Sie erleichterten mein Aussprachebedürfnis und entlasteten mich jeweils von dem Druck der Besorgnisse und Befürchtungen, die ich sonst niemandem anvertrauen konnte. Durch die innere Isolierung, die sich aus meiner Abgeschlossenheit vom vertrauten Zuhause und durch die Kargheit menschlicher Beziehungen in meiner Umgebung ergab, entstand bei mir eine zunehmende seelische Empfindsamkeit, die sich bisweilen in nur mühsam beherrschter Gereiztheit äußerte. So schrieen mein Regimentskommandeur und ich sich einmal ohne vernünftigen Anlaß an, eine Ungehörigkeit allerdings, die mit Lachen und Händedruck abgetan wurde. Es war quälend, auf eine Antwort Antonias warten zu müssen, weil die Kurierpost, wenn sie nicht überhaupt verloren ging, bis zu vier Wochen brauchte. Besonders schwer wurde die seelische Belastung um die Weihnachtszeit 1941, weil die ursprüngliche Hoffnung, bis dahin beurlaubt oder zurückberufen zu sein, zunichte wurde. Ich machte mir Sorgen, weil ich nicht wußte, wie es um Antonias damals sehr labile Gesundheit stand, die durch eine frühere Lungentuberkulose gefährdet war. Sie pendelte, um der Einberufung zur Fabrikarbeit zu entgehen, zwischen Skaisgirren, Leipzig und Neunkirchen hin und her. Ich versuchte, meine unruhigen Gefühle durch Selbstbeherrschung zu dämpfen, die Ungeduld des Wartens durch Ablenkung zu zügeln und einen Ausgleich in geistiger Beschäftigung zu finden: In H ö I d e r I i n s Dichtungen, M i c h e l a n g e I o s Sonetten, in einem „Trost - bei Goethe "-Büchlein,

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einem R e m b r a n d t - und einem M a e t e r I i n c k - Buch, in dem Entwurf eines kleinen Aufsatzes über die Möglichkeiten einer Abgrenzung gefühls- und verstandesbedingter Motivationen des Handelns. Kleine Wohltaten bedeuteten mir G o e t h e s Bild vom bejahenden Sinn des Abweichens unseres Lebens von einer geraden Ziellinie: „Wenn der Strom unser Boot auch manchmal abtreibt, so bringt der Fährmann es doch an das andere Ufer" und H ö I d e r I i n s Gedicht: „... Und wüßten sie noch in kommenden Jahren Von uns Beiden, wenn einst wieder der Genius gilt, sprächen sie: Es schufen sich einst die Einsamen liebend, Nur von Göttern gekannt, ihre geheimere Welt. Denn die Sterbliches nur besorgt, hinab in den Orkus Sank die Menge. Doch sie fanden zu Göttern die Bahn, Sie, die inniger Liebe treu und göttlichem Geiste, Hoffend und duldend und still über das Schicksal gesiegt." Auch M i c h e I a n g e I o s Sonett "Von der Eigensucht" half mir: „Von Eigensucht und Wahn, von allem Bösen Befreit uns Gott mit harten Schicksalsschlägen, Denn nur auf solchen bittern Schmerzenswegen kann den Erwählten von der Welt erlösen." Ich dachte dabei an die Soldaten, denen es weit schlechter erging als mir, an die Unzähligen, denen es nicht vergönnt war, die Heimat und ihre Lieben wiederzusehen, und an die, die um sie trauerten. Ich schämte mich meiner Weichheit und Mutlosigkeit und versuchte, mich von dem Egoismus, der dahinter stand, zu lösen. Auf der anderen Seite lernte ich auch, mich von einer allzu idealisierenden Einstellung zum Leben und zum Verhalten der Mitmenschen zu befreien und zu realistischerem und nüchternem Urteil zu gelangen. Wichtig war, daß ich meinen früheren zivilistischen Respekt vor Generälen und anderen „hohen Tieren" im praktischen Umgang mit ihnen verlor und sie als ganz alltägliche Menschen erlebte, deren geistige Unbedarftheit durch Uniform, Ränge und Kommandogewalt überdeckt wurde - natürlich unter Vermeidung von Verallgemeinerungen und eigener Überheblichkeit!
So gesehen, brachte mir der russische Winter einen heilsamen Gewinn: Er zwang mich zu intensiverer Selbstbesinnung und Selbsterziehung. Nach und nach erhob ich mich aus den Tiefen der Trübsal und gewann mein inneres Gleichgewicht wieder. Um der Gefahr der Langeweile und des Stumpfsinns zu entgehen, bedienten wir uns auch gerne der von Peter B a m m mit Recht gepriesenen männlichen Albernheit: Ich verfertigte z.B. eine Gratulationsadresse zur glücklichen Geburt eines gesunden kräftigen Bandwurms, den ein öster

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reichischer Leutnant ohne ärztliche Hilfe, ohne Kaiserschnitt oder Zange zur Welt gebracht hatte. Als der sonst meist ernste und wortkarge Albert S p e e r bei uns war und ich seine angefrorenen Wangen bepflastert hatte, meinte er, ich sollte auch die Wangen seines rheinisch-munteren Mitarbeiters Professor L i e b e r m a n n mit einem symmetrischen Doppelpflaster versehen, damit man nicht alleine über ihn lache, wenn er ins Führerhauptquartier zurückkäme. So saßen die beiden bepflasterten Baumeister nebeneinander und schlürften mit mir zwei Schnäpse zur Vorbeugung gegen weitere Erfrierungen. S p e e r schlug vor, die Erfrierungsstellen durch langfristige Anwendung von Wodka im Mundinneren, besonders an der Innenseite der verkühlten Wangen, zu behandeln, was mich anregte, dieses Verfahren zugleich als Test für die menschliche Willenskraft zu verwenden: Aus der Relation der Alkoholprozente zur der Zeit, die eine Versuchsperson aufbringt, ohne den Wodka hinunterzuschlucken, ließe sich ein „Willensquotient" errechnen, dem als Einheit die Formel „Ein Brug" zugrundezulegen sei. Speer hatte nämlich seinen anderen Mitarbeiter Professor B r u g m a n n - zum Scherz meiner psychiatrischen Observanz anvertraut, weil dieser im Verlaufe des ukrainischen Winters ziemlich apathisch geworden war, aber einer Albernheitstherapie noch zugänglich erschien. Wir haben- dann auch über solche albernen Späßchen gemeinsam gelacht, die uns heute kaum noch ein müdes Lächeln entlocken können. In seinen „Erinnerungen" erwähnt Speer , daß sein „loyaler Mitarbeiter" Walter B r u g m a n n , „ein Beamter alter Schule", der H i t I e r durch die Nürnberger und Berliner Bauten nahegekommen war, im Mai 1944 „wie mein Vorgänger T o d t , durch einen ungeklärten Flugzeugunfall ums Leben gekommen ist".
Unser Regimentskommandeur liebte es, die Vokabel „unwirsch" in ihr scheinbares Gegenteil „wirsch" zu verkehren (das nach Friedrich Kluges „Etymologischem Wörterbuch der deutschen Sprache" im Sinne von „rappelig", nichts mit „unwirsch" zu tun hat!) und nach unserer jeweiligen Stimmungslage zwischen „halb-, „viertel"- oder - was seltener vorkam - „vollwirsch" zu unterscheiden. Trotz mehr oder weniger gelungener Ablenkungs- und sonstiger Entlastungsversuche kam es hin und wieder zu Durchbrüchen angestauter Unmuts- oder Langeweilegefühle: Eines Abends wurde ich zu Hilfe gerufen, weil ein Offizier unserer Transport-Standarte inmitten einer Wohnstube mit ukrainischen Frauen und Kindern in trunkenem Zustande mit seiner Pistole wild gegen die

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Decke schoß. Es gelang mir, ihn, bevor er größeres Unheil anrichtete, zu beruhigen und in sein Bett zu befördern, so daß die weinenden Frauen und Kinder von ihrer Todesangst befreit werden konnten.
In einem meiner Winterbriefe an Antonia schrieb ich: „Ich hungere nach Musik !" Da in den „Soldatensendern" des Rundfunks außer Soldatenliedern und der unvermeidlichen, Abend für Abend „an der Kaserne vor dem großen Tor' stehenden „Lili Marlen" nichts musikalisch Tieferes angeboten wurde, versuchte ich wenigstens etwas "Do it your seif' zu betreiben, indem ich, vor meinen Leuten, auf einem Stuhl oder Tisch stehend, die „schöne Minka" sang oder sogar hin und wieder auf einem zufällig entdeckten alten Klavier, an dem sich auch Noten fanden, den Soldaten ein paar Schubert-Stücke vorspielte. Im Hause meines ukrainischen Kollegen Dr. S. in Kirowograd hatte ich dessen sangesfreudige Tochter zu „Leise flehen meine Lieder" auf dem Pianoforte begleiten können.
Es muß mir dann aber doch nicht ganz gelungen sein, meine trübe Stimmung zu verbergen. Denn eines Tages sagte Walja, unser Reinmachemädchen, nachdenklich Antonias Bild betrachtend: „Pan Doktor! Panienka platjet, Doktor platjet, woina nix gut!" (,Frau Doktor weint, Doktor weint, Krieg nicht gut!") Sie hatte dabei selbst Tränen in den Augen! Walja schien ein bißchen in unseren gut aussehenden Regimentskommandeur verliebt zu sein. Jeden Morgen assistierte sie ihm bei der Rasur, indem sie ihm den Spiegel vor - und die Rasierseife bereit hielt. Er ist 1942 bei der neuen Offensive gefallen.
Eine kleine Oase war mein Quartierraum, den ich mir mit Bildern, Ikonen und Samowar als „ukrainische Bauernstube" ganz gemütlich eingerichtet hatte. Nützlich waren nicht nur für meine Soldaten, sondern auch für mich selbst, meine ärztlichen Aufgaben und Tätigkeiten: Sie bestanden in der Behandlung der zahlreichen Erfrierungen, in der truppenärztlichen Versorgung von zeitweilig sechs Luftwaffen- und TransportEinheiten, in Impfungen - einmal hatte ich 120 Mann gegen Cholera zu impfen - in Vorträgen über Hygiene und Krankheitsvorbeugung, aber auch in Untersuchungen russischer Küchenfrauen auf Ruhr, Typhus und Lues und in allgemeinärztlichen Sonderaufgaben aller Art. So wurde ich einmal zu einer 18-jährigen Russin gerufen, die ihr erstes Kind erwartete und seit mehreren Tagen Wehen hatte. Meine geburtshelferische Tätigkeit beschränkte sich auf eine beruhigendes „Choroscho!", und nach kurzem war auch

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alles „Choroscho" in der Form eines gesunden Knäbleins. Ein anderes Mal mußte ich Speers Flugzeugführer einen Splitter aus dem Auge entfernen usw. Es schadet dem Facharzt natürlich überhaupt nichts, wenn er auch Gelegenheit hat, sich allgemeinärztlich zu betätigen. Aber auf längere Dauer fühlte ich mich als Psychiater und Neurologe hier doch fehl am Platze, und mir tat die Zeit leid, die mich von klinischer und wissenschaftlicher Arbeit fernhielt. Auch dies war ein Grund, meine Versetzung aus dem Kommando zur „Transportstandarte Speer" in ein Luftwaffenlazarett mit fachlicher Verwendung zu beantragen. Aber B o s t r o e m schrieb mir am 20. Januar 1942: n... Lassen Sie sich die Nutzlosigkeit Ihrer Tätigkeit nicht zu Herzen gehen! Es ist nur die Zeit verloren, die man selbst verloren gibt!. Und ich selbst habe aus meiner immerhin 3 '/2jährigen Tätigkeit im vorigen Kriege doch so viel allgemein menschliche Erfahrungen auch für mein Fach gesammelt, daß ich jetzt nachträglich diese Zeit nicht missen möchte . ...Für Sie ist die Lage gewiß in Bezug auf Arbeitenschreiben ungünstig, aber Sie haben wenigstens die Dozentur und versäumen äußerlich nicht so sehr viel . ...Zum mindesten ist es aber für Ihre Zukunft gut, daß Sie einmal eine Zeit lang an der Front waren. Ich hoffe aber trotzdem, daß es bald gelingen wird, Sie wieder zurückzubekommen . ..." Und in einem anderen Brief das - schon zitierte - „...Ich kämpfe um Sie wie ein Löwe!"
Um die gleiche Zeit schrieb ich an Antonia: „...Man wird stiller, wenn man innerlich vereinsamt ist, und ich glaube, daß das ein Gewinn sein kann. Vielleicht ist es für meine innere Entwicklung notwendig gewesen, daß ich einen Winterkrieg in Rußland erlebe..."


Geschichtliches zur Ukraine


Bevor ich mich von der Ukraine verabschiede, will ich einen möglichst knappen Rückblick auf ihre Geschichte werfen. Dieses Land und seine Bewohner sind heute 1992 - nach dem Zerfall der Sowjet-Union in der streitbaren Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Rußland in das so aktuell und zukunftsträchtig gewordene gesamteuropäische Blickfeld gerückt. Der Russe J e l z i n und der Ukrainer K r a w t s c h u k haben im Gerangel um die Schwarzmeer-Flotte gerade erst einen mühsamen Kompromiß zustandege

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bracht. Hinter diesen Rivalitäten steht der jahrhundertealte Streit um die Frage: Haben Russen das Reich gegründet oder Ukrainer? Die Antwort lautet: Keiner von beiden, sondern die Wikinger!
Kiew, für die Russen die Urmutter aller russischen Städte, für die Ukrainer die Wiege ihrer Nation, ist aus dem normannischen Könugard entstanden. Der gemeinsame „Landesvater" J e l z i n s und K r a w t s c h u k s war der schwedische Warägerfürst H r o e r e k r (Roderieh), der sich R u n i nannte. Die Männer aus dem Norden gründeten eine erste Siedlung Aldeigjuborg borg am Ladogasee und erkundeten den Seeweg über den Dnjepr zum Schwarzen Meer und Konstantinopel, das ihnen tributpflichtig wurde. Der Warägerfürst Oleg, der ursprünglich Helgi hieß, und andere nordische Fürsten machten sich die ostslawischen Stämme gefügig und trieben schwunghaften Handel (Pelze, Bienenwachs, Sklaven) mit Konstantinopel. Könugard - Kiew wurde ihr bedeutendster Stützpunkt, und es entstand der erste ostslawische Staat, der „ K i e w e r R u s „ , e i n R eich, das zunächst weder russisch noch ukrainisch war.
Der Name „ R u s " ist dunkler Herkunft, vielleicht abgeleitet von „ R o sI a g e n ", einem schwedischen Küstengebiet nördlich von Stockholm, dessen Bewohner heute noch „Ruspiggar" („ R u s s p i g a r " gesprochen) heißen. Im Finnischen gibt es für Schweden das Wort „Ruotsi". So nannten die Finnen die Waräger am Ladogasee. Männer einer Delegation des byzantinischen Kaisers Theophilos am Hofe Ludwigs des Frommen in Ingelheim 839 nannten sich „ R h o s " und sagten, sie seien Schweden! Durch Heiraten warägischer Männer mit slawischen Frauen, die Übernahme des Kirchenslavischen nach dem Beitritt zum orthodoxen Christentum im Jahre 988 und die Aufnahme von slawischen Kriegern in die eigenen Reihen ging die normannische Identität mehr und mehr in die slawische über. Russische Namen erinnern noch an ihre Wikingerherkunft: Oleg an Hel i, Olga an Helga, Igor an Ingwarr, Wladimir an Waldemar!
Der „Kiewer Rus" wurde unter dem Großfürsten J a ro s I aw (1015 1054) zu einer großen europäischen Macht. Seine Töchter wurden Königinnen von Norwegen, Ungarn und Frankreich, eine Enkelin Gemahlin Kaiser H e i n r i c h des Vierten, seine Söhne heirateten byzantinische und deutsche Prinzessinnen. J a ro s l a w , der "Der Weise" genannt wurde, war ein Vorfahr des russischen Nationalheiligen und -helden Alexander N e w s k i (1220 1263), dessen Leben in unzähligen Liedern und Erzählungen verherrlicht wor

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den ist. Über seinen in einem silbernen Sarkophag ruhenden Gebeinen errichtete Peter der Große als Krönung des prachtvollen Alexander-Newski-Prospekts in St. Petersburg das gewaltige Alexander-Newski-Kloster mit acht Kirchen und Unterkunft für tausend Geistliche. Die Zaren verliehen ihren Kriegshelden als hohe Auszeichnung den Alexander-Newski-Orden, und selbst Stalin stiftete für die Rote Armee den alten monarchistischen Orden wieder neu, um seine Soldaten im Zweiten Weltkriege zu höchster Tapferkeit anzuspornen! Alexander N e w s k i hatte frühzeitig erkannt, daß Rußland zwei Gesichter hat: Eines nach Westen, eines nach Osten gewandt. Er selbst erhielt von seinem Vater J a ro s I a w den Auftrag, die Stadt Nowgorod, eine Gründung R u r i k s , gegen die Schweden zu verteidigen. Von Nowgorod liefen Lebensadern nach Reval und Riga nach Wisby auf Gotland, namentlich nach Lübeck, Hauptstadt der Hanse, und weiter über Hamburg tief nach Deutschland und in die anderen Nordseehäfen hinein. Kiew, in dessen Schatten Nowgorod stand, war durch den Dnjepr mit Byzanz und dem Orient verbunden. „In diesen beiden russischen Städten stecken zwei grundverschiedene Wurzeln politischen Bewußtseins: Aus Kiew stammt der Hang zu byzantinischer Vergöttlichung der Herrschaft, aus Nowgorod der Anspruch der Bürger, an der Gestaltung von Staat und Gesellschaft mitzuwirken." ( S i e v e r s ) Nowgorod war von den Schweden bedroht, die der Papst Gregor der Neunte zum bewaffneten Kreuzzug, zusammen mit den Deutschen, gegen die russischen Orthodoxen aufgerufen hatte. Alexander N e w s k i besiegte die Schweden am Ufer der Newa und erhielt dafür den Ehrennamen „Newski". Den Deutschen unter dem Bischof H e r m a n n v o n D o r p a t bereitete er eine vernichtende Niederlage auf dem zugefrorenen Peipus-See. Danach besiegte er noch die Litauer, die gegen Nowgorod vorgedrungen waren. Aber später erlag er der gewaltigen Übermacht der Tataren unter dem Khan T e m u d s c h i n , genannt D s c h i n g i s Khan , am Asowschen Meer. Unter dessen Sohn Ü g e d e i und seinem Neffen B a t u eroberten die tatarischen Reiter Moskau und überschwemmten unter unsäglichen Grausamkeiten das Land, unterwarfen Wolhynien, die ganze Ukraine östlich des Dnjepr, Galizien, Ungarn und Polen bis Schlesien, wo der Herzog Heinrich von Schlesien sie in der Schlacht bei Liegnitz am 9. April 1241 vergeblich aufzuhalten versuchte. Deutschland und mit ihm das christliche Abendland verdankte seine Rettung dem unerwarteten Tode des

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Khans Ü g e d e i an dem Gift, das eine verbitterte Geliebte ihm gereicht hatte. Unter D s c h i n g i s Khan und Ü g e d e i hatten die Mongolen den größten Machtbereich übernommen, den es je auf Erden gegeben hat: Er reichte von China bis Dalmatien! Dieses Tatarenreich nannte sich "Goldene Horde", weil das Zelt ihres Khans mit Goldbordüren bestickt war. Eine „Horde" waren die Tataren als Nomaden, die aus der Steppe kamen, Dörfer, Städte und Weidegründe ausbeuteten und weiter zogen, wenn diese nicht mehr ertragreich waren. Obwohl sie Moslems waren, schützten sie das religiöse Leben der griechischorthodoxen Russen in der klugen Erkenntnis, daß die Kirche ein ideales Instrument war, Bauern und Bürger in dauerhafter Demut zu halten! A I e x a n d e r N e w s k i , der Held von der Newa, wurde K h a n B a t u s ergebenster Vasall und erhielt dafür von ihm das Land Nowgorod mit der Fürstenwürde zu Lehen! Da sein Vater ihn nicht zum Universalerben eingesetzt, sondern seinem Bruder Andrej das Fürstentum Wladimir vermacht hatte, ließ er sich zu dessen Unterwerfung von K h a n B a t u ein mongolisches Reiterheer mitgeben, mit der er die kleine Truppe seines Bruders besiegen konnte. B a t u belohnte ihn mit dem Fürstentum Wladimir. Andrej entkam nach Schweden und A I e x a n der N e w s k i , der spätere „Heilige", mußte sich damit begnügen, Andrejs Frau hinrichten zu lassen und ihre Kinder einzukerkern!
Doch zurück zur Frühgeschichte der Ukraine und Rußlands: Die Stamm-Mutter des Herrschergeschlechtes, das rund 700 Jahre lang in den Fürstentümern des späteren Rußlands regierte und aus denen auch die ersten Zaren hervorgingen, war die Tochter eines Pleskauer Warägerfürsten namens Helga, die nach ihrer Heirat mit Igor, dem jüngeren Bruder R u n i k s , als Fürstin von Kiew O I a a hieß. Sie ließ sich im Jahre 973 in Konstantinopel in Gegenwart des Kaisers Konstantin des Siebenten christlich taufen und erhielt von der Kaiserin den dritten Namen: H e I e n e . Sie rächte den Tod ihres Mannes I g o r , der Kiew erobert und seine Stammesbrüder Askold und Dir erschlagen hatte und von den Drewljanern, einem bei Kiew angesiedelten slawischen Volksstamm, wegen seiner Zins-Eintreibungen umgebracht worden war, mit arglistig vorbereiteten Grausamkeiten, die in den Chroniken detailliert geschildert werden. Dies hinderte die Kirche jedoch nicht, sie nach ihrem Tode heilig zu sprechen. Sie war eine bedeutende Herrscherin, „die erste von vielen kraftvollen russischen Frauengestalten." Ihr Enkelsohn W I a d i m i r , Großfürst von Ki

 


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ew, erklärte 988 das Christentum zur Staatsreligion und wurde, wie seine Großmutter, nach dem Tode als Heiliger verehrt. Olga dachte politisch in weiten Räumen und über die Gegenwart hinaus: Sie schickte Gesandte zum deutschen (das noch neue Wort "deutsch" bedeutete: „volkstümlich") König, späteren Kaiser Otto dem Ersten, dem Großen mit der Bitte, Missionare seines, des römisch-katholischen Glaubens in ihr Reich zu entsenden. Damit kam sie Ottos Absicht entgegen, eine deutsche Rußland-Mission aufzubauen. So wurden durch zwei starke Herrscherpersönlichkeiten erste Verbindungen zwischen zwei großen Völkern angebahnt. Aber im Wettstreit zwischen den beiden Konfessionen erwies sich die griechisch-orthodoxe unter dem Einfluß Olgas als die stärkere. Nur in Polen und Litauen hatte der Trierer Mönch Adalbert durch seine Missionstätigkeit den römisch-katholischen Glauben einführen können. Der orthodoxe Patriarch von Konstantinopel war geographisch von Kiew aus auf dem Wasserwege leichter zu erreichen als der Erzbischof von Magdeburg, zu dem der Mönch Adalbert inzwischen ernannt worden war.
Vor allem aber konnte sich die griechische Orthodoxie im ganzen Land ausbreiten, weil zwei Brüder, K y r i I l o s und M e t h o d i o s , aus der Mundart ihrer makedonischen Heimat eine Kunstsprache entwickelt und aus griechischen Buchstaben ein slawisches Alphabet geschaffen hatten. Das so entstandene „ K i r c h e n s I a w i s c h " wurde von allen Stämmen verstanden, da die einzelnen Dialekte der großen slawischen Sprachfamilie damals kaum voneinander abwichen. („Slawisch" ist - wie „Germanisch" ein Sprach-, kein Rassebegriff).
Als O ! g a im Jahre 969 starb, schrieb der Kiewer Mönch N e s t o r in seiner Chronik, dem ersten russischen Geschichtswerk: „... und es weinten um sie ihr Sohn, ihre Enkel und das ganze Volk... Sie war für das Land die Morgenröte vor dem Sonnenaufgang. Als erste Russin ist sie eingegangen in das Himmelreich, und nach ihrem Tode hat sie Fürbitte eingelegt bei Gott für alle Russen..."
Ihre Fürbitte erreichte nicht ihren Sohn S w j a t o s l a w (der erste Waräger mit einem slawischen Namen!) Er starb 3 Jahre nach ihrem Tode als Heide. Seine Gegner, die Petschenegen, töteten ihn, schnitten ihm den Kopf ab, machten einen in Silber gefaßten Becher daraus und tranken aus ihm!

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Das Reich der „ K i e w e r R u s " erlebte Anfang des zwölften Jahrhunderts unter dem Großfürsten M o n o m a c h - seine pelzbesetzte Krone, ein Geschenk des byzantinischen Kaisers, wurde von den russischen Zaren getragen noch einmal eine Glanzzeit und zerbrach dann teils durch Erbfolgestreitigkeiten, teils durch den Ansturm kriegerischer Turkstämme und schließlich der Tartaren. Großfürst Iwan der Dritte schüttelte 1480 das Tatarenjoch ab, nannte sich »Zar der ganzen Rus" - den Titel n Z a r " trug ursprünglich der byzantinische Kaiser (Caesar) und der Khan der Goldenen Horde" und nahm nach seiner Heirat mit der Nichte des letzten Kaisers von Konstantinopel den byzantinischen Doppeladler in sein Wappen auf. Sein Nachkomme Iwan („der Schreckliche"), ließ sich 1547 zum „Zaren von ganz Rußland" krönen, also zum Nachfolger der byzantinischen Kaiser. M o s k a u trat die Nachfolge Kiews als Heilige Stadt" an und erhob den Anspruch, das. n Dritte Rom " zu sein.
Der westliche Teil des ehemaligen K i e w e r R e i c h e s , die Ukraine, wurde eine Beute der Litauer und des in Personalunion vereinten Polen L i t a u e n unter dem litauischen Großfürsten Jagiello, der die Königin J a d w i g a von Polen geheiratet hatte. Auf dem Konzil von Lublin wurde 1596 eine Union der römisch-katholischen und der griechisch-orthodoxen Kirche beschlossen!
Die Leibeigenschaft der ukrainischen Bauern unter der Zwangsherrschaft des polnischen Adels entfachte eine Freiheitsbewegung: Das K o s a k e n t u m . Aus der Leibeigenschaft Entlaufene schlossen sich zu bewaffneten, militärisch organisierten Abteilungen zusammen, die sich am unteren Lauf des Dnjepr, in der Gegend um S a p o r o s h j e aufhalten und von dort aus in Tatarengebiete vordringen, türkische Städte überfallen und an der Dnjepr- und Donaumündung türkische Flotillen zerstören. „Die Saporoshjer Kosaken schreiben einen Brief an den türkischen Sultan", nannte Ilja Jefimowitsch R e p i n , der bedeutendste russische Naturalist, sein berühmtes Gemälde, das ich in der Moskauer Tretjakow-Galerie bewundert habe. In S a p o r o s h j e am Dnjepr bin ich im ukrainischen Winter 1941-42 mehrmals gewesen.
Die heldenmütige Reiterbruderschaft der Kosaken wird auch zu einer wachsenden Gefahr für den polnischen Adel, der sie zu „Feinden des Vaterlandes" erklärt. Unter ihrem H e t m a n C h m e I n y c k y j bereitet sie der polnischen Armee vernichtende Niederlagen und stößt bis Lemberg vor. Der Hetman

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C h m e I n y c k y j fordert einen unabhängigen Staat der Urkainer! Er sucht im Zaren einen Bundesgenossen gegen die Polen. Aber Moskau will die Ukraine, „Kleinrußland°, sich, dem „Großrußland", einverleiben. Die Ukraine wird zum Zankapfel zwischen Rußland und Polen! Das Land westlich des Dnjepr wird Polen, das östlich des Stromes wird Rußland zugesprochen.
Im Großen Nordischen Krieg kämpft der Kosaken-Hetman M a z e p p a mit dem schwedischen König K a r I dem Zwölften gegen Zar P e t e r den G ro ß e n - und verliert! Rußland verleibt sich die Ukraine Stück für Stück ein. Katharina die Große läßt 1775 das Zentrum der Saporoshjer Kosaken zerstören. Die Kosakentruppen werden reguläre Kavallerieregimenter, die Kosakenoffiziere russische Adlige, die ukrainischen Bauern russische Leibeigene.
Nikolai G o g o I ist zwar Ukrainer, empfindet sich aber als Russe. Der berühmte ukrainische Dichter T a r a s S c h e w t s c h e n k o kämpft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert mit seiner literarischen Schule gegen die offizielle Russifizierungspolitik und für die Eigenständigkeit der ukrainischen Sprache, die 1876 in Wort und Schrift verboten wird! Heute will Solschenizyn das Ukrainische nur als russischen Dialekt gelten lassen. Die ukrainischen Volkslieder gehören mit zu dem Schönsten, was die slawische Volkspoesie hervorgebracht hat!
In den polnischen Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts fallen die westlichen Bereiche des Landes, Galizien und Wolhynien, Österreich zu. Die Universität L e m b e r g ( L w o w ) wird zu einer Hochburg der nationalen ukrainischen Autonomiebewegung, die mit der russischen Revolution 1905 Auftrieb erhält. Die Russische Akademie der Wissenschaften erkennt die Eigenständigkeit der ukrainischen Sprache an. Nach dem Sturz des Zaren in der Februarrevolution 1917 wird in Kiew ein ukrainisches Parlament, die Zentralna Rada, gebildet, in der die Sozialdemokraten als Gegner der Bolschewiken L e n i n s die Mehrheit bilden. Sie erklärt 1918 die Trennung der Ukraine von Rußland. Aber die Westukraine bleibt bei Polen, der Ostteil wird 1921 die Räterepublik Ukraine, die dann von der UdSSR geschluckt worden ist. In dem „Zwei-Teufelspakt" 1939 überläßt H i t I e r seinem Komplizen S t a I i n auf Kosten Polens auch den westlichen Teil der Ukraine - die Vision einer souveränen Ukraine scheint gescheitert zu sein. Aber sie ist heute im Rahmen der G U S , der Gemeinschaft unabhängiger Staaten, dem Nachfolgegebilde der vergangenen Sowjet

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union, wieder aufgelebt, und es ist zu hoffen, daß beide Länder, Rußland und die Ukraine, ihre Beziehungen zueinander im Geiste der Freiheit und Gleichberechtigung und im Zeichen der alten „ K i e w e r R u s " neu ordnen können!
Diesen "knappen", aber zu ausführlich geratenen Rückblick auf die Entstehung der Ukraine und Rußlands und auf die spannungsreichen Beziehungen der beiden großen Länder zu einander, habe ich aus verschiedenen Quellen zusammengestellt, u.a. aus dem Buch von Leo S i e v e rs Deutsche und Russen- Tausend Jahre gemeinsame Geschichte°, Gruner und Jahr-Verlag Hamburg, 1. Auflage 1980 und aus einem Beitrag von Klaus P r e I I e r „Der erste Rusfürst war ein Wikinger - Die Ukraine: Ihr langer Weg in die Unabhängigkeit" in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, 14. März 1992.


Berlin 1942 - 43


Im Frühjahr 1942 wurde ich - endlich! - in das Luftwaffen-Lazarett für Hirn- und Rückenmarksverletzte in Berlin-Reinickendorf versetzt, das anstelle der früheren „Hermann-Göring-Kaserne" eingerichtet worden war und unter der fachlichen Leitung des damals führenden Hirnchirurgen Professor Wilhelm Tönnis und der Neurologen Zillig, Rüsken und Rehwald stand. Ich übernahm dort eine Abteilung mit 150 Hirn-, Rückenmarks- und Nervenverletzten und konnte meine fachlichen Kenntnisse durch ganz neue Erfahrungen in der neuro-psychiatrischen Traumatologie erweitern. Wir haben zum Beispiel gelernt, daß die seit der Entdeckung der Sprachzentren im linken Stirnund Schläfenhirn durch B r o c a und W e r n i c k e geltende strenge Lokalisationslehre einer Relativierung bedarf: Es zeigte sich nämlich, daß Ausfälle des Sprachausdrucks und Sprachverständnisses (motorische und sensorische Aphasie) durch schwere linkshirnige Verletzungen (Granatsplitter, Blutungen usw.) sich mit Hilfe von Sprechübungen weitgehend zurückbilden konnten, weil andere, unverletzt gebliebene Regionen in der rechten Hirnhemisphäre kompensatorisch für sie eingetreten waren! Motorische und sensorische Sprachleistungen erwiesen sich somit nicht als ausschließlich in der linken Stirn- und Schläfenregion des Gehirns lokalisierbar, sondern auch die rechte Hemisphäre enthält offenbar potentiell diese spezifisch menschlichen Eigenschaften, die aus

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der Latenz gehoben und aktualisiert werden können. Das hatte man bisher nicht gewußt!
Allerdings hatte schon Professor Walther P o p p e I r e u t e r , der Bonner Lehrer meines Freundes Dr. Wladimir L i n d e n b e r g , bei Hirnverletzten des Ersten Weltkrieges beobachtet, daß Patienten mit motorischen Aphasien „mehr sprechen können als sie wirklich sprechen°. Sie kommen nämlich sprachlich im freien Verkehr mit Kameraden und Angehörigen gut zurecht, während sie bei der Aphasieprüfung die allerschwersten Defekte aufweisen! Es müsse unterschieden werden zwischen dem verletzungsbedingten Sprachdefekt selbst und dem Verlust des "Sprachantriebes", einer „Sprachhemmung" als Ausdruck einer psychischen Reaktion der Persönlichkeit des Hirnverletzten auf seinen Defekt!
Das Problem der Verschränkung organpathologischer Hirnverletzungsfolgen mit ihrer seelischen Verarbeitung beschäftigte mich in Berlin und auch später so intensiv, daß ich es in einem klinisch gut fundierten, wenn auch begrifflich und erkenntniskritisch etwas überstrapazierten Beitrag zur Festschrift anläßlich des 60. Geburtstages von Ernst K re t s c h m e r (1948) untersucht habe unter dem Titel: „Zum Ursachenproblem bei traumatischen Hirnschädigungen mit psychisch-reaktiven Manifestationen". Es ging mir hierbei im besonderen um eine Differenzierung des Kausalitätsbegriffes, die nicht nur aus theoretischen, sondern auch aus praktischen Gründen wichtig, ja notwendig war, wenn bei der Begutachtung Hirnverletzter die simplifizierende Alternative „organogen" oder „psychogen" vermieden und dem Patienten, der sowohl organisch geschädigt wie auch „neurotisch" traumatisiert war, in der Frage der Wehrdienstbeschädigung kein Unrecht getan werden sollte.
In und nach dem Ersten Weltkriege hatten die sogenannten „Kriegsneurosen", die damals vorwiegend in der Form des „Zitterns" und „Schütteins" auftraten, noch als nicht entschädigungspflichtig gegolten, da sie als Ausdruck zweck- oder abwehrgerichteter Motive, bestimmter Wunschvorstellungen, namentlich auch des Rentenbegehrens gedeutet und als konstitutionell bedingt angesehen wurden. Der berühmte Hamburger Neurologe Professor Max Nonne -mein Lehrer B o s t r o e m war,
sein neurologischer Schüler, und er hat, sozusagen als mein „neurologischer Großvater" meine neue Neurologische Abteilung in Ilten, 1950, eingeweiht - behandelte die Kriegszitterer und -schüttler ebenso drastisch wie erfolgreich mit einer Art Befehlshypnose und mit

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der Anwendung faradischer Ströme. Er vertrat die Ansicht, „bei diesen Individuen" habe man es „in der allergrößten Mehrzahl mit Psychopathen zu tun"! Die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges zwangen zu einer gründlichen Revision dieser ehemals ziemlich unangefochten gebliebenen Anschauung. Die seelischen Reaktionen auf das Kriegsgeschehen und -erleben im allgemeinen und auf Hirnverletzungen im besonderen äußerten sich jetzt nicht mehr in demonstrativen Formen wie Zittern, Schütteln, Muskelzuckungen und -krämpfen, sondern in diskreten, z.B. vegetativ nervösen oder organneurotischen Symptomen, ein phänomenologischer Wandel, den ich später in einer größeren Arbeit über „Psychopathologische Reaktionen der Kriegs- und Nachkriegszeit" zu erklären versucht habe.
Wladimir Lindenberg
Zunächst war ich glücklich, dem ukrainischen Winter entronnen und als etwas stiller und vielleicht auch härter gewordener „Krieger" zu Antonia heimgekehrt zu sein. Sie empfing mich in unserer noch unversehrten Leipziger Wohnung liebevoll mit köstlichem Festessen und dem S c h u b e rt schen "Forellen-Quintett". Dem folgenden Berliner Jahr habe ich nicht nur die angedeutete Erweiterung meiner fachlichen und wissenschaftlichen Erfahrungen, sondern auch neue menschliche Begegnungen, bleibende Freundschaften und kulturelle Erlebnisse zu verdanken. Durch Frau Dr. rer.nat. Olga G u y o t , die Chefchemikerin der Hamburger „Promonta"-Werke - sie hatte Peter B a m m einmal zur Lieferung des Werbetextes für ein Haarwuchsmittel verholfen, mit der er, noch ohne ärztliche Praxis, sich wirtschaftlich ein wenig auffrischen konnte durch diese liebenswerte und kluge bajuwarische Pyknikerin Olga, die schon zu unserem Altonaer Kreis um Lichtwitz und J o r e s gehört hatte, lernte ich Dr. med. Wladimir L i n d e n b e r g kennen. Er entstammte einer uralten russischen, mit der Zarenfamilie verwandten Hocharistokraten-Generation, hieß eigentlich Wladimir Alexandrowitsch Fürst T s c h e I i s t s c h e f f und wurde nach der Scheidung der ersten Ehe seiner polnischen Mutter J a d w i g a von deren zweitem Ehemann, dem deutschen Industriellen L i n d e n b e r g adoptiert. Als 15-Jähriger in Moskau mit Hilfe eines treuen Dieners seiner Eltern knapp dem Tode durch ein bolschewistisches Erschießungskommando entgan

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gen, gelangte er 1918 nach Deutschland, wurde hier als Bolschewik verdächtigt, bewahrte aber seine russische Identität, studierte in Bonn Medizin, spezialisierte sich bei P o p p e I r e u t e r für neurologische Traumatologie, fuhr als Schiffsarzt nach Afrika und Südamerika, wurde im "Dritten Reich" wegen Zugehörigkeit zur Wandervogelbewegung in ein Konzentrationslager eingesperrt, vom sowjetischen Besatzungs-Regime 1945 noch einmal verhaftet und übernahm schließlich nach vorübergehender Tätigkeit als Referent für Körpergeschädigte bei der Deutschen Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen in der sowjetischen Besatzungszone Berlins die ärztliche Leitung der Hirnverletztenabteilung am Evangelischen Waldkrankenhaus in Berlin-Spandau. Als wir, Frau Dr. G u y o t und ich, ihm noch während des Krieges, 1942, auf der Straße begegneten, nahm er uns sogleich mit in eine kleine Gesellschaft, die sich „Arbeitskreis für moderne Musik" nannte und in der Wohnung des jungen Komponisten G e n s i c h e n zusammenkam. Zu meiner Beruhigung spielte der zarte, schmächtige G e n s i c h e n mit seinem noch asthenischeren Bruder nicht Modernes, sondern die „Ungarischen Tänze" von B r a h m s vierhändig. Konstanze E r d mann , Nichte des großen Pianisten und Komponisten Eduard Erdmann , sang Brahms -Lieder, ein entzückendes französisches Liedchen im Originaltext und ein anderes Lied, das G e n s i c h e n nach einem Text von Ricarda Huch gar nicht übel, jedenfalls nicht „atonal" vertont hatte. Lindenberg selbst las ein Kapitel über Andreas V e s a l i u s aus dem Manuskript seines später, 1948, erschienenen Buches „Tragik und Triumph großer Ärzte" vor. Der „Arbeitskreis" um ihn als dem Mittelpunkt bildete mit Malern, Dichtern, Musikern, Schriftstellern eine kleine musische und menschliche Oase in der Wüstenei des Krieges und der NS-Barbarei.
So begann eine Freundschaft mit "Wolodja", die uns, immer enger werdend bis heute ungetrübt verbunden hat. Ich habe ihm soeben, im Mai 1992, einige Zeilen zu seinem 90. Geburtstage geschrieben. Nach dem Kriege war ich mehrfach Gast in seiner Baracken-„Datscha" in Berlin-Schulzendorf-Heiligensee, die er sich nach der Ausbombung seiner Wohnung - wir hatten einen Großangriff in Reinickendorf gemeinsam erlebt und überstanden - zum Teil mit eigenen Händen erbaut und mit handgemalten Bildern, selbstgestickten Wandteppichen, mit Ikonen, einem Ewigen Lämpchen in rotem Glas, Heiligen- und Buddhaskulpturen geschmückt hat. Er heiratete spät eine englische Piani

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stin und Bildhauerin Dolly Gräfin von R o e d e r n , „Dolina", eine schöne, dunkeläugige und -haarige Frau, die mich an meine „Mamchen" erinnerte. Wolodja schrieb dann neben seiner umfangreichen und vielseitigen Arbeit in Praxis, Klinik und Vortragssälen ein Buch nach dem anderen, im ganzen etwa 30, die fast ausschließlich im Ernst-Reinhardt-Verlag München - Basel erschienen sind, unter anderen „Die Menschheit betet - Praktiken der Meditation in der Welt", „Gottes Boten unter uns", „Mysterium der Begegnung", „Marionetten in Gottes Hand - eine Kindheit im alten Rußland«, "Schicksalsgefährte sein Aufzeichnungen eines Seelenarztes", „Gespräche am Krankenbett", "Briefe an eine Krankenschwester", „Frühvollendete V i l l o n Shelley Büchner, Rimbaud , Trakl , Jessenin , Hans-Jürgen Eggert " (der Letztgenannte heiratete die liebenswerte Constanze Erdmann und wurde im April 1945 Opfer des sinnlosen Krieges!). .
Mit Sergej J e s s e n i n , dem „letzten Sänger der Dörfer", war Lindenberg , der ihn zuerst als Gast seiner Eltern erlebt hatte, befreundet. Er hat sein Leben und Schaffen mit der Wärme des Freundes und der Sachlichkeit des Chronisten in den „Frühvollendeten" nachgezeichnet. J e s s e n i n gilt mit M a j a k o w s k i , Alexander B I o k und P a s t e r n a k als der größte Dichter des damaligen Rußland. Er „hat nicht den Schwung und die rohe Kraft M a j a k o w s k i s , nicht die strahlende Intensität P a s t e r n a k s aber er erreicht die Herzen der Leser, weil er einfacher ist", hat der russische Literaturhistoriker J. N. R o s a n o w von ihm gesagt. L i n d e n b e r g erzählt die bewegende Geschichte des Bauernjungen Sergej aus Konstantinowka im Gouvernement Rjysan, dessen dichterisches, die Blumen, die Wälder, den Himmel, die Tiere, Gott und den Menschen liebendes Herz an dem „eisernen Gast" der Großstadt, der Maschinen, der Steinkolosse zerbrach, als die berühmte, von Tragödien der Liebe und Tod ihrer beiden Kinder heimgesuchte Tänzerin Isadora D u n c a n sich in ihn verliebte und das russische Wunderkind" durch Europa und Amerika schleppte.
Er entfremdet sich seinen Freunden, seiner Kunst, seiner Heimat, sucht Vergessen im Alkohol, trinkt und trinkt und trinkt, trennt sich von der alternden Diva - die später, 1927, bei einer Ausfahrt im offenen Wagen von ihrem lang wehenden Schal, der in die Speichen des Autos geriet, erdrosselt wurde - heiratet die Enkelin Leo T o I s t o i s , geht in ein Sanatorium, kehrt noch einmal in seine

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alte Heimat zurück, in der ihm alles, die vergrämte Mutter, der verbitterte Großvater, die vorlauten Schwestern, die einstigen Spielkameraden, die Erinnerungen an die Jugend fremd und unheimlich vorkommt, fährt zurück nach Moskau, „leer und ausgebrannt, ein heimatloser Wanderer", trinkt weiter, schimpft, weint, schluchzt: „Nichts ist mir geblieben! Ich fürchte mich! Keine Freunde, keine nahen Menschen mehr. Ich liebe niemanden und niemand liebt mich mehr. Es bleiben mir nur noch die Gedichte. Alles habe ich ihnen gegeben, verstehst du, alles! Alles ist nun fort, die Kirche, das Dorf, die Fernen, die Felder, der Wald ... Ich habe mein Leben für meine Dichtung verkauft!" Im Leningrader Hotel Angleterre erhängt er sich an einer Wasserröhre, nachdem er sich die Pulsadern aufgeschnitten und mit dem Blut auf ein Blatt geschrieben hatte: n... Auf Wiedersehen, mein Freund. Ohne Handdruck und Abschiedswort. Weine nicht, und mach kein trauriges Gesicht. Sterben ist nicht neu auf dieser Welt. Doch zum Leben find ich keine Kraft mehr ..." Er starb an einem Sonntag, dem 28. Dezember 1925, 30 Jahre jung. Eine unübersehbare Menschenmenge folgte dem offenen Sarg. Viele weinten. Eine Frau rief ihm nach: „Leb wohl, mein Märchen!" Heute pilgern täglich Tausende zum Denkmal, zur Kirche und zum Geburtshaus im Heimatdorf Konstantinowo, jetzt Jessenino, ihres geliebten Serjoscha.
In seinen späteren Jahren schrieb Wladimir Lindenberg unteranderen Büchern „Jenseits der Fünfzig", „Reife und Erfüllung", „Über die Schwelle - Gedanken über die letzten Dinge", mehrere autobiographische Werke wie „Wolodja", „Bobik im Feuerofen", „Lob der Gelassenheit - Weisheiten und Geschichten" und „Der unversiegbare Strom Geschichten und Legenden aus dem heiligen Rußland". Auch ein Büchlein „Zu Gast bei Wladimir Lindenberg Von feinen Kochkünsten und kulinarischen Speisefolgen zur Bewirtung lieber Gäste" hat er verfaßt, von Antonia gerne durchblättert. Wolfgang Kasack hat eine einfühlsame, sorgfältige und lebendige Biographie Lindenbergs („Schicksal und Gestaltung") geschrieben.
Durch die Vielfalt der Themen seiner Bücher zieht sich eine tief-religiös von der D o s t o j e w s k i schen Demut vor dem Nächsten und der Ehrfurcht vor dem Heiligen getragene Haltung, die das Ärztliche mit dem Seelsorgerischen unseres Berufes, das Geistesgeschichtliche mit dem Schriftstellerischen, das Rationale mit dem Mystischen, das Orthodox-Christliche mit der Toleranz allen Religionen und Weltanschauungen gegenüber verbindet. L i n d e n b e r g ge

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hört zu den Menschen, die mir besonders nahestehen. Ich bewahre seine vielen Briefe auf und lese mit leiser Wehmut im Gedenken an längst verwehte und doch ganz gegenwärtige Zeiten mit den Widmungen „Unseren geliebten Freunden Antonia und Hans-Werner Janz in alter Treue Wolodja" oder auch n... Eure Dolina und Wolodja".
In meiner Berliner Zeit - L i n d e n b e r g hatte sich inzwischen von seiner Aufbauarbeit in der sowjetisch-deutschen Gesundheitsverwaltung und damit vom „real existierenden Kommunismus" getrennt und seine ärztliche und Vorlesungstätigkeit fortgesetzt - vertiefte sich auch die Verbundenheit mit


Immo von Hattingberg


Sie führte zu einem Besuch im Hause seines Vaters Hans von H a t t i n g b e r g , der damals den ersten deutschen Lehrstuhl für Psychotherapie übernommen hatte. Vater Hans war vier- oder fünfmal, darunter zweimal mit derselben Frau, verheiratet gewesen und verfügte damit über ausgiebige Selbsterfahrungen, die seinem höchst lesenswerten Buch „Über die Liebe" zugute kamen. Er sagte mir, er komme sich vor wie ein alter Indianerhäuptling, der am Ende seines Lebens die Skalps zählt, die er erbeutet hat. Aber von ihm stammt auch das schöne Wort: „Liebe heißt, einen Menschen so sehen, wie Gott ihn gemeint hat." Sein Sohn Immo folgte den liebenden Fußstapfen des Vaters nicht nur im Geiste des Eros, sondern auch in dem der Freundschaft. Zu Antonias Geburtstag am 30. Juli 1942 überreichte er ihr und mir eine Reproduktion des Bildes „Jüngling mit der roten Kappe" von Sandro B o t t i c e I I i - das Original habe ich in der Mellon-Galerie in Washington gesehen - mit der Widmung „Der geliebten Antonia mit Antonio!" und einem Sonett:


„.. . Du wolltest zwar ein Bild von mir.

Doch fand ich leider noch kein gutes.

Drum leg' ich hoffnungsvollen Mutes

dies andre Bild zu Füßen Dir.
Ich weiß, der Jüngling mit der Mütze

Ist der verkörperte Rivale.
Der Maler selbst hat tausend Male

Verflucht der roten Lippen Hitze!

Doch uns, die wir dem Geiste leben,

kann dieser Anblick nur beglücken.

Wir sehn verklärt und voll Entzücken

Der Liebe buntes Farbenweben!

Den Jüngling mit der roten Haube

und dem verflixten Augenschimmer

Wir hängen ihn als Gast ins Zimmer

Und als Experten, wie ich glaube."


Max Planck


Nach der Berliner Antrittsvorlesung Hans von H a t t i n g b e r g s über „Neue Psychotherapie in Deutschland" (1942) - der Name F re u d kam nach meiner Erinnerung darin nicht vor! - in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften saßen wir, Vater, Sohn und zwei Töchter, an einem Tisch mit Max Planck zusammen, dem ich auf diese Weise persönlich begegnen konnte. Wie jeder wirklich große Gelehrte war er an Schlichtheit und Bescheidenheit nicht zu übertreffen. Wenn es auch für einen Nicht-Physiker kaum möglich ist, seine Quantentheorie zu erfassen, so wird zumindest deren Entstehung aus seiner „wissenschaftlichen Selbstbiographie" auch dem Laien verständlich. Das Gleiche gilt für die zwei Bände seiner „Wege zur physikalischen Erkenntnis" (bei Hirzel-Leipzig 1943), in denen er in logisch zwingender Klarheit Grenzfragen der neueren Physik, namentlich ihre Beziehungen zur Philosophie, Ethik und Religion behandelt hat. Mir selbst bedeutet darin besonders viel sein Beitrag zur wissenschaftlichen Erkenntniskritik über „Scheinprobleme der Wissenschaft", ein Thema, das von ihm in einem Göttinger Vortrag am 17. Juni 1946, ein Jahr vor seinem Tode, erörtert wurde. Er berührt hier auch das „berühmte sogenannte Leib-Seele-Problem" und entlarvt es als Scheinproblem: Seelische Vorgänge unterliegen ganz anderen Gesetzen als körperliche. Was jemand fühlt, was er denkt, weiß unmittelbar nur er selber. Andere Menschen können das nur mittelbar aus seinen Äußerungen, Gebärden, Reden, Handlungen schließen. Dieser Gegensatz zwischen unmittelbarer und

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mittelbarer Erkenntnis ist ein fundamentaler. „Unbewußte" Zustände seien einer wissenschaftlichen Behandlung nicht zugänglich. Eine „Wissenschaft des Unbewußten oder Unterbewußten" gebe es nicht. Was "unterbewußt" ist, wisse man nicht! Daher seien alle Probleme, die sich auf das Unterbewußtsein beziehen, Scheinprobleme! P I a n c k erwähnt nicht den Namen F r e u d . Aber es ist klar, daß dessen Lehre vom Un- und Unterbewußten gemeint und vom Standpunkt strenger Wissenschaftlichkeit in Frage gestellt sein muß. P I a n c k denkt eben logisch. Freud psychologisch!
Auf der Verwechselung zweier entgegengesetzter Standpunkte beruhe auch die Umzulässigkeit der Behandlung ethisch-religiöser Fragen vom wissenschaftlichen Standpunkt aus. Bekannte geschichtliche Beispiele: Der Kampf der Kirche gegen das Kopernikanische Weltsystem und gegen G a I i ! e i oder der anfängliche „Sturmlauf" gegen die Relativitätstheorie mit ideologisch-politischen Argumenten( Lenard-Stark gegen Einstein ).
Die Aufdeckung von Scheinproblemen der Wissenschaft, die sich aus der Verwechselung verschiedener Standpunkte ergeben, führt zur Frage nach dem, was unter „Wirklichkeit" zu verstehen sei. Gibt es nur relative, von verschiedenen Standpunkten aus gesehene Wirklichkeiten oder gibt es eine von irgendeinem besonderen Standpunkt unabhängige Wirklichkeit? Max Plancks Antwort: Wie es in der exakten Wissenschaft absolut richtige und endgültige Sätze - etwa die Größe des Elementarquantums der Elektrizität oder das elementare Wirkungsquantum - gibt, so gibt es auch in der Ethik einen absoluten Wert: Das ist die Wahrhaftigkeit gegen sich selbst, gegenüber dem eigenen Gewissen. „Hier gibt es nicht den leisesten Kompromiß, nicht die kleinste Abweichung, die sittlich zu rechtfertigen wäre"! Wer gegen diese Forderung verstößt, aus welchen (meist egozentrischen oder selbsttäuschenden) Motiven auch immer, der gleiche einem „Verschwender, der sein Besitztum gedankenlos verschleudert und der unweigerlich eines Tages für seinen Leichtsinn entsprechend schwer büßen muß". Diesen absoluten Werten zuzustreben sei die eigentliche Aufgabe eines jeden geistig regsamen Menschen, die in der einen oder anderen Form als jeweilige Forderung des Tages an ihn herantritt." ( Goethe hat die Pflicht „die Forderung des Tages" genannt!) Daß sie niemals ein Ende findet, dafür sorge das von manchen Scheinproblemen durchsetzte, aber auch stets echte

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Probleme in unaufhörlichem Wechsel schaffende, uns Alle beständig zu neuer Arbeit rufende werktätige Leben.
Was den von Planck gebrauchten Begriff des „Absoluten" oder des „idealen Geistes" angeht, so bildet er den irrationalen Kern aller exakten Wissenschaft, auch der Relativitätstheorie. „Alles Relative setzt ein Absolutes voraus! Der oft zitierte Satz: „Alles ist relativ" sei ebenso irreführend wie gedankenlos. Auch der Relativitätstheorie liege etwas Absolutes zugrunde: Die Maßbestimmung des Raum-Zeit-Kontinuums. Das Suchen nach dem Absoluten, das dem Relativen erst seinen Sinn verleiht, erscheine ihm, Max Planck , als „die schönste wissenschaftlich Aufgabe". Das letzte Absolute aber lasse sich wissenschaftlich nicht ergründen. Für ihn ist es der „ideale Geist", das Walten vernünftiger Gesetze im Weltall. Der vorausschauende Glaube an diese Gesetze sei der Impuls, der die Forschung vorantreibt, ihr den Weg weist, die Sinne schärft, das Wesentliche vom Unwesentlichen trennen läßt. Dieser Glaube könne freilich auch durch Umdeuten oder Ignorieren von Tatsachen zu verhängnisvollen Irrtümern führen. Daher setze er die Achtung vor den Tatsachen voraus!
Der unbeirrbare Glaube an eine vernünftige Weltordnung sei auch - bewußt oder unbewußt - die Quelle und der Antrieb des Forschungsdranges großer Männer gewesen, denen die Wissenschaft Umwälzendes und Zukunftsweisendes zu verdanken hat: Kopernikus' , Keplers , Galileis , Newtons , L e i b n i z' . So gesehen, gebe es keine strenge Voraussetzungslosigkeit aller Wissenschaft, wie Theodor M o m m s e n sie gefordert habe. Eine Voraussetzung für die Arbeit an der exakten Wissenschaft, wie es die Physik ist, bilde der „durch keine Hemmnisse zu erschütternde Glaube an das absolut, vom einzelnen Menschen und seiner Intelligenz ganz unabhängige Reale in der Natur". Albert E i n s t e i n sprach anläßlich des sechzigsten Geburtstages Plancks 1918 von der Sehnsucht nach dem Schauen einer prästabilierten Harmonie im L e i b n i z schen Sinne als Quelle der unerschöpflichen Geduld, mit der „etwas sonderbare, verschlossene und einsame Kerle" wie P I a n c k sich den allgemeinsten Problemen der (physikalischen) Wissenschaft hingeben. Emil W a r b u rg , der damalige Präsident der PhysikalischTechnischen Gesellschaft, hatte in jener Sitzung P I a n c k s Verdienste um sie gewürdigt, Max v o n L a u e , dessen Arbeiten zur Thermodynamik und Arnold S o m m e r f e I d die Entdeckung des nach dem Gefeierten benannten

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elementaren Wirkungsquantums. Diese einer mühsamen Gedankenarbeit abgerungene Entdeckung hat zu einer Revolution in der Physik geführt und ist als geistiges Ereignis im Bereiche der Naturwissenschaften wohl nur mit der Konstituierung des heliozentrischen Weltbildes durch Ko p e r n i k u s und seiner Ausgestaltung durch K e p l e r , Galilei und Newton zu vergleichen. Sie bedeutet wie die E i n s t e i n sche Relativitätstheorie nicht etwa eine Aufhebung, aber eine Durchbrechung der theoretischen Grundlagen klassischer Physik und hat in ihren praktischen Konsequenzen zu den von Planck, E i n s t e i n und den anderen Grundlagenforschern nicht voraussehbaren Phänomenen des „Atomzeitalters" geführt. Plancks Quantentheorie besagt, daß die Energie einer Lichtstrahlung nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft, stoßweise in bestimmten, unteilbaren, aber meßbaren Quanten" auf ein lichtempfindliches Metall trifft, und daß je ein auffallendes Quant ein Elektron aus dem Metallverband reißt. Während die klassische Physik eine räumliche Zerlegung physikalischer Gebilde in seine kleinsten Teile - Atome vornimmt und damit auf eine Korpuskularmechanik zurückführt, zerlegt die Quantenphysik jeden Bewegungsvorgang in die einzelnen periodischen Materiewellen und führt so zur Wellenmechanik. Diese ist dann weiterentwickelt worden durch das Atommodell des großen dänischen Physikers Niels B o h r , nach dem sich die Elektronen eines Atoms um seinen Kern nach ähnlichen Gesetzen bewegen wie die Planeten um die Sonne, und durch die H e i s e n b e r g sche Unschärferelation, nach der die Art der Messung eines Energieimpulses dessen Betrag verändert und mit der Schärfe der Ortsbestimmung eines Elementarteilchens die Unschärfe der Bestimmung seiner Geschwindigkeit wächst.
Ich habe Werner H e i s e n b e r g ebenfalls noch persönlich erlebt, als er in einer Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte in Wiesbaden - ich glaube, es war 1958 - über den Versuch sprach, alle physikalischen Gesetze rechnerisch auf eine „einheitliche Weltformel" zu reduzieren, die er auf eine Wandtafel malte. Er wirkte ganz ungezwungen und gar nicht gelehrtenhaft trocken. Er war nicht nur ein genialer, ideenreicher theoretischer Physiker, sondern auch ein künstlerischer, ungemein vielseitig gebildeter, über die Grenzen der Atomtheorie hinaus denkender Geist. Seine Büchern Schritte über die Grenzen" und „Der Teil und das Ganze" umfassen in lebendiger Sprache und mit interessanten autobiographischen Bezügen philisophische, geistesge

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schichtliche, religiöse Bereiche, Probleme der Sprache, der Kunst, der Technik und gehören für mich zu den anregendsten Zeugnissen eines heutigen Weltbildes, wie es sich aus den Erkenntnissen der neueren Atomphysik ergeben kann. Nur einige Beispiele seiner Themen: „Das Naturbild G o e t h e s und die technisch-wissenschaftliche Welt", „Die Tendenz zur Abstraktion in moderner Kunst und Wissenschaft", „Naturwissenschaft und Technik im politischen Leben unserer Zeit" ? „Die Bedeutung des Schönen in der exakten Naturwissenschaft". Die Lektüre seiner Bücher - es sind gesammelte Reden und Aufsätze sowie Wiedergaben von Gesprächen „im Umkreis der Atomphysik" mit Max P I a n c k , Einstein , Niels Bohr , Arnold Sommerfeld , Wolfgang Pauli , Carl-Friedrich von Weizsäcker und anderen bedeutenden Atomforschern - wird sympathisch belebt durch die flüssige Darstellung seiner persönlichen Eindrücke und Gedanken, durch anschauliche Schilderungen von Landschaften und Bergwanderungen und durch seinen inneren Protest gegen das, was seit 1933 in Deutschland geschah - für ihn „eine Zeit unendlicher Einsamkeit"! Diese Belebung erleichtert auch das Verständnis der schwierigen atomtheoretischen Erkenntnisse, in deren Umkreis sich H e i s e n b e rg s Leben und Wirken bewegt hat. Mit 31 Jahren wurde ihm der Nobelpreis für Physik verliehen! B u t en a n d t , Nobelpreisträger für Chemie, hat ihn als „das größte Genie, das in Deutschland auf dem Gebiet der Naturwissenschaften gelebt hat", bezeichnet. Ihm, Max Born , seinem Göttinger Lehrer, und Pascual J o r d a n ist der weitere Ausbau der P I a n c k schen Quantentherorie zu verdanken. De Broglie , Dirac , Schrödinger , Pauli sind die großen Namen, die mit der erregenden Geschichte der Atomforschung verbunden bleiben werden.
„Die P I a n c k sche Theorie hatte sich seit den Arbeiten von Einstein , Bohr und Sommerfeld , Heisenbergs Münchener Lehrer, als der Schlüssel erwiesen, mit dem man das Tor zu dem Gesamtgebiet der Atomphysik öffnen kann", schreibt Heisenberg selbst. „Mit Hilfe des Rutherford - B o h r'schen Atommodells hat man die chemischen Vorgänge erklären können, und seit dieser Zeit sind Chemie, Physik und Astrophysik zu einer Einheit verschmolzen!" Daß es überhaupt Atome als erfahrbare Realitäten gibt, ist zunächst indirekt aus E i n s t e i n s Nachweis der Wärme als Bewegung der Materie und aus Plancks Entdeckung seines Strahlungsgesetzes

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geschlossen und später durch die von Max v o n L a u e gefundenen „Interferenzerscheinungen" bewiesen worden: Ihm ist es gelungen, die mathematisch errechnete Wellennatur der Röntgenstrahlen und zugleich den atomistischen Feinbau der Materie direkt experimentell zu bestätigen. Max v o n L a u e erhielt dafür 1914 den Nobelpreis für Physik. „Wir sind nicht nur in der mathematischen Formulierung der Materiegleichung um einen großen Schritt weitergekommen, sondern haben auch durch das Experiment einige Annahmen seiner Grundgleichung bestätigen können", hat H e i s e n b e r g bei der Lindauer Tagung der Nobelpreisträger 1962 gesagt." Die P I a n c k sche Entdeckung, deren Schwierigkeiten und Widersprüche von Einstein („Gott würfelt nicht!") geltend gemacht wurden, konnte in der Interpretation Niels Bohrs nach Diskussionenzwischen ihm und Einstein bei den Solvay-Konferenzen 1927 und 1930 als endgültige Lösung des Quantenproblems gesichert werden. In einem halben Jahrhundert seit der P I a n c k schen Entdeckung ist die Forschung, wie H e i s e n b e rg feststellt, zu einer Stelle gelangt, an der man ihr Ziel, nämlich das Verständnis der atomaren Struktur der Materie aus einfachen mathematischen Symmetrieeigenschaften, schon deutlich in den Umrissen zu erkennen glaubt. Man sei hier auf Strukturen von ganz ungewöhnlicher Einfachheit, Geschlossenheit und - Schönheit gestoßen, die nicht nur ein spezielles Gebiet der Physik, sondern die Weit im ganzen betreffen! Bei der Lindauer Nobelpreisträgertagung 1962 zog er aus den bisher gewonnenen Erkenntnissen die überraschende Schlußfolgerung: Der Urzustand der Welt sei nach allem, was wir heute wissen, nicht etwa das Nichts, also ein Vakuum, sondern die sogenannte Asymmetrie! Damit hatte es folgende Bewandtnis: Zwei junge chinesich-amerikanische theoretische Physiker, L e e und Y a n g , hatten gefunden, daß die Symmetrie zwischen rechts und links, die bis dahin als ein fundamentales Naturgesetz galt, bei den von Heisenbergs Freund Wolfgang P a u I i seit langem vorausgesagten masselosen Elementarteilchen, den beim radioaktiven Beta-Zerfall ausgesandten Neutrinos, gestört sein könnte: Diese Teilchen scheinen nur in einer Form, nennen wir sie die Linksform, zu existieren, während die Antineutrinos in der Rechtsform vorkommen, wenn die Neutrinos beim Betazerfall ausgesandt werden. Dies würde bedeuten, daß auch in den fundamentalen Naturgesetzen die Rechts-Links-Symmetrie zunächst fehlt und daß sie erst sekundär, zum Beispiel über die Wechselwirkung, in die Natur

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gesetze hineinkommt! Die Symmetrie wäre dann die Folge einer nachträglichen Verdoppelung, die mathematisch dadurch entstehen könnte, daß eine Gleichung zwei gleichberechtigte Lösungen besitzt. Diese Möglichkeit sei deswegen so erregend, weil sie auf eine Vereinfachung der fundamentalen Naturgesetze hinausliefe! Während einer Konferenz über Atomphysik in Padua 1957 sprach Heisenberg in dem stillen Klosterhof des alten Benediktinerklosters auf der Insel San Giorgio im Hafen von Venedig mit dem Chinesen Lee und Wolfgang P a u I i über die unerwarteten gedanklichen Möglichkeiten, die sich aus der Entdeckung der beiden Chinesen ergaben: Die Welt im Ganzen, also der Kosmos, brauche nicht symmetrisch zu sein gegenüber den Operationen, unter denen die Naturgesetze konstant bleiben! Die Symmetrieverminderung könne möglicherweise auf die Asymmetrie des Kosmos zurückgeführt werden! Wolfgang P a u I i geriet bei diesem Gedanken „in einen Zustand immer größerer Begeisterung°. Er, wie auch sein Freund H e i s e n b e r g , war von der neuen Möglichkeit fasziniert, endlich den Schlüssel zum Tor gefunden zu haben, das bisher den Zugang zur Welt der Elementarteilchen versperrt hatte; nämlich den richtigen Ausgangspunkt für deren einheitliche Feldtheorie!" „Zweiteilung und Symmetrieverminderung, das ist des Pudels Kern. Zweiteilung ist ein sehr altes Attribut des Teufels (das Wort Zweifel soll ursprünglich Zweiteilung bedeutet haben, ... . Die beiden göttlichen Herren - Christus und Teufel - sollen nur merken, daß sie inzwischen viel symmetrischer geworden sind. Sag bitte diese Häresien nicht Deinen Kindern, aber dem Freiherrn v. Weizsäcker (CarlFriedrich) kannst Du sie erzählen - jetzt haben wir uns gefunden. Sehr, sehr herzlich. Dein Wolfgang P a u I i ", schrieb neben vielen mathematischen Einzelheiten der Freund dem Freunde in seiner Hochstimmung! Ein knappes Jahr danach ist P a u I i gestorben. Der Beginn seiner Erkrankung hatte, wie H e i s e n b e r g schreibt, „in jenen Wochen gelegen, in denen er die Hoffnung auf eine baldige Vollendung der Theorie der Elementarteilchen aufgegeben hat!"



Chaos-Theorie
 

Heisenberg selbst hatte schon auf wesentliche Fehler in seiner „Weltformel" hingewiesen, die ja noch vom grundlegenden Symmetrieprinzip ausgegangen war. Vielleicht hat er auch schon an die Notwendigkeit gedacht, den Begriff des

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Chaos in die künftigen Untersuchungen einzubeziehen, wenn er in einem Gespräch mit P a u I i nebenher äußerte, daß „Chaotisches sich immer wieder in Geordnetes verwandele". (in: „Der Teil und das Ganze", „Positivismus, Metaphysik und Religion", Piper und Co Verlag, München 1968). Inzwischen hat die Chaos-Theorie, von dem Belgier Benôit Mandelbrot und dem aus Rußland stammenden amerikanischen Chemiker und Nobelpreisträger 1977 Ilya P r i g o g i n e angestoßen und weiter entwickelt, Aktualität gewonnen: Mandelbrot mit seiner Theorie der "Fraktae° , deren Strukturen nicht euklidisch geometrisch glatt, sondern unendlich rauh sind, und P r i g o g i n e mit der Ansicht, die Natur bestehe aus Rückkopplungen auf allen Ebenen, und das mache die unerschöpfliche Kreativität in der Evolution aus, bedinge aber auch deren Unberechenbarkeiten. Es sei unmöglich, das ganze kosmische Geschehen in einer vollständigen mathematischen Aufschlüsselung auf eine einzige „Superkraft" zurückzuführen und in einer einzigen „Weltformel" (also auch in der H e i s e n b e r g schen ) auszudrücken. Jedesmal, wenn den Physikern ein Schritt zur Vereinfachung und Vereinheitlichung gelang, seien daraus neue Komplizierungen entstanden. Auch mit den vermeintlich letzten und kleinsten Elementareinheiten der Materie, den Quarks", sei das Ziel, ein endgültiges Verständnis des elementaren Aufbaus der Materie, nicht zu erreichen.
Aber auch die Chaos-Forscher können mit ihrer Theorie das Unberechenbare, Komplexe, Zufällige im Wandel der Naturprozesse nicht berechnen. Diese natürlichen chaotischen Prozesse werden überlagert von dem globalen Chaos, das der Mensch mit seiner auf ständigem Wachstum basierenden Weltwirtschaft und mit seinem umweltschädigenden Eingreifen in die Natur angerichtet hat. Aufgabe und Ziel der Chaosforschung ist es, aus ihren theoretischen Grundlagen Modelle für die Erfordernisse zu entwickeln, mit denen wieder Ordnung in das vom Menschen geschaffene Chaos in unserer Zivilisation gebracht werden kann. Wenn dieses Ziel auch noch utopisch erscheinen mag, so ist doch bereits erwiesen, daß in der Natur aus der chaotischen Aktivität unzähliger Moleküle Zustände relativer Ordnung entstehen, daß Ordnung aus Chaos, Chaos allerdings auch wieder aus Ordnung entspringt.

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Kernfusion und -spaltung

  
Was ist "Kernfusion"? Ein physikalischer Prozeß, bei dem unter Freisetzung gewaltiger Mengen an Energie die Atomkerne schwerer Wasserstoffatome (Deuterium) zu Helium, einem Edelgas, verschmolzen werden. So entsteht die von der Sonne ausgestrahlte Energie, in deren Innerem ständig Kernfusionsprozesse ablaufen. Ziel der Fusionsforschung ist es, diesen Prozeß der Energiegewinnung in technischen Anlagen, Fusionsreaktoren, nachzuvollziehen. Die Beherrschung der Kernfusion könnte den Energiebedarf der Menschheit für praktisch unabsehbare Zeiten decken, da das Ausgangsmaterial, Deuterium, im Meerwasser unerschöpflich zur Verfügung steht. Das radioaktive Tritium kann aus dem ausreichend vorhandenen Leichtmetall Lithium im Fusionsreaktor selbst gewonnen werden. Im Gegensatz zu den Kernspaltungisreaktoren entsteht in einem Kernfusionsreaktor kein atomarer Abfall, der entsorgt und endgelagert werden muß!
In den Kernkraftwerken hingegen wird eine kontrollierte, sich selbst erhaltende Kettenreaktion von Atomkern-Spaltungen zur Energiegewinnung genutzt. Bei der Explosion eines Reaktorblocks im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine am 26. April 1986, dem bisher schwersten Unfall des Atomzeitalters, wurden etwa 5 Tonnen radioaktive Substanzen in die Luft geschleudert und mit dem Wind über weite Teile Europas verteilt. Die radioaktive Wolke verbreitete sich zunächst über Polen und Skandinavien und erfaßte dann auch die Bundesrepublik Deutschland, Österreich und die Schweiz. Über 30 unmittelbar Getötete, Erhöhung des Risikos zusätzlicher Krebstoter, Krebskranker und Erbgutgeschädigter durch die radioaktive Strahlenbelastung außer riesigen ökonomischen Belastungen waren und sind die Folgen, unzureichend geschultes Personal, menschliches Fehlverhalten und Verschleiß sicherheitstechnisch wichtiger Teile in Altanlagen gelten als Ursache der Katastrophe. Weltweiter Protest gegen die Kernenergie, radikale Forderungen nach Abschaltung der Kernkraftwerke lauteten die politischen und ideologischen Konsequenzen. Trotzdem ist es zunächst in keinem Land, das bereits Kernenergie nutzt, zu einem Baustopp oder Verbot der Inbetriebnahme von Kernkraftwerken gekommen. Die Atomkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland erfüllen höchste Sicherheitsanforderungen, und ein sofortiger oder mittelfristiger Verzicht auf die

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Kernenergie hätte schwerwiegende Folgen für das Wirtschaftswachstum, die Wettbewerbsfähigkeit, die Beschäftigung und Umweltbelastung. Im Vergleich mit Kohle, Erdöl und Erdgas ist die Kernenergie eine saubere und umweltschonende Energieform, sie erhöht die Versorgungssicherheit und garantiert günstige Strompreise. Diesen Argumenten ihrer Befürworter stehen die ihrer Gegner gegenüber: Trotz des hohen Sicherheitsniveaus bleibe das . Restrisiko eines atomaren Reaktors mit lebensbedrohenden Folgen bestehen, der weltweite Ausbau der Kernenergie führe zur Weiterverbreitung von Atomwaffen, da das in Reaktoren anfallende Plutonium als Nuklearsprengstoff verwendbar ist, und die Entsorgung der radioaktiven Abfälle sei trotz langjähriger Forschungsarbeit ein ungelöstes Problem.
Dieser "radioaktive Müll" entsteht aus den Trümmern der Uran-Atome, die in den Kernkraftwerken zur Energieerzeugung gespalten werden. In ihnen strahlen Jahrtausende lang die allerkleinsten Bestandteile des Atoms, die sogenannten „Quarks". Es ist der Wunsch (-Traum?) der Physiker, das Innenleben" der Quarks so genau zu entschlüsseln, daß ihre Strahlung nicht mehr schädlich wirkt. Wann das zu erwarten ist? „Vielleicht im nächsten Jahrhundert", meint Professor Pedro W a l o s c h e k , Mitarbeiter am Deutschen Elektronen-Synchroton (DESY) in Hamburg. In diesem Forschungsinstitut ist man den „Quarks" auf der Spur. Was sind „Quarks"? Das Wort ist von ihrem Entdecker, dem amerikanischen Physiker und Nobelpreisträger 1969 Murray Gell-Mann geprägt und einem rätselhaften Satz aus einem Roman von James Joyce entlehnt worden: „Three quarks for Muster Mark". „Quarks" nennt man die durch magnetgelenkten, auf fast Lichtgeschwindigkeit beschleunigten Beschuß entdeckten Teilchen in den Kernteilchen mit Elektronen. Die Materie unserer Erde ist im wesentlichen aus Protonen und Neutronen aufgebaut, die ihrerseits aus Quarks bestehen. Man nimmt an, daß nicht nur unsere, sondern alle Galaxien aus Quarks und nicht aus Antiquarks bestehen. „Warum gibt es viel mehr Quarks als Antiquarks?", fragt Stephen H a w k i n g , 1942 geborener Physiker und Mathematiker, Nachfolger Newtons und D i r a c s auf dem „Lukasischen" Lehrstuhl an der Universität Cambridge, durch eine unheilbare, unaufhaltsam fortschreitende Erkrankung des Zentralnervensystems ("amyotro-phische Lateralsklerose") an den Rollstuhl gefesselt und auf fremde Hilfe angewiesen, auf der Suche nach einem kosmologischen Modell, mit dem

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die Eigenschaft des Universums, „weder erschaffen" ,noch zerstörbar, sondern Bestandteil eines „Super-Universums" in endloser Abfolge von Universen zu sein, allein durch die gesicherten Gesetze der Physik erklärbar ist. „Warum gibt es nicht von jeder Sorte eine gleiche Anzahl?" Jedenfalls können wir uns glücklich schätzen, daß die Zahlen ungleich sind, denn wären sie es nicht, hätten sich im frühen Universum fast alle Quarks und Antiquarks gegenseitig vernichtet und ein Universum voller Strahlung, aber fast ohne Materie zurückgelassen. Dann hätte es keine Galaxien, Sterne oder Planeten gegeben, auf denen sich menschliches Leben hätte entwickeln können."
Auf die neuesten Ergebnisse der Elementarteilchenforschung in den großen Beschleunigermaschinen, in denen Elektronen und Positronen mit hoher Energie zusammenprallen, „Hera" am Hamburger Zentrum „Desy" und "Cern" in Genf, einzugehen, würde die Geduld meiner potentiellen Leser überstrapazieren und meine eigenen Möglichkeiten weit überschreiten. Dazu nur ganz kurz: Die Vielfalt der „Elementar"-Teilchen (der Begriff „elementar" ist zunehmend fragwürdig geworden!) läßt sich mit einem Baukasten aus je sechs Partikeln zusammensetzen: Den „Quarks" und den "Leptonen". Zur Gruppe der Quarks zählen Teilchen mit den Namen up und down, charme und strange, top und bottom. Aber das sechste „top"-Quark konnte noch nicht nachgewiesen werden. Zu den Leptonen zählen Elektron, Myon und Tau-Lepton mit den ihnen zugehörigen Neutrinos. Die elektromagnetische Wechselwirkung zwischen zwei elektrischen Ladungen beruht auf dem Austausch masseloser Lichtquanten (Protonen). Die Quarks werden durch die „starke Kraft" der „Gluonen" (LeimTeilchen) zusammengehalten. Daneben gibt es die ..schwache Kraft", die z. B. beim radioaktiven Beta-Zerfall von Atomkernen und Elementarteilchen und bei den energieerzeugenden Kernfusionsprozessen im Inneren der Sonne eine wichtige Rolle spielt. Jedem Materieteilchen entspricht ein Antiteilchen. Wenn beide zusammenstoßen, vernichten sie sich gegenseitig und lassen nur Energie zurück! Zwei identische Teilchen mit dem „spin" (Drehzahl) '/2 können innerhalb der Grenzen Heisenbergschen Unschärferelation nicht zugleich dieselbe Position und dieselbe Geschwindigkeit haben ( P a u I i sches „Ausschließungsprinzip"). Unter dem heute viel diskutierten „Schwarzen Loch" wird eine Region der Raumzeit verstanden, aus der nichts, noch nicht einmal Licht, entkommen kann, weil die Gravitation zu stark ist. Stephen H a w k i n g hat sich seit 1970

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mit der Theorie des „Schwarzen Loches" und seiner Bedeutung für die Entstehung des Universums beschäftigt: Wenn ein Stern seinen Brennstoff verbraucht hat und sich zu einem Endzustand als „Weißer Zwerg", zusammenzieht, wird das Gravitationsfeld an seiner Oberfläche stärker, und die Lichtkegel, die er aussendet, krümmen sich immer stärker, bis ihr „Entkommen" nicht mehr möglich ist. Alles wird durch das Gravitationsfeld zurückgezogen.. So gibt es eine Region der Raumzeit, deren Grenze als ,.Ereignishorizont" bezeichnet wird.
Eine solche Region nennen wir heute „Schwarzes Loch". H a w k i n g hat nun festgestellt, daß rotierende Schwarze Löcher nach der Heisenbergschen Unschärferelation der Quantenmechanik doch Teilchen hervorbringen und emittieren können, obwohl ihrem „Ereignishorizont" nichts zu entrinnen vermag! Antwort: Die Teilchen entstammen nicht dem Inneren des Schwarzen Loches, sondern dem „leeren Raum" unmittelbar außerhalb des Ereignishorizontes! Schwarze Löcher sind also nicht wirklich schwarz: Sie glühen wie ein heißer Körper, und je kleiner sie sind, desto intensiver ist ihre Glut! H a w k i n g schreibt, er habe durch die umständlichen und langwierigen Vorbereitungen, zu denen ihn seine schwere Körperbehinderung alltäglich beim Zu-Bett-Gehen zwingt, viel Zeit zu Überlegungen gehabt, zu deren Ergebnissen seine Theorie der Strahlung, der nach ihm benannten "Hawking-Strahlung" des Schwarzen Loches zählt. Inzwischen konnte das Argument der Wissenschaftler, die Theorie der Schwarzen Löcher beruhe auf der „umstrittenen" Theorie der allgemeinen Relativität ( Einstein ) und sei daher nicht bewiesen, widerlegt werden durch den - wenn auch nur 95 %igen - Nachweis, daß zum Beispiel der Stern Cygnus X - 1 aus einem Schwarzen Loch und einem normalen Stern besteht, die einander umkreisen. Im Universum gibt es wahrscheinlich noch viel mehr Schwarze Löcher als in unserer Galaxis und in den zwei Nachgalaxien, den Magellanschen Wolken. Manches spricht dafür, daß es in unserer Galaxis ein Schwarzes Loch gibt, dessen Masse ungefähr hunderttausendmal so groß ist wie die der Sonne! Ein solches „Loch" hätte nur eine Temperatur von einem zehnmillionstel Grad über dem absoluten Nullpunkt, der niedrigsten aller möglichen Temperaturen. Wenn das Universum seine Expansion "ewig" fortsetzen sollte, wird die Temperatur der Mikrowellenstrahlung, die von einem Schwarzen Loch ausgesendet wird - Röntgen- oder Gammastrahlung - schließlich unter die des Schwarzen Loches absinken, wäre aber auch dann noch so niedrig, daß es

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ungefähr eine Million Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen Jahre (eine 1 mit 66 Nullen!) dauern würde, bevor das Schwarze Loch vollständig verdampft wäre. Dieser Zeitpunkt ist sehr viel länger als das Alter des Universums, das „nur" zehn bis zwanzig Milliarden Jahre (einet oder 2 mit zehn Nullen) vorzuweisen hat. H a w k i n g s Gedanke, daß Schwarze Löcher strahlen, „war das erste Beispiel für eine Vorhersage, die wesentlich auf beiden großen Theorien unseres Jahrhundert beruhte: der allgemeinen Relativitätstheorie und der Quantenmechanik". Er erzählt (in: Stephen W. H a w k i n g , Eine kurze Geschichte der Zeit - Die Suche nach der Urkraft des Universums, Rowohlt, 1989), daß er 1981 an einer von Jesuiten veranstalteten Konferenz über Kosmologie im Vatikan teilgenommen habe, an deren Ende der Papst erklärt habe, es spreche nichts dagegen, daß die Physiker sich mit der Entwicklung des Universums nach dem Urknall beschäftigten. Sie sollten aber nicht den Versuch unternehmen, den Urknall selbst zu erforschen, denn er sei der Augenblick der Schöpfung und damit das Werk Gottes!° „Ich war froh, sagt H aw k i n g , „daß ihm der Gegenstand des Vortrags unbekannt war, den ich gerade auf der Konferenz gehalten hatte: die Möglichkeit, daß die Raumzeit Endlich sei, aber keine Grenze habe, was bedeuten würde, daß es keinen Anfang, keinen Augenblick der Schöpfung gibt. Ich hatte keine Lust, das Schicksal G a I i I e i s zu teilen, mit dem ich mich sehr verbunden fühle, zum Teil wohl, weil ich genau dreihundert Jahre nach seinem Tod geboren wurde."
H a w k i n g verbindet die Quantenmechanik mit der allgemeinen Relativitätstheorie zu einer neuen Möglichkeit, die Beschaffenheit des Universums unter Berücksichtigung der „Singularitäten" (des Punktes in der Raum-Zeit, an dem die Raumzeitkrümmung unendlich wird) und der abgegrenzten Regionen, die zu Schwarzen Löchern kollabiert sind; Raum und Zeit können zusammen einen endlichen, vierdimensionalen Raum ohne Singularitäten und Grenzen bilden, ähnlich wie die Oberfläche der Erde, nur mit mehr Dimensionen. Mit dieser Theorie ließen sich viele Eigenschaften des Universums erklären. E i n s t e i n habe einmal gefragt: „Wieviel Entscheidungsfreiheit hatte Gott bei der Erschaffung des Universums?" Gäbe es eine einheitliche Theorie, so wäre sie doch nur ein System von Regeln und Gleichungen. Aber wer bläst ihnen den Odem ein, fragt H a w k i n g , und erschafft ihnen ein Universum, das sie beschreiben

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können? Braucht das Universum einen „Schöpfer", und wenn ja, wirkt er noch in irgend einer anderen Weise als in der eines mathematisch beschreibbaren Modells auf das Universum ein? Und wer hat ihn erschaffen? H a w k i n g s Buch endet mit einer Frage, die von Heidegger gestellt sein könnte: Warum -gibt es uns und das Universum?" (und nicht vielmehr nichts!) „Wenn wir die Antwort auf diese Frage fänden, wäre das der endgültige Triumph der menschlichen Vernunft - denn dann würden wir Gottes Plan kennen."
Ich denke, Gott wird dafür sorgen, daß wir diesen Plan nicht kennen werden und sollen! Wüßten wir alles, gäbe es keine Fragen mehr. Aber Fragen ist mehr als Antworten! Sollten wir vor lauter Wissen auch noch das Staunen verlernen, würde uns das fade Nichts angähnen!
Warum habe ich mich so ungebührlich lange bei der Atomforschung, ihrer Geschichte, ihren theoretischen Ergebnissen und praktischen Anwendungsmöglichkeiten aufgehalten? Die Antwort ist einfach: Weil wir hier vor einem epochalen geistigen Ereil stehen, das zu einer Revolution in den Grundlagen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und in ihren Konsequenzen zu umwälzenden technischen Fortschritten des „Atomzeitalters" wie zu den unabsehbaren Möglichkeiten eines Atomkrieges geführt hat. Es war für mich geradezu erregend, diesen Weg von äußerst abstrakten, nur noch mathematisch darstellbaren theoretischen Überlegungen bis zu deren praktischen, namentlich auch politisch-militärischen Auswirkungen zu verfolgen und ihn im Zusammenhang mit dem seit K o p e r n i k u s tiefgreifendsten Wandels unseres Weltbildes zu sehen. Im besonderen beschäftigen mich dabei die neuen philosophischen, erkenntniskritischen, ethischen und religiösen Fragestellungen, die sich aus diesem Wandel ergeben. Ich wollte mir auch über einige Begriffe der neueren Atomphysik Klarheit zu schaffen versuchen, ohne die z.B. die großartigen Fortschritte ihrer Anwendung auf die medizinische Diagnostik und Therapie nicht zu verstehen sind, vom Elektronen-Mikroskop (Manfred von A r d e n n e )bis zur Computer-, Kernspin- und Positronen-Emissionen-Tomographie. ("Spin'' ist eine den Elementarteilen innewohnende Eigenschaft, die mit der Vorstellung von Rotation verwandt, aber nicht mit ihr identisch ist. Bei der Kernspin-Tomographie ("NMR" = "Nuclear Magnetic Resonance") einer Weiterentwicklung der Computer-Tomographie, werden in einem magnetischen Feld Atomkern-, also Protonen„Spin" - Reaktionen angeregt, mit dem Computer ausge

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wertet und auf einem Bildschirm dargestellt. Mit dieser Methode lassen sich Tumoren, atrophische und entzündliche Prozesse des Zentralnervensystems oder Multiple-Sklerose-Herde früher und besser nachweisen, ohne daß Nebenwirkungen zu befürchten sind. Die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) registriert mittels radioaktiver Substanzen Bilder des Zellstoffwechsels, mit denen die Überwachung von Therapieerfolgen verbessert werden kann. (Ein Kernspin-Tomograph kostet etwa 5 Millionen DM!)
Die Auffüllung meiner Bildungslücken auf diesen Gebieten dient auch dem "Brain-Training", das ich gegenüber dem „Body-Training" (täglichen Spaziergängen mit meinen Hundchen und möglichst regelmäßigem Schwimmen) in meinen alten Tagen nicht vernachlässigen will und darf. Vielleicht mag der potentielle Leser dieser "Memorabilia" geneigt sein, mir mildernde Umstände zuzubilligen, wenn ich immer wieder in Bereiche außerhalb meiner engeren Biographie abund ausschweife. Sie gehören aber zu ihr, weil ich mein eigenes Leben und Erleben nicht anders als im Spiegel unserer Zeit und ihrer Geschichte sehen kann!
Dies gilt auch für philosophisch-anthropologische Gedankengänge, zu denen die Wandlungen des physikalisch-naturwissenschaftlichen Weltbildes nicht nur anregen, sondern auch zwingen. Werner Heisenberg hat in einem Gespräch mit Carl-Friedrich von Weizsäcker die moderne Physik als „das philosophisch wichtigste Ereignis dieses Jahrhunderts" bezeichnet. Er war der Meinung, daß man bei den neuen philosophischen Fragestellungen im letzten nicht mehr rational „durchkomme", sondern nur noch gleichnishaft verstehen könne. Sein Verhältnis zur Philosophie war nicht nur logisch, sondern auch weitgehend ästhetisch bestimmt. (Kein Zufall übrigens, daß Heisenberg ein hoch begabter Pianist gewesen ist, daß Planck über das absolute Gehör verfügte, Orchester und Chöre dirigiert und sogar eine Operette komponiert hat, Einstein hervorragend Violine spielte!) Heisenberg ging aus von P I a t o n , für den die Welt das Abbild eines Urbildes war, und er kehrte auch zu ihm zurück. Diese Welt aber war, wie es im Dialog „Timaios" heißt, „schön und vortrefflich und der Meister gut und vollkommen". Platon hatte wesentliche Elemente der Atomlehre der griechischen Naturphilosophen von T h a I e s bis Demokrit übernommen. Während Leu kipp und Demokrit im „Atom" (atomos), den kleinsten, unteilbaren und unveränderlichen Teil der Mate

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rie sahen, dachte P I a t o n es sich als Grundgebilde der vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer nicht materiell, sondern in mathematisch-geometrischen Formen von hoher Symmetrie und vollkommener Schönheit. (Zu unserer heutigen Suche nach immer noch kleineren Elementarteilchen hätte Platon durch T i m a i o s gesagt: „Die noch ursprünglicheren Urbestandteile aber kennt nur Gott und von den Menschen etwa der, den er lieb hat."). Hier beginnt der sich durch die Philosophiegeschichte ziehende Kampf um den Vorrang der Idee über die Materie, zwischen „Idealismus" und „Materialismus". H e i s e n b e r g hat in der P l a n c k schen Entdeckung der Unstetigkeit in der atomaren Struktur der Materie (der „Quantensprünge") und in der Wärmestrahlung ein mathematisches Gesetz gesehen, mit dem der Gedanke P I a t o n s von neuem in die Naturwissenschaft eintritt und Grundfragen der Philosophie berührt: Die letzte Wurzel der Erscheinungen, des Seienden ist - vereinfacht ausgedrückt - nicht die Materie, sondern das mathematische Gesetz, das Unanschauliche oder die Idee. Der Gegensatz zwischen „Kraft" und Stoff", der in der Naturphilosophie des 19. Jahrhunderts - bei materialistisch orientierten Denkern wie Ludwig B ü c h n e r und Ernst H a e c k e I -eine gewichtige Rolle spielte, löst sich auf in dem mathematisch analysierten Dualismus zwischen Welle" und .Korpuskel" oder zwischen Kraftfeld und Elementarteilchen. Damit schien der Weg zu einer einheitlichen Feld- und Materie-Theorie, wie Einstein ihn schon, von seiner allgemeinen Relativitätstheorie ausgehend, in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts angestrebt hatte, offen zu sein. Aber E i n s t e i n wollte das von P I a n c k entdeckte Gesetz der statistischen Wahrscheinlichkeit, der Möglichkeit oder der „potentia" im Sinne des A r i s t o t e I e s , das den atomaren Vorgängen, etwa dem Zerfall des Uran-Atomkerns, zugrundeliegt, nicht als endgültig anerkennen, da es seinen philosophischen Vorstellungen von den Aufgaben der exakten Naturwissenschaft nicht entsprach (,Gott würfelt nicht!"). Es beunruhigte ihn, daß Materie, Raum und Zeit keine so festen, vom Menschen unabhängigen Realitäten waren, wie das 19. Jahrhundert es gelehrt hatte und er selbst es annehmen wollte. Gleichwohl bleibt seine Relativitätstheorie eine „durch vielfache Kritik nicht zu erschütternde Grundlage der ganzen modernen Physik". Inzwischen konnte aber durch die Quantentheorie und die Unschärferelation nachgewiesen werden, daß jede Messung im atomaren Bereich einen Eingriff erfordert, der das Ergebnis der Messung beeinflußt. Wir

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können die „Bausteine der Materie" deshalb nicht mehr „an sich" , als letzte objektive Realität betrachten, sondern wir können im Grunde immer nur unsere Kenntnis dieser Teilchen zum Gegenstand der Wissenschaft machen. Auch in der Naturwissenschaft im ganzen ist der Gegenstand der Forschung nicht mehr die Natur an sich, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur. Der Mensch begegnet sich damit immer nur sich selbst. Das naturwissenschaftliche Weltbild „hört somit auf, ein eigentlich naturwissenschaftliches zu sein",folgert Heisenberg in einem im Rahmen der Münchener Tagung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste am 17.11.1953 gehaltenen Vortrag.
Die alte D e s c a r t e sche Zweiteilung der Welt in rares cogitans" und rares extensa" mußte - eine weitere Konsequenz der neuen Atomforschung -, wie Heisenberg ausführt, nach der P I a n c k schen Quantentheorie aufgegeben werden und ist durch den B o h r schen Begriff der „Komplementarität", der sich zwar ausschließenden, aber auch ergänzenden Zusammenhänge, ersetzt worden. Die K a n t sche Auffassung der synthetischen Urteile und Anschauungen „a priori" gelten zwar heute noch für die Grundbegriffe der klassischen Physik, nicht aber mehr als unveränderliche Grundlagen der neueren exakten Naturwissenschaften. Die Ansicht der Positivisten ( M a c h ), nach der die Sinneseindrücke das primär Gegebene seien, beschränke sich auf die Gebiete der klassischen Physik, und die weitere Entwicklung der Atomtheorien lasse in philosophiegeschichtlicher Sicht eine „Wendung von D e m o k r i t zu Platon u erkennen, ist Heisenbergs Resumée in einem 1958 anläßlich des 100. Geburtstages von Max Planck gehaltenen Vortrag! "Bei aller Skepsis, „die zu den obersten Pflichten des Naturwisssenschaftlers gehört", dürfe „man doch wohl aussprechen, daß man hier auf Strukturen von ganz ungewöhnlicher Einfachheit, Geschlossenheit und Schönheit gestoßen ist, auf Strukturen, die uns deshalb besonders wichtig scheinen, weil sie nicht mehr ein spezielles Gebiet der Physik, sondern die Welt im ganzen betreffen."
Mit den Beziehungen der Quantentheorie zur Logik hat sich Carl-Friedrich von Weizsäcker als philosophisch wie auch politisch denkender und handelnder Universalgelehrter eingehend und scharfsinnig in zahlreichen Publikationen befaßt. Ihm geht es um die fundamentalen Fragen, vor denen die Menschheit steht, nachdem die Entdeckungen der Atomwissenschaften das Leben auf der Erde „unumkehrbar verändert" haben. Er faßt diese Fragen in

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vier Grundproblemen zusammen: Weltwirtschaft, Frieden mit der Natur, Frieden unter den Menschen und Bewußtseinswandel (dies auch der Titel seines 1988 im Carl Hanser-Verlag erschienen Buches). Dazu sagt er, es gebe in keinem dieser vier Bereiche ein Problem, das nicht durch „gemeinsame Anstrengung der Vernunft" lösbar wäre. Er behauptet aber auch, „daß unsere politischen Ordnungen, unser gesellschaftlicher Zustand und unsere seelische Verfassung diese gemeinsame Vernunft fast unmöglich machen. Die Notwendigkeit eines Bewußtseinswandels erfordere vom Wissenschaftler eine radikale Vertiefung des politischen Bewußtseins. Denn auch er gehe mit Macht um, mit der Macht der Erkenntnis, und das bedeute Verantwortung auch für Dinge, die er nicht hat voraussehen können. Er erinnert dabei an die Entdeckung der Uranspaltung durch Otto Hahn und Fritz S t r a s s m a n n , deren Folgen nicht vorhersehbar waren. H a h n habe einmal zu ihm gesagt, er werde sich umbringen, wenn es Hitler gelingen sollte, aus seiner Entdeckung eine Atombombe konstruieren zu lassen. Auf Hiroshima habe er mit Verzweiflung reagiert. Carl Friedrich von W e i z s ä c k e r bekennt sich als Atomphysiker selbst zur Mitverantwortung für die Toten von Hiroshima und bezeichnet es nicht als Verdienst der Atomwissenschaftler, sondern als „göttliche Gnade", daß es ihnen im Zweiten Weltkriege - aus Mangel an Uran und schwerem Wasser - noch nicht möglich war, zur Konstruktion der Atombombe beizutragen. Er hat nach dem Kriege, 1957, als Sprecher von 18 deutschen Atomforschern - entgegen dem politischen Konzept Konrad Adenauers und Franz Josef Strauß ` maßgeblich an der berühmt gewordenen „Göttinger Erklärung" vom 12. April 1957 mitgewirkt, in der zu einem Verzicht auf die Herstellung, Erprobung oder den Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise, auch von sogenannten „taktischen°, aufgerufen wird. Zugleich sei es äußerst wichtig, die friedliche Verwertung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, an denen die Wissenschaftler wie bisher mitwirken wollten. Zu den Unterzeichnern gehörten außer ihm u.a. Max Born , Otto Hahn , Walter Gerlach , Werner Heisenberg , Max von Laue , Fritz Strassmann (nicht Pascual Jordan!).
Eine zentrale Forderung v. Weizsäckers ist die nach der Abschaffung der Institution des Krieges. Er sieht offenbar heute noch in einem atomaren Weltkrieg das Damoklesschwert, das über der Menschheit schwebt, wenn er

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auch nicht verkennt, daß die gegenseitige Angst vor der Wasserstoffbombe einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt und der Freiheit in einem Teil der Welt geleistet habe. Aber in seiner grundsätzlichen Skepsis wie auch in seiner utopischen Forderung nach Abschaffung des Krieges als Institution scheint mehr ein depressiver Zug mitzuschwingen, den ich, als ich bei einem Universitätsfest in Hamburg an einem Tisch mit ihm saß, glaubte beobachtet zu haben. Er erwähnt auch selbst, daß er Angst habe, Angst um seine Enkel, um das Volk, zu dem er gehört, Angst um die Menschheit. Er hat sich vorsorglich einen atomsicheren Bunker in seinem Garten bauen lassen! Auch gibt er zu, daß er nach 1945 an einer »fortdauernd depressiven Grundstimmung" gelitten habe, von der er erst 1952 durch eine „schmerzhafte midlife crisis" erlöst wurden sei. Als gläubiger Christ jedoch setzt er seiner Angst die Hoffnung entgegen, und als politisch verantwortlicher Wissenschaftler fordert er, „die Verdrängung der Gefahr und die Fehlwahrnehmung des jeweiligen Gegners" zu vermeiden, durch den „Wandel des Bewußtseins" denn Wandel des Verhaltens" zu lernen und mit der Anstrengung der gemeinsamen Vernunft das Ziel: soziale Gerechtigkeit, politischen Frieden und die Bewahrung der Natur in der Welt handelnd zu fördern.
Der „ewige Friede" ist, wie Immanuel Kant in seiner berühmten Schrift (1795) sagt, „keine leere Idee, sondern eine Aufgabe", die ihrem Ziel beständig näher kommt, wenn es als Pflicht erkannt wird, den „Zustand eines öffentlichen Rechts" („Völkerrechts") - mit republikanischer Verfassung! - herzustellen, in dem Politik nicht mit Gerechtigkeit und Moral im Widerstreit steht. Kants (und v. W e i z s ä c k e r s ) Gedanken werden solange Utopie bleiben, wie die entwicklungsgeschichtlich ältesten Regionen des menschlichen Gehirns, die des „Stammhirns", in denen die aggressiven Impulse, die „Hostilitäten", wie Kant sie nennt, repräsentiert sind, noch funktionellen Vorrang vor dem „basalen Neocortex" der jüngsten Hirnregionen, haben, auf denen die ethisch höheren Eigenschaften und mit ihnen die Bedingungen vernünftigen Verhaltens beruhen. Das heißt: Erst, wenn diese noch nicht ausdifferenzierten zerebralen Bereiche „nachgereift" sein werden - und sie sind, wie Hugo Spatz , der geniale Hirnforscher, nachweisen konnte, einer solchen Nachreifung fähig - besteht begründete Aussicht, daß die Menschheit Konflikte nicht mehr wie seit der Stein

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zeit noch heute, mit Waffen, sondern friedlich, mit der Vernunft, auszutragen vermag!
Niemand weiß, wann es soweit sein wird. Aber die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Gehirns läßt die heutige Utopie zur Hoffnung für ferne Generationen werden!


Letzte Kriegs- und erste Nachkriegsjahre


Die weitere Zeit in Berlin wurde für mich eine Ruhe vor dem Sturm der letzten Kriegsund ersten Nachkriegsjahre - ungeachtet der nächtlichen Fliegeralarme - noch bereichert durch unvergeßliche Theatererlebnisse: Faust erster und zweiter Teil mit Gustav G r ü n d g e n s als Mephisto, Paul Hartmann als Faust, Käthe G o I d als Gretchen, Bach-Konzerte in der Alten Philharmonie, Gespräche im L i n d e n b e r g-Kreis, mit I m m o und anderen literarisch Interessierten im Hirnverletzten-Lazarett Berlin-Reinickendorf. Mein Kollege Dr. S t e i n k o p f f , ein gründlicher Kenner und kritischer Verehrer Ernst Jüngers , hatte mir die kurz vor Kriegsbeginn erschienenen „Marmorklippen" geschenkt und mein dortiges Dienstzimmer die „Rauten-Klause" getauft. Wir lasen das Buch gemeinsam und verstanden seinen stellenweise dichterisch-schönen Gehalt natürlich als Gleichnis: Die "Rauten-Klause" war für uns ein Ort der „inneren Emigration", im Oberförster" sahen wir einen verschlüsselten Hermann G ö r i n g , und was in Wirklichkeit gemeint war, sagte alleine der Satz: „... denn tief war Recht und Unrecht nun vermischt, die Festen wankten, und die Zeit war für die Fürchterlichen reif. Die Menschen-Ordnung gleicht dem Kosmos darin, daß sie von Zeit zu Zeiten, um sich von neuem zu gebären, ins Feuer tauchen muß." ( J ü n g e r hat damit die später in der "Chaostheorie" und in Jacques M o n o d s Thesen begründete Verschränkung von Gesetz und Zufall, Kosmos und Chaos mit den Worten angedeutet: „Was unsere Mühen dann überreich belohnte, das war die Einsicht, daß Maß und Regel in den Zufall und in die Wirren dieser Erde unvergänglich eingebettet sind.")

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Nicht ahnen konnten wir damals, daß J ü n g e r - wie auch H e i d e g g e r - von der französischen Resistence, auch der linksgerichteten, entdeckt und zum wichtigsten Inspirator ihrer Nachkriegsphilosophie erhoben wurde. Der (linke) Germanist Jean Michel P a I m i e r hat die „Marmorklippen" als einen „Akt des literarischen Widerstandes gegen Hitler , wie es nur ganz wenige gegeben hat", bezeichnet. Sogar Bert Brecht soll nach dem Kriege, als die Kommunisten den Autor von "In Stahlgewittern" angriffen, gesagt haben: "Laßt J ü n g e r in Ruhe!" Das Gleiche wird allerdings auch von H i t I e r berichtet, der ihn mit diesem Befehl an F r e i s l e r vor einem wegen der „Marmorklippen" drohenden Strafverfahren beim Volksgerichtshof bewahrt hat! Wenn Hitler und B r e c h t Ernst J ü n g e r „in Ruhe lassen" wollten - sie mögen ihre Gründe gehabt haben - , so kommt man nicht ganz zur Ruhe angesichts der inhumanen Härte in der militanten Seite seiner Persönlichkeit, von der die unbestreitbare geistige Bedeutung seines schriftstellerischen Werkes verdunkelt wird.
Zu den Annehmlichkeiten der Berliner Lazarettzeit gehörten die Freikarten, die uns Ärzten und den Verwundeten für kulturelle Veranstaltungen gewährt wurden. So erlebte ich mit meinen Patienten ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter dem jungen Herbert v o n K a r a j a n . Das Programm bestand nur aus Walzern von Johann S t r a u ß Vater und Sohn, etwas einseitig, aber belebend für die jungen Hirngeschädigten. Ein anderes Mal durften wir an einem Empfang bei dem japanischen Botschafter General O s h i m a teilnehmen, bei dem der elegant-schöne Schauspieler Viktor d e K o w a die Verwundeten mit Witzchen zu ermuntern suchte, deren Anrüchigkeit mich peinlich berührte, als seine charmante japanische Frau, ich glaube, sie hieß Michi T a n a k a , mir lieblich plaudernd den Tee servierte.
Trotz der positiven Seiten dieser Berliner Zeit konnte ich es nicht erwarten, dem Zwang des Militärs zu entrinnen. Das geschah denn auch endlich im Frühjahr 1943 durch Austausch mit einem noch nicht eingezogenen jungen Assistenten der Leipziger Klinik, Dr. G e u d e r . Nun durfte ich meine mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse, der Ost-Medaille und dem zweiflügeligen Segelflieger-Abzeichen geschmückte Uniform ablegen, in die Arme Antonias und in die Arbeit an der Klinik zurückkehren. Zur Verleihung des Eisernen Kreuzes "Im Namen des Führers hat der Oberbefehlshaber der Luftwaffe und Reichsmi

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nisters der Luftfahrt ( G ö r i n g ) mit Wirkung vom 19. März 1942 Ihnen das Eiserne Kreuz zweiter Klasse verliehen ..." - noch einige psychologische Randbemerkungen: Erste Reaktion: Freude! Es wäre Heuchelei, leugnen zu wollen, daß ich mich über die metallene Konzession an die männliche Eitelkeit nicht gefreut hätte. Antonia allerdings hält nicht viel von einer solchen Bekundung spezifisch männlichen Imponiergehabes. Zweite Reaktion: Beschämung! Denn es war kein besonderes Heldentum, das mir - durch Zufall als vertretendem Truppenarzt eines Luftwaffenstabes Gelegenheit gab, während eines schon abflauenden Bombenangriffs der russischen Luftwaffe auf den Flugplatz BialaCerkew bei Kiew die wenigen Verwundeten ärztlich zu versorgen. Dritte Reaktion: Genugtuung! Ich sah in dem Kreuzchen - von S c h i n k e I entworfen, 1813 von König Friedrich Wilhelm dem Dritten als Kriegsorden gestiftet und 1941 von dem Freiburger Philosophen und Heidegger-Schüler Bruno B a u c h kunsthistorisch analysiert - eine äußere Anerkennung meines Bemühens, im russischen Winter, nicht ohne innere Opfer, meine ärztlichen Pflichten erfüllt zu haben. Major B I u m , ein aus Hamburg stammender, regimekritischer Reserveoffizier, der mich für die Verleihung vorgeschlagen hatte, legte als mein wohlgesonnener „Patenonkel" Wert darauf, mir das Kreuz persönlich in feierlicher Form anzuheften. Es bedeutete mir auch insofern eine kleine, etwas naive Genugtuung dafür, daß ich mich nicht mehr der geringschätzigen Miene eines Rittmeisters auszusetzen brauchte, der während einer Bahnfahrt meine Personalien - ich weiß nicht mehr, aus welchen Gründen - feststellte und vermerken mußte, daß ich noch undekoriert war. Ich konnte nun auch vor einer Äußerung Werner Wagners bestehen: „Na ja, mein Lieber, wenn man schon in Rußland gewesen ist, muß man auch wenigsten das EK nach Hause bringen!" - Wertmaßstäbe, die heute nur noch aus der Psychologie des Krieges verständlich - und entschuldbar erscheinen!
Ich übernahm die oberärztliche Aufgabe an der Klinik, hielt wieder Vorlesungen, las einen Psychiatrisch-neurologischen Untersuchungskurs und ein Kolleg über Gerichtliche Psychiatrie und war mehrfach als Sachverständiger bei Gerichten tätig. Bei zwei Schwurgerichtsverfahren in Weimar und Dresden konnte ich gutachtlich begründen, daß ein wegen Handtaschenraubes unter Ausnutzung der Verdunkelung bei Fliegerangriffen angeklagter Jugendlicher und ein anderer 15jähriger Junge, der kleine Diebereien an einem Beutegut der

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SS verübt hat, nicht nach dem Erwachsenen-Strafrecht, das Todesstrafe bedeutet hätte, verurteilt wurden. Der 15-Jährige hatte sich, von einem alten Aufseher ermuntert, an einigen von der SS in Belgien und Holland erbeuteten Gegenständen vergriffen, der Alte war hingerichtet worden. Ich konnte nachweisen, daß beide Jugendlichen ihrem seelischen und geistigen Reifezustand entsprechend nicht einem Erwachsenen gleichzustellen waren, und rettete ihnen damit den Kopf. Sie - und ich - hatten das Glück, in beiden Strafverfahren Vorsitzende Richter zu finden, die nicht bereit waren, Konzessionen an die damaligen Sondergerichtsbestimmungen zu machen, sondern den Minderjährigen die Chance zu geben, nach dem Jugendlichen-Strafrecht verurteilt oder freigesprochen zu werden. Mein Weimarer Gegengutachter, Prof. Dr. Dr. Gerhard K l o o s , Verfasser eines kurzgefaßten Lehrbuches der Psychiatrie und Neurologie, glaubte begründen zu können, daß der Angeklagte einem. Erwachsenen gleichzustellen sei, und dieser Junge hätte, wenn das Gericht seinem Gutachten gefolgt wäre, zum Tode verurteilt und hingerichtet werden müssen. Der Vater des Dresdner Jugendlichen fiel mir nach dem Freispruch seines Sohnes um den Hals. In Weimar besuchte ich zum letzten Mal das Goethe-Haus und aß wehmütig noch einmal im „Elefanten".
In meiner forensisch-psychiatrischen Vorlesung wagte ich es, die von H i t I e r „unter Verantwortung des Reichsleiters B o u h I e r und des Dr. med. Karl Brandt " verfügte Tötung psychisch Kranker und geistig Behinderter als unvereinbar mit dem Hippokratischen Gebot ärztlichen Helfens zu bezeichnen, was von den Studenten mit leisem Trampeln applaudiert wurde. Werner Wagner hatte einem wegen der Zertrümmerung einer Bismarck -Büste Angeklagten erheblich verminderte Schuldfähigkeit zugestanden, weil er nicht bedacht habe, daß jedes Monument, auch ohne menschliches Zutun, einmal den „Weg alles Irdischen" gehen müsse. Der Richter verstand die Anspielung und kam zum Freispruch. Es gab damals auch solche und nicht nur „furchtbare" Juristen! In Vertretung W a g n e r s - B o s t r o e m war schon in Straßburg - mußte ich auch die psychiatrische Hauptvorlesung halten. Ich bemerkte dabei, wie schwer es den Studenten fiel, die abstrakten Begriffe, mit denen die Psychopathologie arbeitet, zu verstehen und sie von philosophischen oder psychologischen Grundbegriffen wie Bewußtsein, Wahrnehmung, Denken, Gefühl abzuleiten und mit konkret-anschaulichem Inhalt an klinischen Beispielen zu

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erfüllen. Zugleich bemühte ich mich, auf die zu wenig beachtete Tatsache hinzuweisen, daß auch im seelisch Schwerkranken noch gesund gebliebene Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen aufzuspüren und im therapeutischen Umgang mit ihm anzusprechen und zu fördern seien. Ich erläuterte dies an der Alterskrankheit Immanuel Kants , einer zuletzt hochgradigen arteriosklerotischen Demenz, deren genaue und lebendige Schilderung wir seinem Freunde, dem „Diakonus bey der Tragheimschen Kirche zu Königsberg", E.A. Ch. W a s i a n s k i , verdanken. In seiner 1804 bei Friedrich Nicolovius in Königsberg erschienenen Schrift -ich besitze ein seltenes Originalexemplar
„Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren. Ein Beytrag zur Kenntniß seines Charakters und häuslichen Lebens aus dem täglichen Umgange mit ihm" berichtet er, daß der »ordentliche akademische Lehrer der Logik und Metaphysik zu Königsberg" bereits ,das Zeitmaaß gänzlich verlohren" und das er schon ,aufgehört habe, zu denken". Aber dieser weit fortgeschrittene Abbauprozeß des Gehirns hatte nicht vermocht, die kritische Einsicht Kants in seinen Zustand und die charakterlichen Grundeigenschaften des „großen Selbstdenkers" zu zerstören. Schon im Jahre 1799, als die Abnahme seiner geistigen Kräfte noch kaum bemerkbar war, sagte er zu seinen Tischfreunden: „Meine Herren, ich bin alt und schwach, Sie müssen mich wie ein Kind betrachten." Sein „edler, feiner Geist", seine ,Herzensgüte, Menschenfreundlichkeit und Bescheidenheit" - "er sprach von keinem schlecht!" - hatten dem zerebralen Verfall bis zuletzt standgehalten. Als er neun Tage vor seinem Tode von seinem Arzt, einem Professor der Medizin und derzeitigen Rektor der Universität, besucht wurde, wollte er sich nicht hinsetzen, solange sein Gast nicht Platz genommen hatte, und als dieser es auf W a s i a n s k i s Bitte endlich tat, sagte K a n t „nach Sammlung seiner Kräfte mit einer erzwungenen Stärke" : „Das Gefühl für Humanität hat mich noch nicht verlassen."
Charakteristisch für die Gehirnarteriosklerose ist auch, daß K a n t hochgradig vergeßlich für Dinge des täglichen Lebens geworden war, was er selbst bemerkte und, um sich nicht zu wiederholen, durch Notizen auf kleinen Zetteln auszugleichen suchte, während er sich an die „entferntesten Ereignisse der Vorzeit" gut erinnerte und lange deutsche und lateinische Gedichte, allerdings „nur solche, in denen Geschmack, feiner Witz und angenehme komische Darstellungen herrschten!", mit bewunderungswürdiger Fertigkeit rezitieren konnte.

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Mich haben die gesund gebliebenen Anteile einer seelisch krank gewordenen Persönlichkeit im Grunde immer mehr interessiert als das Krankhafte selbst, und dieses Interesse hat auch mein Bemühen bestimmt, selbst mit Schwerkranken nach Möglichkeit so umzugehen, als ob sie gesund seien. Kurt S c h n e i d e r , der „Altmeister" der klinischen Psychopathologie, hat mir in einem persönlichen Gespräch in seiner Heidelberger Wohnung gestanden, er habe das »Extrapsychotische" im Psychotischen eigentlich erst nach seiner Emeritierung entdeckt!
Aus der ruhigen klinischen Arbeit und Lehrtätigkeit wurden wir jäh, wenn auch nicht unerwartet, herausgerissen durch den ersten schweren Bombenangriff auf Leipzig am 3. Dezember 1943. Die Klinik wurde durch Spreng- und Brandbomben völlig zerstört. Die Patienten konnten rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden, und nur ein Paralytiker ist, nicht durch Verletzungen, sondern infolge der emotionalen Schreck- und Schockwirkung auf die vegetativen Zentren seines kranken Gehirns, getötet worden. Als ich am nächsten Morgen - unsere Wohnung war noch unversehrt geblieben - mit dem Fahrrad in die Klinik kam, fand ich die geretteten Patienten draußen, in Decken gehüllt, vor, soweit sie nicht schon in das Psychiatrische Landeskrankenhaus Dösen bei Leipzig abtransportiert waren, das wir als Ausweichabteilung eingerichtet hatten. Zwischen ihr und den beiden anderen improvisierten Ersatzabteilungen, der Poliklinik in der ehemaligen Privatklinik des früheren Ordinarius für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde Prof. K n i c k , in der Emilienstraße, und in dem Sächsischen Landeskrankenhaus Hochweitzschen, 60 km von Leipzig entfernt, mußte ich nun mit Fahrrad und Eisenbahn hin- und herpendelnd, meine oberärztliche Tätigkeit ausüben, immer mit dem Risiko neuer Bombenangriffe auf die Wohngebiete der Stadt. Der Krieg dauerte ja noch weitere 1 '/2 Jahre!
Bei einem späteren, besonders schweren Luftangriff im Februar 1945 wurden W a g n e r s Sekretärin Frau S t r ö t z e I und meine Sekretärin Fräulein K r i e g s , getötet. Sie hatten beim Fliegeralarm den Luftschutzraum im Keller unserer Poliklinik, den sie für nicht sicher genug hielten, verlassen und waren in einen neuen, angeblich „bombensicheren" Bunker gegangen. In ihn schlug eine Luftmine ein, die alle hier Schutzsuchenden tötete, während wir Anderen, meine Patienten und ich, im Keller der Klinik geblieben waren und heil davonkamen. Es war eine grauenhafte Aufgabe für mich, unter hunderten aufgebahrter Lei

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chen nach den beiden Mitarbeiterinnen zu suchen und sie zu identifizieren. Fräulein K r i e g s war der Kopf fast völlig abgerissen worden. Nicht weniger bedrückend war die Pflicht, den Eltern den Tod ihrer Töchter mitteilen zu müssen. Frau S t r ö t z e l s Vater, Herr Hähnchen , war der älteste Kommunist Leipzigs, eine ehrwürdige patriarchalische Persönlichkeit mit weißem Vollbart. Nach der Besetzung Leipzigs durch die sowjetische Armee habe ich lange Gespräche mit ihm an seinem Kranken- und Sterbebett geführt. Er war von der Heilsbotschaft des Sozialismus zutiefst überzeugt und hatte sich vom Sieg der Sowjetunion die Erfüllung seiner Hoffnungen versprochen. Als ich ihm erzählte, das Hausmädchen meiner Schwiegereltern, unser Margaretchen, sei von drei Russen vergewaltigt worden, und meine 60-jährige Schwiegermutter habe sich vor ihnen nur durch einen - glimpflich verlaufenen - Sprung aus dem ebenerdigen Fenster ihrer Flüchtlingswohnung auf dem Lande retten können, wollte er das nicht glauben. Er hielt es für „Propaganda". Erst, als die Schreckensnachrichten über Vergewaltigungen und Erschießungen durch Russen sich häuften und nicht mehr wegdiskutiert werden konnten, brach sein Weltbild zusammen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals bei einem Menschen am Ende seines Lebens eine so tiefe Verzweiflung erlebt zu haben wie bei diesem alten und verehrungswürdigen Mann. Nach dem Tode seiner einzigen Tochter - er war Witwer - blieb ihm als Atheisten nichts, was ihm einen Lebenssinn und inneren Halt hätte geben können. Er ist bald danach gestorben.
Nach einem Bericht des Statistischen Bundesamtes in Bonn sind in Deutschland ungefähr 500 000 Zivilisten durch Bombenangriffe getötet worden. Leipzig hat außer zahlreichen leichteren drei sehr schwere Luftangriffe erlitten. Mein eigenes Erlebnis des Luftkrieges innerhalb des Stadtgebietes und die Beobachtung des Verhaltens der Frauen und Männer in den Luftschutzkellern, bei Fliegeralarm und nachher war für mich Anlaß zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Frage: Wie steht es um die seelische Belastbarkeit des Menschen in lebensbedrohenden Extremsituationen, denen wir damals ausgesetzt waren? Ich habe die Ergebnisse dieser Untersuchungen, ergänzt durch Erfahrungen aus der Notsituation in der ersten Nachkriegszeit, zusammengestellt in einer größeren Arbeit über „Psychopathologische Reaktionen der Kriegs- und Nachkriegszeit - Fragen und Beiträge -." (Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete, Juni 1948, Heft 6, 264 - 293). Sie stützen sich auf Explora -

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tionen und Katamnesen von 287 Patienten der Leipziger Universitäts-Nervenklinik aus den Jahren 1944 bis 1946. Das Interessanteste war zunächst die Feststellung, daß es von insgesamt 10 720 in diesem Zeitraum ambulant oder stationär behandelten Patienten, von denen man hätte annehmen können, daß sie besonders empfindlich auf die Angst- und Schreckerlebnisse des Luftkrieges reagieren würden, nur bei 287 = 2,6 % zu psychopathologischen Erscheinungen gekommen war, die im unmittelbaren Zusammenhang mit den Bombenangriffen standen: Stuporartige Schreckreaktionen, Bewußseinseinengungen, Dämmerzustände, psychogene Extremitätenlähmungen, vasomotorische Anfälle, vorübergehende Sprechunfähigkeit (Aphonie), Stottern, Erinnerungsausfälle usw. Damit bestätigten sich ähnliche Erfahrungen aus dem Ersten Weltkriege, die - wie auch das Ausbleiben von Massenpaniken - erkennen ließen, daß die seelische Belastbarkeit der Menschen größer war, als bei der im Zweiten Weltkriege unvergleichlich größeren Schwere der Kriegseinwirkungen zu erwarten gewesen wäre. Damals hatten sich militärische Angriffe nur gegen Soldaten gerichtet, die Massentötungen der Zivilbevölkerung durch den modernen Luftkrieg waren etwas Neues in der Geschichte der Menschheit. Man hat versucht, die erstaunliche seelische Widerstandsfähigkeit der Menschen gegen unmittelbare Bedrohungen als eine natürliche Schutzreaktion des Organismus zu erklären. Psychologisch formuliert: Haben seelische Erlebnisse (Erlebnisreize) eine bestimmte Schwelle der Erregbarkeit überschritten, so können noch stärkere affektive Erregungen keine weitere Reaktion mehr hervorrufen, sondern ihre Intensität eher abschwächen. Schreck kann sogar - als Schutzreflex! paradoxe Reaktionen auslösen: Antonia hat das selbst erlebt: Als sie im April 1945, aus Hochweitzschen mit dem Fahrrad kommend, sich bei amerikanischen Soldaten nach dem Stand der von der anderen Seite vordringenden Russen erkundigen wollte, geriet sie plötzlich in ein Feuergefecht zwischen vier amerikanischen Panzern und einem versprengten Trupp deutscher „Volkssturm"-Männer. Neben ihr lag schon ein totes altes Ehepaar, das nicht rechtzeitig in Deckung gegangen war. Sie legte sich, zusammen mit ihrer Begleiterin, der Frau unseres holländischen Mitarbeiters Dr. E r i n g a , sofort flach in einen ausgetrockneten Graben. Die Schüsse gingen über sie hinweg. Sie reagierte mit einem Lachkrampf, den sie nach ihrer Erinnerung fast zwei Stunden lang nicht beherrschen konnte! Ich habe mehrfach beobachtet, daß

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konstitutionell ängstlich-nervöse Menschen im Luftschutzkeller keinerlei Zeichen von Angst erkennen ließen und in der Ermutigung Anderer geradezu über sich hinauswuchsen!
Ein anderes wichtiges Ergebnis meiner Untersuchungen, die von anderen Autoren bestätigt wurden, war folgendes: Im Gegensatz zu den Erfahrungen aus dem Ersten Weltkriege und bei Naturkatastrophen (Erdbeben in Messina, Valparaiso, Japan usw.) waren die akuten Schreckreaktionen auf die Bombenangriffe nur noch ausnahmsweise drastisch und polymorph. Das für die „Kriegshysteriker" des Ersten Weltkrieges so typische demonstrativaufdringliche „Schüttelzittern°, das als Ausdruck des Protestes und der Forderung nach staatlicher Entschädigung gedeutet wurde, trat ganz zurück hinter adynamisch-apathischen Versagenszuständen, schlaffen Extremitätenlähmungen und vegetativ-nervösen Funktionsstörungen. Das Erscheinungsbild hatte sich von der psychomotorischen Außen- auf die vegetative Innenseite der Ausdruckssphäre verlagert. Schlagwortartig vereinfachend sagte man: „Die Schüttelzitterer des Ersten seien die Herzund Magenneurotiker des Zweiten Weltkrieges".
Ähnliches galt für die „stillen Entwurzelungsreaktionen" bei Menschen, die aus ihrer ostdeutschen Heimat vertrieben waren: Auch hier - bei relativ seltenen abnormen Reaktionen - keine Zeichen der Auflehnung gegen das Schicksal des Verlustes von Heimat, Habe, Angehörigen, sondern meist farblose, wenig tiefgreifende und nachhaltige depressive Verstimmungen, oft mit dem resignierenden Gefühl, ein unwillkommener Eindringling und von Anderen abhängig geworden zu sein. Natürlich haben auch die ungeheuren Strapazen der Flucht und die körperliche Erschöpfung eine tiefergehende seelische Erschütterung verhindert. Ein Problem besonderer Art bildeten die Kurzschlußoder auch Bilanz-Suizide bei Männern und Frauen, die auf der Flucht vor den Russen die einzige Rettung im Tode sahen.
Ich habe versucht, den Struktur- und Stilwandel der Erlebnisreaktionen auf den Zweiten Weltkrieg als Ausdruck einer Art Unterwerfungshaltung- zu deuten, die an die Stelle der früheren aktiven Protest- und Abwehrreaktionen getreten war. Es lag nahe, hierin Entsprechungen zu verhaltenspsychologischen Beobachtungen von Konrad Lorenz zu sehen: Das Zurücktreten massiver „ergotroper", dem Kampf um Selbstbehauptung dienender „Notfallreaktionen"

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hinter „trophotropen" die Selbstpreisgabe ausdrückenden Reaktionen ließ darauf schließen, daß die neuen Reaktionsformen nicht mehr, wie im früheren Deutschland, durch unangemessene Ansprüche des Einzelnen an den Staat und die Gesellschaft (Entschädigungswünsche, Appell an das Mitgefühl) bestimmt wurden, sondern jetzt, in einem totalitären System, durch unangemessene Ansprüche des Staates an den Einzelnen (Durchhalteparolen, Einschüchterungspropaganda, Angst vor Bedrohung mit Gefängnis oder Tod durch das Regime). Man unterwarf sich einem Druck, der stärker war als aktiver Widerstand. (Inzwischen hat sich dies freilich mit der Demokratisierung im freiheitlichen Rechtsstaat und mit dem wirtschaftlichen Wohlstand geändert).
Oft schien es auch, als seien die Menschen - ich spreche von der Zivilbevölkerung durch das äußere Kriegsgeschehen, den fast täglichen oder nächtlichen Fliegeralarm, die Sorge um den Verlust von Hab und Gut innerlich härter, weniger aufwühlbar durch tieferes Leidenserleben geworden. Man wurde statt dessen gereizter, „nervöser". Es erinnerte mich an ein Wort von Georges B e r n a n o s , der den nihilistischen Monsieur Ouine von den Menschen der „Toten Gemeinde" sagen läßt: „Ihr Herz ist hart und ihre Eingeweide sind empfindsam geworden°, als eine durchaus differenzierte und sensitive Patientin bei der unerwarteten Vermißtenmeldung über ihren Vater zu mir sagte: „Wissen Sie, die tägliche Misere mit den Untermietern greift mich viel mehr an als die Nachricht vom Tod meiner Lieben!" Sie hatte auf den Kriegstod des Ehemannes und des Sohnes nur mit einer flachen, apathisch-depressiv gefärbten Verstimmung und vegetativnervösen Obererregbarkeitssymtomen reagiert. Die innere Erschütterung durch das Leid schien für sie unwesentlich, die ärgerliche Banalität des Alltages wesentlich geworden zu sein. Vielleicht deutet sich hier schon die später von Alexander M i t s c h e r I i c h analysierte „Unfähigkeit zu trauern" an, die es den Deutschen nach dem „Dritten Reich" und dem Zweiten Weltkriege verwehrt habe, die Verbrechen des Regimes und ihre Mitverantwortung „aufzuarbeiten". Wer aber den Krieg und die Jahre davor und danach selbst erlebt und erlitten hat, der weiß, daß die Massensuggestivwirkung des NSSystems, dann der Bombenterror und die Erfordernisse der unmittelbaren Existenzerhaltung und sicherung in der Notzeit nach dem Kriege einen Traurigkeit" gar nicht aufkommen ließen und damit auch eine „Krise des Gewissens" verhindert haben, von der B e r n a n o s 1943 in einer Rede in Rio de Janeiro ge

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sprochen hat. Man hatte anderes zu tun und zu bedenken, als sich reflektierend mit dem zu beschäftigen und auseinanderzusetzen, was im „Dritten Reich" geschehen war. Man wehrte sich dagegen, daß immer nur „die Deutschen" angeschuldigt wurden. „Die Anderen", die Russen, die Engländer, die Franzosen seien ja auch keine Engel gewesen und hätten reichlich Verbrechen begangen. Die ständig wiederholten Schuldzuweisungen konnten nur zu Gegenrechnungen führen und den Verdrängungsprozeß erst recht verstärken!
Die hier nur skizzierten Probleme bildeten das Thema der „Beiträge zur psychopathologischen Anthropologie des technisierten Krieges", über die ich in einer unveröffentlicht gebliebenen - Vorlesungsreihe an der Psychiatrischen Universitätsklinik Hamburg im Jahre 1953 berichtet habe. Ich verdanke ihre Ergebnisse nicht zuletzt auch meiner Doppelrolle als Erlebender und im besonderen auch mich selbstkritisch Beobachtender. Zwei Grundbefindlichkeiten des Daseins waren es, um die es hierbei ging: Die Angst und die Sorge. Beides fand in mir immer auch einen inneren Widerstand, der es verhinderte, daß ich aus der Bahn geworfen wurde: Die Hoffnung!

 

Aus meinem Tagebuch 1945 - 46

 

Viele Einzelerlebnisse aus der letzten Kriegs- und der ersten Nachkriegszeit haben sich in meinem Tagebuch 1945-46 niedergeschlagen. Einige Auszüge: Leipzig, 14. Februar 1945: Gestern nacht von Hochweitzschen aus riesigen Feuerschein über Dresden gesehen! Die ganze Stadt scheint zu brennen. Wieviel Menschen mögen verbrannt sein? (Nachtrag 1992: Das einst weltbekannte Stadtbild wurde in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 durch britische und amerikanische Bomberverbände vollständig vernichtet. Die Zerstörung (über 12000 Gebäude mit 80000 Wohnungen, Trümmerfeld auf 3 km Länge nach Osten hin) übertraf alles, was sonst deutsche Städte im z. Weltkrieg erlitten. Die Zahl der Opfer in der mit oberschlesischen Flüchtlingen überschwemmten Stadt wird bis auf 300 000 geschätzt. Am B. Mai 1945 wurde D. von der Sowjetarmee besetzt.)
21. Februar 1945: Marlis Hauß und Freund bei uns, dem Tod in Dresden entgangen. Russen nähern sich Görlitz und Guben. Kämpfe bei Braunsberg. Frau

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Nausseth aus Skaisgirren als Flüchtling eingetroffen: Wollte mit der Bahn von Zinten nach Pommern, Zug fuhr zurück, da Strecke von Russen besetzt. 2 Tage und Nächte in Königsberg im Luftschutzkeller. Zu Fuß nach Pillau. Fußwanderung auf der Nehrung nach Westen unmöglich, von Russen verhindert. Zurück nach Pillau. Von Räumbooten nicht mitgenommen, da kinderlos! Mit Hilfe von Zigaretten doch noch auf Räumboot gekommen. Wegen Sturms viermal auf hoher See nach Pillau zurück. Nach Abflauen bis Gotenhafen. Drei Tage und Nächte mit etwa 40 000 Flüchtlingen im Freien auf der Mole verbracht. Mit altem, nur 2000 Personen fassendem Dampfer als eine unter rund 14 000 Flüchtlingsfrauen und -kindern vier Tage und Nächte auf See wegen Treibminengefahr still gelegen. Dann an der Stelle vorbei, an der das „Kraft - durch Freude" (!) - Schiff "Wilhelm Gustloff" mit 10 000 Flüchtlingen untergegangen war (etwa 800 Gerettete). Von Lübeck mit Trecks nach Leipzig. Andere 70-jährige Frau auf Schlauchboot festgebunden, im Schlepptau eines mit Flüchtlingen beladenen Unterseebootes von Pillau nach Kiel. Lungenentzündung. Tod in Döbeln.
27. Februar 1945: Kürzlich Rundfunk-Reportage einer „Feierstunde" mit der in aussichtsloser Lage in der Marienburg eingeschlossenen deutschen Besatzung: Man hört die gequälte, stoßweise vorgebrachte Ansprache des Kommandeurs, dann einen dünnen Gesang der Soldaten, Absingen nationaler Lieder - ein Gongschlag beendet die gespenstische Reportage über die letzte Stunde der dem Tode geweihten Soldaten! Verfall der Ehrfurcht vor den letzten Dingen! Werner W a g n e r meint: Es sei, als ob man die Darsteller einer Tragödie auf der Bühne wirklich sterben ließe!
28. Februar 1945: Gestern schwerer Bombenangriff auf Leipzig. Hautklinik von drei Sprengbomben getroffen, Hygiene-Institut abgebrannt. Am Bahnhof Holzschuppen mit Flüchtlingsgut verbrannt. Menschen in Kellern neben uns verschüttet. In den Wehrmachtsberichten wird das unaufhaltsame Vordringen der Amerikaner von Westen und der Russen von Osten umschrieben mit den Worten: „Frontverkürzung", „Frontbegradigung", „es gelang dem Feind nicht, unsere Truppen am Beziehen neuer Widerstandslinien zu hindern". Der Ausdruck „Flüchtlinge" ist „defätistisch". Statt dessen darf nur von „Rückgeführten" oder „Evakuierten" gesprochen werden! Die drastische Kürzung der Lebensmittelzuteilung für die 73. Kartenperiode wird als „Hilfsaktion für Rückgeführte" zynisch getarnt. Magermilch heißt jetzt „entrahmte Frischmilch" usw. G o e b b e I s

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kündigt in einer vom Rundfunk übertragenen Rede abends weitere Einschränkungen und Opfer an: Es gebe nur die Alternative „Sieg oder Tod"! Er selbst würde sich „eher den Tod geben als in der Knechtschaft leben"! (was er 2 Monate später auch getan hat).
20. März 1945: Braunsberg in der Hand der Russen. Keine Nachricht von Hedchen Jagdt, von Onkel Bau, von Tante Dede (meiner Patentante). Später erfahren wir, daß sie in Cranz im Straßengraben liegend, verhungert und erfroren gefunden worden ist!
12. April 1945: Amerikanische Panzerspitzen in den Außenbezirken von Leipzig. Das „Wummern" der Front rückt näher. Kämpfe bei Markranstädt, Leutzsch und Kleinzschocher. Seit Mittag unheimliche Stille in der Stadt, nach den ständigen Fliegeralarmen und -angriffen der letzten Tage - gestern 6 mal Vollalarm! - ein geisterhafter Kontrast. Die Menschen stehen Schlange vor den Lebensmittelgeschäften. Wir haben Trinkwasser „eingeweckt" und im Keller deponiert, 23 Liegestätten darin eingerichtet. Die Gerüchte überstürzen und widersprechen sich: Leipzig soll zur freien Stadt erklärt werden, H i m m l e r und Bormann aber fordern, jede Stadt sei „bis zum Äußersten zu verteidigen". Von Verteidigungsmaßnahmen ist aber nichts zu erkennen. Jeder „deutschbewußte" Mann sei zum „Verteidigungskampf` einzuberufen. In der Emilienstraße entdecke ich drei Flintenweiber, die - ohne Flinten! - mit verkrampften Lächeln in den „Kampf` ziehen. Als W a g n e r und ich sie auslachen, meinen sie: „Wenn die Männer nicht kämpfen, müssen wir Frauen das tun ... Sie werden Ihre Klinik auch noch verlieren, wenn die Amerikaner kommen!" Vormittags noch Massenprüfung der Examenskandidaten des B. und 9. Semesters im Schnellverfahren. Ich allein 25 in zwei Stunden, W a g n e r 15. Die Prüflinge stehen herum, mit der Uhr in der Hand, und versuchen, auszurechnen, wieviel Fächer sie bis zur Eroberung der Stadt noch schaffen könnten. Abbruch weiterer Prüfungen „infolge Feindeinwirkung"! 100 Studenten wird so das Staatsexamen erlassen und die „Eignung zum Arzt" bescheinigt! Ein Kurier wird nach Dresden zur Bestätigung durch die noch amtierende Landesregierung geschickt. Ob er zurückkommt? Die Stadt voller Militärfahrzeuge Richtung Osten, also vor den Amerikanern fliehend, den Russen in die Arme laufend. Im Connewitzer Wald ein Trupp müder, gebeugt sich dahinschleppender älterer Soldaten der Waffen-SS. Armee in Auflösung. Nachmittags Begräbnis meiner Sekretärin Fräulein

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K r i e g s . Erschütternd. Nachts 12 Uhr: Wir erwarten die neuen Warnsignale: Akute Fliegergefahr oder Annäherung von Panzern oder Luftlandetruppen. Zunehmendes Geschieße. Kurzes Telephonat mit Antonia in Hochweitzschen. Sie weint. Vorerst keine Aussicht, sich wiederzusehen. „Aequam memento rebus in arduis servare mentem!" ( H o ra z ). In Gott ruhen! Ängstliche innere Unruhe, Pulsbeschleunigung, Hitzegefühl im Kopf, heiße Wangen. Nach kurzem Spaziergang nachts ein Uhr durch die Straßen ruhiger. Drohende Stille bis zum Morgen.
13. April 1945: Mit Antonia telefoniert, auf unbestimmte Zeit letzte Verbindung. Tränchen, aber tapfer. Morgens Visite in Dösen. Patienten wollen nach Hause. Ich lehne ab. Sind in der Klinik am sichersten. Dröhnen der Front. Auf der Chaussee Dösen-Borna mit Prof. B ü rg e rs Wagen „Front" abgefahren: Nur noch kleine isolierte Kampfgruppen, Volkssturm, Panzerfäuste geschultert, kleine Jungens schleppen stolz einige Panzerfäuste. Die Leute seit drei Tagen ohne Verpflegung. Rasch vier Referate für Doktorarbeiten geschrieben. Panikeinkäufe von Lebensmitteln. Amerikaner schließen Ring um die Stadt von West bis Südost. Ruhige Nacht. Nur zwei Alarme in den letzten 24 Stunden.
14. April 1945: Geschieße wird lauter. Zeitz und Halle gefallen. Amerikaner bei Schkeuditz. In Hochweitzschen Panzeralarm. Noch einmal Telephon mit Antonia. Ruhiger, ohne Tränchen. Ich erhebe Einspruch gegen Einberufung unserer Krankenpfleger zum Volkssturm. Besorge Lebensmittelvorräte für die Patienten (auf „ganz krumme Tour"!). Verwaltungsdirektor S t re I I e r über mich bürokratisch entsetzt! Abends vom Berg des Völkerschlachtdenkmals aus „Front" betrachtet: Große Feuerscheine im Nordwesten, Süden und Südosten. Nachts Fliegeralarm. Langdauerndes Motorengebrumm. Ängstliche Spannung: So kurz vor „Toresschluß" noch Terrorangriff? Gott sei Dank keine Bomben. Gut geschlafen. Gegen Morgen durch heftigere Detonationen aufgeweckt. Haus erzittert, Lampe klirrt.
15. April 1945: W a g n e r Verpflegung für Patienten geholt. Gutes Mittagessen bei Tochter und Mutter G r i e h I (Patientin). Nachmittags wieder Verpflegung für Patienten besorgt. Unsere Flintenweiber haben jetzt Gewehre, putzen sie in der Klinik Emilienstraße, in die die NSV wieder eingezogen ist. Wir protestieren schärfstens unter Berufung auf das Rote Kreuz - mit Erfolg. Wollen auf Befehl der Kreisleitung NSDAP-Schilder wieder anbringen. Wir dulden dies

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nicht! Diese Narren! Nachmittags Flak-Stellung des Volkssturms bei Wachau besichtigt. Ein Volkssturmmann sagt mir: „Uns wird niemand zu Partisanen machen. Wir schießen nicht!" Es gibt also doch noch einige Vernünftige. Wirtschaftsgebäude des Betriebes „NSAG" in die Luft gesprengt. Direktoren und Luftschutzleute tot. Generaldirektor Budin mit Frau und Auto nicht aufzufinden. Suizid? Ausland? War vor kurzem zu H i t I e r ins Führerhauptquartier gefahren, um gegen den Stadtkommandanten v. Z i e g e s a r zu protestieren, weil er die Stadt den Amerikanern übergeben wolle! Abends keine Telefonverbindung mit Antonia mehr. Bin sehr traurig.
16. April 1945: Plötzlich doch noch Telefon in der Frühe auf schwierigen Schleichwegen: Amerikaner nähern sich Hochweitzschen. Macht sich Sorgen, weil Leipzig unter Artilleriebeschuss liegen soll.
17. April 1945: 3 Uhr 30 morgens: Ich sitze mit meinen Patienten im Luftschutzkeller der Klinik in Dösen. Panzer-Alarm! Sternklare Nacht. Bezaubernder Vorfrühlingsduft in der Luft, als ich einen Augenblick hinausgehe. Im Keller ertönt aus einem Radioapparat das gleichmäßige Klopfen des Drahtfunks, aus dem anderen singt Elfie M a y e r h o f e r mit schmelzender Stimme Chansons. Ich beruhige die etwas unruhig gewordenen Patienten: Panzeralarm sei im Vergleich mit Fliegeralarm fast harmlos, geradezu eine Wohltat! Sie lachen. Gegen 5 Uhr morgens kurzer Schlaf. Stärkeres Artilleriefeuer. Mit dem Fahrrad zum Rentamt der Universität, Gehalt für Mai abgeholt. Die meisten Beamten nicht mehr zum Dienst erschienen. Zum Volkssturm im Rathaus, um den Pfleger Schubert freizubekommen, was mit vielen Schwierigkeiten gelingt. Die bürokratisierte Katastrophe! Papierkrieg. Völliges Durcheinander. An den Volkssturm werden Maschinenpistolen, Maschinengewehre, Karabiner, Munition verteilt. Die Empfänger sehen nicht sehr kriegslustig aus. Nachmittags Lebensmittel nach Dösen geschafft. Herrlich-warmer Tag. Mit W a g n e r in der Sonne gelegen. Amerikanischen Flugzeugbetrieb am Himmel betrachtet. Große Brände um Leipzig. Abends bei Frau C a r r i e r e : „MULINA" (Musik, Literatur, Naturwissenschaften), anregende Diskussion. Nachts schweres Gewitter. Donnerschläge von Artilleriebeschuss schwer zu unterscheiden. Himmel voller Blitze und Feuerschein. Im Garten blühende Kirschbäume. Nach Aufhören des Gewitters

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schweres Artilleriefeuer. Schwester Milda fragt, ob die Patienten in den Keller sollen. Nein! Erst bei Panzeralarm!
18. April 1945: Wieder in Dösen geschlafen. Durch Artillerie- und Maschinengewehrfeuer nicht weit von uns geweckt. Amerikaner auf dem Lindauer Marktplatz, in Großzschocher und am Frankfurter Tor. Oberbürgermeister F r e y b e r g soll sich erschossen oder vergiftet haben. Die SS habe mit Plünderungen begonnen. Stadtkommandant habe sich mit seinem Stab und jungen Waffen-SS-Soldaten im Völkerschlachtdenkmal verschanzt. Frau T h i e r b a c h , unsere liebe, warmherzige Nachbarin in der Störmthalerstraße 5, die nahe am Völkerschlachtdenkmal liegt, teilt telephonisch mit, die Bewohner unseres Hauses und der Umgebung seien in größter Aufregung, weil mit Artilleriebeschuß auf das Denkmal gerechnet werden müsse, was dann auch geschieht. Volkssturm aufgelöst und in „Katastrophen-Einsatz" umgetauft. (Mehr Katastrophe als Einsatz!) Mittags MG- und Artillerieschießerei. Gegen 13 Uhr 30 gehe ich vor das Hauptgebäude des Dösener Klinikgeländes, links hinter einer Krankenabteilung ein kleiner deutscher „Kampf"-Trupp in Stellung, von rechts her kommt ein amerikanischer Spähtrupp auf mich zu: Zwei Mann mit Maschinenpistolen. Als ich zurückgehen will, sehe ich plötzlich einen baumlangen „Ami" vor mir. Er hält mir die Maschinenpistole vor den Bauch und fragt ruhig: „Do you speak English?" Ich bringe ihn zu Dozent Dr. M a t t h e s , den stellvertretenden, politisch nicht belasteten Ärztlichen Direktor, Sohn des großen Internisten Geheimrat M., meines Königsberger Lehrers, später selbst Ordinarius für Innere Medizin in Heidelberg. Wir zeigen dem Soldaten auf seiner Karte den Krankenhauskomplex, der dort genau eingezeichnet ist, und weisen auf die Infektionsabteilung mit Typhus, Diphtherie- usw. kranken hin, vor der Amerikaner wie besonders auch Russen zurückzuschrecken pflegen. Ein polnischer Arzt, Dr. A I t e r , macht sich zigarettenrauchend an den amerikanischen Spähtrupp heran. Er erweist sich später als gefährlicher Denunziant. Als ich danach mit M a t t h e s und zwei anderen Chefärzten auf die Straße gehe, wird von links her geschossen - von Deutschen! Wir befinden uns also zwischen den „Fronten" und springen zurück ins Haus. Dann lebhaftes Geschieße von drei Seiten direkt um uns herum, am Nachmittag zunehmend, sodaß wir die Kranken in den Keller bringen müssen. Schweres und mittleres Artilleriefeuer, Granatwerfer, Maschinenpistolen usw.

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Die Scheiben klirren, die Mauern dröhnen. Keine Spur von Angst! Als ich mit Schwester Milda vor unsere c 'i Krankenabteilungen gehe, knallt es dicht hinter uns an die Mauer. Schleunigst zurück ins Haus. Vom oberen Stockwerk sehen wir über Stötteritz, rechts von unserer Störmthalerstraße, ein Riesenfeuer. 10 Minuten lang schwere Artilleriesalven auf Stötteritz. Neben dem Völkerschlachtdenkmal steigt große, weiße Rauchwolke auf. Vor uns, auf dem Rapsfeld, kleines deutsches Widerstandsnest, das mit Maschinengewehr- und Granatwerferfeuer beschossen wird. Die Amerikaner schießen von den Siedlungshäusern aus, in denen sie sich festgesetzt haben. Plötzlich lautes Rattern, dolles Geknalle: Etwa 20 amerikanische Panzer rollen auf der Bornauer Chaussee in die Stadt. Nach 10 Minuten Ruhe Granatwerferfeuer ganz aus der Nähe. Krankenhausgelände bisher nicht getroffen. Nachmittags hält Rotes-Kreuz-Auto bei uns: Fenster von MG-Garbe durchschossen, innen drei tote Frauen, 2 Bombenverletzte, eine Krankenschwester. Der Wagen war sehr schlecht gekennzeichnet, wurde für ein Militärfahrzeug gehalten und von einem Balkon aus beschossen!
Wegen des Artilleriebeschusses auf das in der Nähe unserer Wohnung stehende Völkerschlachtdenkmal hole ich die Bewohner des Hauses Störmthalerstraße 5 nach Dösen und bringe sie in dem dortigen Luftschutzkeller unter. Nachts kommt Frau C a r r i e re zu uns : Ein 21-jähriger deutscher Leutnant, Leiter einer„ Befehlsstelle" (10 Mann) hinter dem Krankenhaus, berichte, seine Einheit, vom Volkssturm den Amerikanern verraten, habe sich aufgelöst. Sein Bataillonskommandeur habe ihm freie Hand gelassen, ob er sich erschießen oder Zivilkleider anziehen solle! Er bitte mich um Rat! (Wir hatten uns in der Nacht zuvor in der „MULINA" kennen gelernt). Ich lasse ihm sagen, er solle beides nicht tun, sondern die Uniform anbehalten und sich gefangen nehmen lassen. Das war der gleiche junge Mann, der uns noch gestern seinen „unerschütterlichen Glauben an den Führer" verkündet und die Katastrophe als „Folge von Verrat und Sabotage" bezeichnet hatte! Meine Gegenargumente, so meinte Frau C a r r i e r e , hätten ihn etwas umgestimmt.
19. April 1945: Morgens ungewohnt ruhig. In der Innenstadt kein Widerstand mehr. Besatzung des Rathauses und Reichsgerichtes ausgeschaltet, viele Hitler-Jungen gefallen. Nur im Völkerschlachtdenkmal sitzt noch der Stadt-Kommandant mit 60 Fahnenjunkern und ergibt sich nicht. Wir beobachten von Dösen aus die Einschläge der schweren amerikanischen Artillerie in das Denk

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mal. Keine weiße Fahne zeigt sich. Sturmangriff der amerikanischen Infanterie. Die Bewohner unseres Viertels protestieren beim Polizeipräsidenten gegen drohende Beschießung der Wohnhäuser - Amerikanischer Kommandant sagt zu, die Wohnhäuser nach Möglichkeit zu verschonen. Salvenfeuer auf das Denkmal. Gegen Abend endlich Ruhe. Anruf Frau Gertrud B o n i t z e r , getreue, hilfsbereite jüdische Patientin: „Die Russen bereits in Dresden!" Ich entschließe mich, Antonia, Vera und deren Kinder Juliane und Olaf morgen hierher zu holen. 20. April 1945: Besatzung des Völkerschlachtdenkmals hat sich ergeben. Gefahr für* unser Wohnviertel vorüber. Die von mir in Dösen einquartierten Hausbewohner ziehen unter vielen Dankesbezeugungen wieder ab, die alte Mutter Nicolai in einem Handwagen. Professor Max B ü rg e r , Direktor der Medizinischen Universitätsklinik, leiht mir seinen alten Mercedes, den ich mit RotKreuz-Fahne auf dem Dach kennzeichne. Außerdem Ermächtigung Wagners , unsere Patienten in Hochweitzschen zu besuchen und deren ärztliche Versorgung zu überwachen. Eine junge Amerikanerin, Frau eines Volontärarztes, will mich als Dolmetscherin begleiten, um 9 Uhr zur Stelle sein. Sie kommt nicht. Der Wagen springt nicht an. Ein Paralysekranker Patient, Autoschlosser, versucht, ihn in Gang zu setzen vergeblich! Ein Rot-Kreuz-Chauffeur findet die Ursache: Vergaser verstopft, Zündkerzen verrußt, Benzinhebel abgebrochen (wahrscheinlich gewaltsam!). Beim Hantieren fließt Brennstoff im Strahl aus dem Zuleitungsrohr. Die Stunden vergehen. Angst, zu spät zu kommen. Schließlich kommt alles doch noch in Ordnung. Auch die Amerikanerin erscheint im letzten Augenblick. Zunächst geht es gut. Zwei amerikanische Kontrollen glatt passiert. In Grethen werden wir von der Military Police nicht weitergelassen, sondern nach Bad Lausick zur Kommandantur geschickt. Peinliches Verhör. Langes Warten. Wir werden als Spione verdächtigt. Denn wir befinden uns im Kampfgebiet zwischen US- und deutschen Truppen! Ich werde von der Amerikanerin getrennt, in ein WC eingeschlossen. Ein junger deutschsprechender Soldat holländischer Herkunft befragt mich auf Herz und Nieren: Parteizugehörigkeit, Mitglieds-Nummer, wie lange Beitrag gezahlt, Konfession, Beziehung zu ausländischen Ärzten (z. B. zu meinem holländischen Kollegen E r i n g a ) usw., usw., durchmustert meine Brieftasche mit peinlicher Genauigkeit und nimmt sie an sich. Sie enthielt u.a. einen Brief unserer lieben Freundin Hedwig J a g d t mit christlich begründeten kritischen Äußerungen zum NS-System.

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Sorgenvoll-ängstliches Warten allein im Klosett. Spionageverdacht im Kampfgebiet kann zu standrechtlicher Erschießung führen! Nach über einer Stunde öffnet sich die Tür und ein Captain fragt, nicht unfreundlich: „How do you do?" Nach einer weiteren Viertelstunde Erlösung: „You are free!" Hedchens Brief hatte mich gerettet. Aber einen Passierschein nach Hochweitzschen gibt es nicht. Wir müssen zurück nach Leipzig. Händeschütteln. „Good bye!" Start. Rettungsmission für Antonia, Vera und die Kinder gescheitert. Professor Richard Arved P f e i f f e r , bedeutender Hirnanatom, Entdecker der Angiostruktur des Gehirns, später Interimsnachfolger B o s t r o e m s , kommt uns aus seinem Lausicker Hause entgegen und warnt uns vor der Weiterfahrt, weil im Colditzer Wald noch geschossen werde. Wir befinden uns in der vordersten Kampfzone und begegnen massenhaft US-Panzern, Sturmgeschützen und anderen Kriegsfahrzeugen. Zwei Wagen der Military Police fahren hinter uns her, um zu kontrollieren, ob wir tatsächlich nach Leipzig zurückfahren! Einer der Wagen überholt und stoppt uns, stellt fest, daß wir der Mercedes seien, der von der Kommandantur zurückgeschickt wurde. In Dösen angekommen: Großes Erstaunen. Wagners erste Worte: „Also nur für 60 Kilometer Benzin verfahren
21. April 1945: In der Stadt die ersten Maueranschläge: „Alle Parteigenossen, SA- und SSLeute, Wehrmachtsangehörige, Volkssturmmänner haben sich umgehend bei der Kommandantur zu melden. Ausgehzeit von 8 - 10 und 14 - 16 Uhr, ab morgen von 7 - 18 Uhr (Belohnung für diszipliniertes Verhalten der Bevölkerung!). Große Sorgen um Antonia. Zweifel, ob ich als ehemaliger „Pg" einen Passierschein bekomme. Daß ich kein „Nazi" war, wird man mir ohne Gewährsmänner nicht glauben. Kummervoller Abend. Frau T h i e r b a c h tröstet mich mit etwas Kognak und rheinischem Humor.
22. April 1945: Morgens zu W a g n e r . Schreckensnachricht: Die Amerikaner werden Leipzig verlassen und die Russen sollen kommen! Hoffentlich versucht Antonia nicht, vor den Russen zu fliehen. Es wäre Wahnsinn, sich jetzt auf die Landstraße zu begeben und der Gefahr auszusetzen, von Ausländern, die jetzt die Wege bevölkern, angefallen und beraubt zu werden. Im Krankenhaus ist sie noch am ehesten geschützt. Ich selbst kann ihr nicht helfen, weil ich bei meinen Kranken bleiben muß und keine erneute Festnahme durch die Amerikaner riskieren möchte. Aber ich kämpfe mit einem Konflikt zwischen der ärztlichen

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Pflicht in der Klinik und dem Wunsche, Antonia und Vera mit den Kindern vor den Russen zu retten. Mir bleibt keine Wahl, nur das Gebet und die Hoffnung!
Sonntag, 22. April 1945: Düsterer Tag voller ernster Sorgen und nagenden Kummers. Was sind Befürchtungen, Hoffnungen, Zweifel in dem Strudel der Geschehnisse, der uns Alle mitreißt ins Nichts des Ungewissen! „Es schwinden, es fallen Die leidenden Menschen Blindlings von einer Stunde zur andern, Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen, Jahrlang ins Ungewisse hinab." ( H ö I d e r I i n , Hyperions Schicksalslied).
23. April 1945: Stürmischer, eiskalter, regenreicher Tag. Morgens nach Dösen. Ohne Passierschein wird niemand aus dem Stadtinneren gelassen. Wie sollen wir Passierscheine für die Hunderten beschaffen, die als Personal, Kranke, Besucher aus der Stadt nach Dösen müssen oder wollen? Wasserleitung und Telefon sind abgestellt worden. Wir haben Reservewasser in einer Badewanne der Station gesammelt. Ich fahre mit dem Rad nach Stötteritz. Völkerschlachtdenkmal nur stark angekratzt, ein Halbbogen durchschossen. Die Besatzung soll zum Teil durch die Explosionshitze in der Krypta verbrannt sein, der Kommandant sich erschossen haben. Gerüchte? Auf den Straßen heruntergerissene Straßenbahndrähte, ausgebrannte Panzer und LKW, umgestürzte Lichtmasten, der Boden voller Glassplitter, Geschoßhülsen, Steinsplitter. War das die „Völkerschlacht bei Leipzig" 1945? Professor Ke I I e r verhaftet, wahrscheinlich durch Denunziation. M a t t h e s verhandelt mit dem Government wegen der Passagierscheine. Dr. Holm hat „Stubenarrest" in der Hautklinik, ein Mann, der geschmeidige Anpassung an das jeweilige Regime mit rücksichtslosem Egoismus verband. Am Military Government dringe ich durch lange Menschenschlangen bis zu Captain A I e x a n d e r vor und erhalte von ihm ohne Umschweife einen Passierschein. Die Amerikaner verhalten sich höflich und sachlich, bewegen sich mit ruhiger, unbekümmerter Sicherheit, etwas schlaksig und Gummi kauend. Alexander deutet an, daß alle Wehrmachtsangehörigen in ein Lager kommen sollen, also auch Wagner , der bis zuletzt noch Uniform getragen hat. Zum Government gehört eine Abteilung „Religion and Education", mit einem Probst und zwei Kaplänen besetzt. Man will uns Deutsche fromm machen und erziehen! Beides könnten wir brauchen!
24. April 1945: Noch mehrstündiges Artilleriefeuer, nicht weit entfernt. Ich wache jede Nacht schon gegen 4 Uhr morgens auf durch sorgenvolle Gedanken. Am

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Tage bin ich durch die ständige affektive Spannung so müde, daß ich bisweilen auf einem Stuhl sitzend einschlafe. Wagner empfängt mich morgens mit der Schreckensnachricht, die Russen seien bereits in Döbeln, also in unmittelbarer Nähe von Hochweitzschen. Gertrud B o n i t z e r , meine jüdische Patientin, der ich über die gefährliche Zeit hinweghelfen konnte, hat es von zuverlässigen Informanten erfahren. Ich kann nur hoffen, daß Antonia, Vera und die Kinder noch rechtzeitig fliehen!
Das „Nationalkomitee Freies Deutschland" macht sich mehr und mehr bemerkbar: Drei seiner Vertreter wollen Räume unserer Poliklinik in der Emilienstraße beschlagnahmen, wobei sie von dem früheren (defekt-paralytischen!) Heizer des Hauses unterstützt werden, indem er Möbel abholen will! Er stößt wilde Drohungen aus, als Wagner ihn in ziemlich schroffem Tone daran zu hindern versucht.
Der Kreisamtsleiter der NSV, Harzer , hat sich gestern erschossen. Reichsgerichtspräsident B u m k e , Bruder des Münchener Psychiatrie„Papstes" Oswald B., hat sich erschossen!
Täglich werden Wagenladungen voller Nazis abtransportiert. In Thekla haben die Amerikaner ein Konzentrationslager entdeckt, das kurz vor dem Einmarsch von den Bewachern in Brand gesteckt worden war. Die Insassen hatten sich an den Ausgängen zusammengedrängt und versucht, über die Stacheldrahtzäune ins Freie zu klettern. Sie sind mit wenigen Ausnahmen verbrannt. Dr. K a s t e I e i n e r , unser klinischer Mitarbeiter, hat die Leichen gesehen. Amerikanische Posten standen davor und sagten zu ihm: „Deutsche Kultur!" Reporter photographierten die Stätte des Grauens.
Abends bei W a g n e r mit einem Schauspieler von D o r s c h e und zwei jungen Mädchen, von denen eines dessen Freundin ist. Gute Gespräche, etwas Ablenkung von dem ständigen Grübeln. Um 22 Uhr Rückfahrt mit Fahrrad, viermal von Militärpolizei kontrolliert, beim fünften Mal aus dem Dunkel eines Gebüschs: „Stop!" Eine Pistole wird mir vor den Leib gehalten, mit der Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet. Mein Passierschein rettet mich vor der Arretierung. Werde nicht mehr nachts herumfahren.
Die einsamen Abende in meinem Zimmer sind schlimm.
25. April 1945: Will mich beim Bürgermeisteramt melden. Es gibt aber keine Meldestelle. Statt dessen ein Auskunftsbüro des „Nationalkomitees Freies

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Deutschland". Plakate mit der Überschrift „Katern"! Im Bahnhofsgebäude Feuer von der amerikanischen Feuerwehr gelöscht.
Auf dem Bahnhofsplatz Nazis, die von der Militärpolizei auf Lastkraftwagen „verladen" werden. Menschen stehen herum und äußern ihre Meinung. Auf den Straßen überwiegend Ausländer, meist besser gekleidet als die verhärmten, abgerissenen Deutschen mit ihren armseligen Handwägelchen. Dazwischen schon einige eleganter gekleidete Frauen (mit Hüten!), etwas ganz Neues! Seit langem habe ich nicht so viele Rouge-Lippen gesehen wie heute! Das Wort „Ami-Liebchen" beginnt zu kursieren. Geschäfte sind noch geschlossen. Straßenbahngeleise und -drähte werden repariert.
Es heißt, Leipzig bekäme englische Besatzung, die Gegend um Döbeln bleibe russisch. Das Bewußtsein, aus Leipzig nicht herauskommen und Antonia, Vera und den Kindern nicht helfen zu können, ist bedrückend. Dazu der Mangel an Arbeit. Mit Tätigkeit wäre alles leichter zu ertragen. Ich sitze stundenlang in meinem eiskalten Dienstzimmer in der Emilienstraße, zittere vor äußerem und innerem Frösteln, nicke ein paarmal vor Müdigkeit ein, zermartere meinen Kopf, frage und bete, umschlinge Antonia mit meinen Wünschen und meiner Liebe, male mir das Schlimmste aus, was ihr und Verachen unter den Russen passieren könnte und werde das scheinbar banale Wort: „Der Mensch denkt und Gott lenkt" nicht los. Vielleicht lenkt Gott sogar richtiger und besser als wir denken? Hoffnung ist stärker als Angst.
Kaste !einer spendiert Kognak und Suppe. Gespräch mit ihm lenkt ab. In Dösen liegen über 50 Leichen, die nicht weggeschafft werden können.
Einsamer Abend zu Hause. Ich lese etwas von Maxim G o r k i : „Verlorene Leute". Düstere Lektüre, wenig geeignet, mein Herz zu erhellen, aber literarisch meisterhaft. Russischer Maupassant ? Wohl schiefer Vergleich. Dann S c h o p e n h a u e r : „Parenäsen und Maximen". Stärkend und tröstend. „Alle Beschränkung beglückt" (Seite 466). Tut sie das wirklich? Weiter: „Ein Hauptstudium der Jugend sollte sein, die Einsamkeit ertragen zu lernen, weil sie eine Quelle des Glückes, der Gemütsruhe ist." (Seite 472 meiner Reclam-Ausgabe von 1891). Ich kann nicht gerade sagen, daß meine erzwungene Einsamkeit eine Quelle des Glückes und der Gemütsruhe ist. Aber Schopenhauer sieht in den Negativa des Daseins immer das Positive, und damit kann er in Zeiten innerer Not ein guter Helfer sein. „Heiterer Pessimismus"?

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26. April 1945: Ein Tag ist schlimmer als der andere. Die Ereignisse jagen, die Gerüchte überstürzen sich. Sie werfen mich von Sorge zu Sorge. Die Sorge wird durch die erzwungene Untätigkeit zum inneren Schmerz, der mir bis zum Halse hochsteigt, und manchmal glaube ich ihn nicht ertragen zu können. Das ist natürlich übertrieben. Denn jede Welle des Schmerzes flutet wieder ab und geht in ein Wellental der Hoffnung und Gelassenheit über. Ich spüre es dann leiblich, wie mir leichter um die Brust wird und das drückende Gefühl im Halse schwindet. Und doch kommen gefährliche Zweifel auf: Wird Gott uns im Stich lassen? Er kann es doch nicht zulassen, daß wir für immer getrennt werden. Er hat uns doch die Liebe geschenkt, die uns verbindet! Er wird doch dieses Geschenk nicht wieder „zurücknehmen" können? War es nur eine Leihgabe? Törichte, naive Gedanken. Unzulässige Personifizierungen des Gottesbegriffs! Alles, was geschieht, geschieht aus Notwendigkeit und hat einen Sinn - ein S c h o p e n h a u e r scher Gedanke, der beruhigt und klärt.
Ich habe kein Recht, mich gegen Gott aufzulehnen! Er hat mir in meinem bisherigen Leben mehr an Schönem und Gutem - weit mehr! - als an Häßlichem und Schlechtem geschenkt, und er hat mir in Zeiten der Not immer noch geholfen. Oder ist vielleicht das Maß seiner Gnade nun erfüllt? Nein, ich kann, ich darf, ich will es nicht glauben. Ich würde mich sonst verloren geben. Dazu habe ich keinen Grund und kein Recht!
Folgende Situation: K a s t e I e i n e r berichtet, der Kommandant von Leipzig habe gesagt: „lt is possible, that Russian Soldiers come to Leipzig!" Andere Amerikaner sogar von „It is probable"! Zwei Krankenschwestern haben sich von Hochweitzschen mit dem Fahrrad nach hier durchgeschlagen und berichten, es sei noch nicht von Russen, aber auch nicht von Amerikanern besetzt, also Niemandsland. Am liebsten würde ich versuchen, mit dem Rad nach H. durchzukommen, um Antonia, Vera und die Kinder herauszuholen. Aber damit würde ich nur riskieren, wieder festgesetzt und als Spion verdächtigt zu werden. Ich male mir aus, wie Antonia und Vera leiden vor Sorge und Angst vor den Russen! Aber was sagt M a r c A u r e I in den „Selbstbetrachtungen"? „Bei den meisten schmerzlichen Empfindungen möge dich der Ausspruch E p i k u r s stärken, daß sie ebensowenig unerträglich als ewig dauernd sind, wofern du sie nicht durch Einbildung vergrößerst und bedenkst, das alles seine Grenzen hat!". Bei ruhiger Überlegung sage ich mir auch, wenn die Russen Leipzig besetzen soll

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ten, bestände vielleicht noch eher Aussicht, sich wiederzusehen als wenn es amerikanisch bliebe. Wir sitzen hier ausgerechnet auf Messers Schneide. Die Schneide ist das Flüßchen Mulde, das offenbar als Demarkationslinie zwischen den Russen und den Amerikanern vorgesehen ist. Aber warum überlassen die Amerikaner den Teil östlich der Mulde den Russen? Der Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion scheint sich zuzuspitzen. Wir merken es daran, daß das kommunistisch orientierte „Nationalkomitee Freies Deutschland" heute von den Amerikanern aufgelöst worden ist! Ein Lautsprecherwagen hatte zuvor vor dem Eintritt in dieses Komitee gewarnt! Im Rundfunk ist zu erfahren, daß heute die Tagung in San Francisco beginnt und Präsident T r u m a n in seiner Eröffnungsansprache sehr deutliche Worte an die „aggressiven Absichten" eines nicht näher genannten Staates gerichtet habe! Einige Amerikaner sprechen hier schon ganz offen aus, daß es bald zum Kriege zwischen den beiden Großmächten kommen werde!
Professor V o n k e n n e I (Ordinarius für Dermatologie in Leipzig), Dozent Dr. A l b e r s (Gynäkologe an der hiesigen Frauenklinik) und Dr. Holm (Städtischer Gesundheitsdezernent) sind heute verhaftet worden. Sie waren SS-Leute!
Ruhiger Abendspaziergang mit W a g n e r im Connewitzer Wald. Wie schön könnte die Welt sein, wenn dieses Grauen nicht wäre!
Ich graue mich vor jedem neuen Tag, der Schlimmeres bringen könnte als der vergangene. Aber es muß durchgestanden werden!
S c h o p e n h a u e r : "Solange der Ausgang einer gefährlichen Sache nur noch zweifelhaft ist, solange nur noch die Möglichkeit, daß er ein glücklicher werde, vorhanden ist, darf an kein Zagen gedacht werden, sondern bloß an Widerstand!" „Si fractus illabatur orbis, impavidum ferient ruinae!"
Tiefes Gebet für Antonia, Vera, die Kinder, die Eltern, Adalbert, Hedchen, für Alle, die ich liebe, aber auch für Alle, die in Not sind.
27. April 1945: „... Immerdar durch Tränen sehe ich der Sonne liebes Licht ..." Dieser M ö r i k e -Vers schwirrt mir ebenso zwanghaft im Kopf herum wie die Arie des Orpheus von G I u c k : „Ach, ich habe sie verloren ...° Vormittags in Dösen bei Frau C a r r i e r e : Die Russen seien bei Riesa über die Eibe gegangen! Ich bin sicher: Die Zukunft Deutschlands östlich der Elbe wird von den Russen, nicht von den Amerikaner bestimmt werden! Für diese ist der Krieg

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militärisch zu Ende. Für jene geht er ideologisch weiter! Ich stehe mit dieser Ansicht ziemlich allein. Die Meisten klammern sich an die Hoffnung, daß die Amerikaner nicht preisgeben werden, was sie unter Blutopfern erworben haben. Aber die Russen haben weit größere Opfer gebracht, und sie kämpfen für eine aggressive Ideologie, den Weltkommunismus, die Amerikaner für eine defensive Idee, die freiheitliche Demokratie. Nachmittag bei Mutter und Tochter G r i e h I . Eine auslandsdeutsche Dolmetscherin: Die Russen werden kommen. Die Amerikaner seien sich klar darüber, daß eine Auseinandersetzung zwischen ihnen und der Sowjetunion nicht ausbleiben wird. Die Frage sei nur: Wann und wie? Gespräch über das Problem der Schuld.
28. April 1945: Fräulein S c h n e i d e r will versuchen, nach Hochweitzschen durchzukommen. Brief an Antonia mitgegeben. Dr. Halter soll Passierschein für das Gebiet zwischen Mulde und Saale erhalten haben. Hoffnungsstrahl! Sofort zum Government: Colonel G o d m a n : „Sorry! Hochweitzschen no American region!"
Der Mensch denkt und der Krieg lenkt!
In der Klinik Emilienstraße aus einem Krankenzimmer monotones Jammern einer Frauenstimme: „Meine Toni, meine Toni, meine Toni ! ..." Es ist eine erregte Schizophrene, die auf den Transport nach Dösen wartet. Schwer erträglich für mich!
29. April 1945: In der Thomaskirche „Gott legt uns eine Last auf; aber er hilft uns auch." (68. Psalm). Eine depressive Patientin, der ich in der Kirche zufällig begegne und meine Sorgen anvertraue, tröstet und beruhigt mich!! Spaziergang allein im Johannapark. Sehr kalt. Äußerlich und innerlich Untertemperatur. Sorgenwellen fluten auf und wieder ab. Abends bei Werner H a u ß . Auch ein Anglophiler, der nicht an die Expansion der Russen glauben will. Dr. Holm im Konzentrationslager Buchenwald, von dessen Existenz wir jetzt erst erfahren. Harte, aber wohl gerechte Strafe. Professor K e I I e r abtransportiert. Amerikaner gegen SS-Leute unnachgiebig, sonst eher großzügig. .
Brief von Antonia, beruhigend. Ich versuche, mich auf ein neues seelisches Gleichgewicht einzustellen. Helfende Kräfte: Hoffnung gegen Angst, Liebe gegen Haß, Glaube gegen Resignation. Meister Eckart : „Alles, was man sonst tun könnte, ist nicht so zuträglich wie ein großes Gottvertrauen. Keinen, der große Zuversicht zu ihm gewann, verließ er je, er wirkte große Dinge mit

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ihm ... dieses Vertrauen kommt von Minne (Liebe). Denn Minne hat nicht allein Vertrauen, sondern auch ein wahres Wissen und eine unzweifelhafte Sicherheit!"
Aber gebührt denen, deren Verbrechen jetzt ans Tageslicht kommen, nicht das Gegenteil von „Minne°! Soll man sie nicht hassen? Nein, sie sind des Hasses nicht wert. Sie verdienen nur Verachtung! Auch H i t I e r selbst!
30. April 1945: Eiskalter, stürmischer Tag. Vormittags in Dösen. Überall werden Wohnungen beschlagnahmt für die neue Besatzungstruppe. Ich hänge eine Rot-Kreuz-Fahne aus unserem Wohnzimmerfenster. Hoffentlich hilft sie dem ganzen Haus. W a g n e r bringt gute Nachricht: Der amerikanische Kommandant habe dem Bürgermeister mitgeteilt, die Amerikaner blieben in Leipzig, das Gebiet zwischen Elbe und Mulde werden neutrale Zone! Das wäre eine Lösung, die Aussicht auf eine Verbindung mit Hochweitzschen bietet. Kurzes Aufatmen, tiefes Luftholen.
Gegen das Verhalten der Amerikaner ist nichts einzuwenden. Sie sind bemüht, das Leben wieder in Gang zu bringen, organisieren großzügig, mit leichter Hand und einem Mindestaufwand an Bürokratismus. Wir haben sogar Gas! Gestern erstes Vollbad im Hause nach langer Zeit!
Nachmittags große Aufregung: Maria T h i e r b a c h , die Tochter unserer lieben Nachbarin, stürzt herein: „Herr Dr. ! Ihre Frau ist zu Fuß mit einem Handwagen auf dem Wege nach hier! Lilo S c h n e i d e r hat es erzählt." Wenn das wahr wäre! Erregende Mischung von Freude und Besorgnis. Zu Fuß 60 Kilometer, einen Wagen ziehend! Bei eiskaltem Sturm! Allein? Ohne Vera und die Kinder? Hin zu Frau S c h n e i d e r ! Aus dem Knäuel widersprüchlicher Angaben entwirre ich folgendes: Antonia ist mit Vera, den Kindern und Gretchen nicht durchgekommen. Sie mußten zurück nach H.! Ob das stimmt? Wird sie versucht haben, ein zweites Mal zu fliehen? Unruhevoller Abend. Einsam. Immer wieder „Der Mond ist aufgegangen ..." von Mathias C I a u d i u s im stillen aufgesagt.
Abgelenkt durch Beispiele für Mangel an Gesinnung, Mut und Würde; Wohnungsnachbar von Frau B o n i t z e r , SS-Führer, der ihr mit Anzeige bei der Gestapo gedroht hatte, läßt als Erster in seiner Straße beim Einzug der Amerikaner die weiße Fahne aus dem Fenster hängen! Ein Bekannter der Frau G r i e h l , schwerreicher Geschäftsmann, Nazi und Kriegsschieber, tarnt sich

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mit schäbigem Anzug, Ganoven-Mütze und Shag-Pfeife! Junger Arzt (Hörer meiner Vorlesungen gewesen), NS-Studentenführer, tarnt sich als „Ausländer": Ich treffe ihn mit Baskenmütze, Bärtchen, sieht wie ein Franzose aus. Beim Polizeichef des Military Government ein gut gekleideter Deutscher, gebildeter Deutscher ergeht sich in wiederholten, tiefen Bücklingen vor dem Polizeichef und mit mehrmaligem „Thank you very much!"
1. Mai 1945: H i t I e r ist tot. „Eine Nachricht, kein Ereignis!" hätte T a I I e yr a n d gesagt. D ö n i t z Nachfolger. Kapituliert vor USA und England. Will angeblich gegen Rußland weiterkämpfen! Wahnsinn!
Die Kette der Aufregungen und Sorgen wird immer länger, reißt nicht ab. Nachmittags bei Prof. B a e n s c h (Röntgenologe), der Antonia vor drei Tagen in Colditz gesprochen hat. Also muß sie doch Hochweitzschen verlassen haben! Hoffnungsstrahl! Vera soll in Zschadraß geblieben sein. Hoffentlich wurden Beide nicht getrennt! Haben sie versucht, nach Leipzig durchzukommen? Sind sie unterwegs festgehalten worden? Ungewißheit schwer zu ertragen!"
2. Mai 1945: Früh zu Prof. Bürger . Dort viele Leute versammelt, alle in Sorge um ihre Frauen. Prof. M a s c h k e fährt mit Frau Dr. U h I e m a n n nach Colditz, will mich mitnehmen. Ich wage es nicht, weil ich nicht weiß, ob Antonia noch dort ist. Gebe Frau Dr. Uhlemann Brief mit Fluchtplan (Brücke bei Sermuth!) und Lebensmitteln für meine lieben Flüchtlinge mit.
Kaltes, stürmisches Regenwetter. Abends einsamer Spaziergang. Mit Prof. S c h r ö d e r (Ordinarius für Gynäkologie) und Frau B o n i t z e r wegen Colditz und Hochweitzschen telefoniert. Sch. Hat alles versucht, um seine Patientinnen aus Hochweitzschen zu evakuieren - erfolglos. Schwedischer Generalkonsul will helfen. Tschechischer Freund Frau B o n i t z e r s will übermorgen nach Colditz fahren und Antonia suchen. Anruf I m h ä u s e r (Dozent an der Orthopädischen Universitätsklinik) : Sein Chef Prof. S c h e d e mit Frau und Kind I m h ä u s e r aus Hochweitzschen in Leipzig eingetroffen, auch sein Mitassistent Dr. M e i s , der noch mit Vera in Hochweitzschen gesprochen hat. Er will mich heute abend anläuten. Unruhe und Ungeduld.
Halb zwölf nachts Anruf Me i s : Er habe vorgestern „meine Schwägerin" in Hochweitzschen gesprochen. Das kann nur Lottchen C o n n o r gewesen sein. Also ist Vera nicht nach H. zurückgegangen! M e i s will Transport von 30 Kranken von H. nach hier organisieren. Ich bitte ihn, in Colditz nach meinen Lie

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ben zu forschen und sie, wenn möglich, auf der Rückfahrt nach Leipzig mitzunehmen.
Nachts gedankenvoller Spaziergang zur Holzhäuser Windmühle.
3. Mai 1945: Um 9 Uhr morgens starkes Läuten an der Wohnungstür! Frau T h i e r b a c h schreit: „ Herr Dr., das ist Ihre Frau!" Es ist sie nicht. Aber Werner H a u ß erscheint und bringt Julianchen und Olafchen mit! Antonia und Vera seien noch in Groß-Steinberg bei den Eltern! Sie wollen am Nachmittag hier sein, und über Naunhof-Fuchshain kommen, wie A. in einem Briefchen schreibt, das sie W. H. mitgegeben hat. Ich kann es nicht erwarten und sause ihnen mit dem Fahrrad entgegen. Kurz vor Naunhof - etwa 11 Uhr vormittags sehe ich sie mir entgegenkommen: Antonia mit ihrem bepackten Fahrrad, Vera und Gretchen mit der „Gummikarre", an einem amerikanischen Militärwagen stehend in lebhafter Unterhaltung mit den Soldaten. Einer von ihnen, leicht angesäuselt, wollte Antonia heiraten, war enttäuscht, als sie sagte: „Da kommt mein Mann!". Rührende Wiedersehensszene. Die US-Soldaten selbst gerührt. Nun habe ich sie wieder. Der schönste Tag meines Lebens! Die Soldaten: „The Russians came to Leipzig!"
Die Flucht der Fünf eine Kette von Strapazen, Gefahren, Widerständen, Unberechenbarkeiten. Übergang über die Mulde, also vom unbesetzten zum besetzten Gebiet, nur durch Zufall und Glück gelungen, Brücke nur für eine Stunde geöffnet. Zuvor mußte, da Brücke gesprengt, tief eingeschnittener, flacher Flußlauf überwunden werden. 15 kriegsgefangen gewesene Franzosen halfen dabei, indem sie alle Sachen von der Gummikarre abluden, einzeln herübertrugen, die beiden Kinder und dann die Karre selbst auf das andere Ufer schleppten. Sie hatten selbst einen Handwagen mit einem Schwerkranken gezogen und waren - im Gegensatz zu manchen Deutschen - äußerst hilfsbereit. Antonia schenkte ihnen eine Flasche Vermut Cinzano. Weiter bergauf, bergab über Zschadraß nach Colditz. Brückenpassage verweigert! Zurück nach Zschadraß! Ziemlich verzweifelt. Zurück nach Hochweitzschen? Nein! Neuer Versuch, sich durchzuschlagen. Durch Zufall doch noch über die Brücke (siehe oben!) in äußerster Eile. Gefahren durch herumstreunende Polen und Russen. Bei Kälte, Sturm und Regen zu Fuß weiter, Vera mit der vollbepackten „Gummikarre", obenauf Juliane, im Kinderwagen Olaf angehängt. (Prof. Bürger hatte sie beschimpft, weil sie nicht in Hochweitzschen geblieben seien! Dann war er frü

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her in Leipzig als sie! Frau B a e n s c h , mit amerikanischem Paß - sie und ihr Mann emigrierten später in die USA -, lehnte es ab, sie von H. nach Leipzig mitzunehmen! Kein Kommentar!)
Weitere Einzelheiten der Flucht: Die französischen ehemaligen Kriegsgefangenen, abgemagert, schwach, durstig, bitten einen deutschen Bauern um Wasser - er jagt sie vom Hof! Antonia schämt sich für die Deutschen! Andere halfen aber, rieten ihnen, nur Nebenstraßen zu benutzen, um nicht entlassenen russischen Gefangenen, die betrunken waren und auf Bauernhöfen alle Tiere abgeschlachtet hatten, in die Hände zu fallen. Eine deutsche Frau brachte sie zu einer kleinen Baracke am Bahnhof, in der sie Unterschlupf fanden. Ein deutscher Arzt nahm sie auf, ließ sie aber allein in der Küche am Nebentisch essen, bewirtete sie mit Pellkartoffeln. Drei amerikanische Soldaten rasten mit Maschinenpistolen durch das Zimmer in das Bad, in dem die Großmutter des Arztes gerade im Badewasser lag, lachten und schnippten mit den Fingern munter zu den Kindern hin. Die Kinder waren überhaupt ein Schutz für die drei Frauen. Der Arzt bat sie aber, sein Haus in ihrem eigenen Interesse so schnell wie möglich zu verlassen, schickte ihnen einen Mann mit, der sie auf weniger gefährliche Nebenwege führte. Es hieß: Die Russen vergewaltigen am Tage, die Amerikaner in der Nacht!
Unterkunft im Psychiatrischen Krankenhaus von Zschadraß, auf Bettgestellen mit Matratzen in verdunkeltem Raum - es war noch Krieg! - , mit Mänteln bedeckt, die ihnen weggezogen wurden. Geld war aus den Mänteln gestohlen. Danach zu einem Apotheker, dem Antonia einen Brief von Dr. K n a b übergab. Auch er warnte vor den Amerikanern und riet, so schnell wie möglich weiterzukommen. Antonia hatte einen mit unansehnlich-grau gewordenem Silber gefüllten Rucksack bei sich. Ein Russe sah hinein, erblickte eine graue Silberschüssel, an der er nicht interessiert war, stieß den Sack mit dem Fuß weg. Die Delle in der Schüssel ist heute noch zu sehen. Erinnerung an die Flucht!
Nun sind sie da, meine lieben Flüchtlinge, angestrengt, müde, aber guten Mutes. Lottchen mit Nino ist nicht mitgekommen, die Eltern sind in Kleinweitzschen geblieben, hätten die Strapazen kaum überstanden. Ich lasse Notbetten aus der Klinik holen, Nachbarn ( V o i g t s , T h i e r b a c h leihen uns Sessel, Chaiselongue, Bezüge usw. Ich schreibe an die Hochweitzschener mit Weisungen

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zu den Fluchtwegen, gebe Dr. M e i s die Briefe mit und bitte ihn, Lebensmittel aus H. für uns mitzubringen. Die Nahrungsbeschaffung ist jetzt das Wichtigste.
 

Im Gefängnis
 

4. Mai 1945: Visite bei meinen Patienten in Dösen. Hier soll eine sehr unangenehme amerikanische Kommission tätig sein. Werner H a u ß als neuer Direktor des Krankenhauses ist als "Nazi" beschimpft worden.
Mittags Nahrungssuche für uns. Im alten, verwüsteten Klinikgarten Flieder und Tausendschönchen für die beiden „heimgekehrten" Schwestern gepflückt. Zu Hause empfängt Antonia mich mit der Nachricht, ich soll sofort nach Dösen kommen. Es handele sich um ein Gespräch über Prof. K e I I e r . Ich fahre ahnungslos hin. Dort amerikanische Militärpolizei mit mehreren Autos. Im Chefarztzimmer bewaffnete USOffiziere. Am Fenster ein Polizeikommissar in Zivil, der sich mit dem polnischen Arzt Dr. A I t e r in polnischer Sprache unterhält. Links Werner H a u ß , wachsbleich. Der Kommissar fragt mich nach Prof. W a g n e r s Anschrift, telefoniert mit einem Assistenten unserer Klinik in der Emilienstraße, Dr. D i e t r i c h , und sagt ihm: „Prof. W a g n e r darf seine Wohnung nicht verlassen, er befindet sich in Arrest!" Dann zu mir: „Welchen Dienstgrad haben Sie in der SS?" Ich: „Ich war nie in der SS!" Kommissar: „Ihren Wehrpaß, Ihr Soldbuch!" Ich: „Habe ich nicht bei mir!" Er: „Sie kommen zu einem Verhör!". Ich werde ins Nebenzimmer geführt, in dem schon mehrere Ärzte der Klinik warten. Aus ihren erregten Äußerungen geht nicht hervor, warum wir verhaftet werden sollen. Werner H. kommt hinein, sieht aus, als ob er geprügelt worden sei (seelisch, nicht körperlich!) Ich kann ihm noch schnell sagen, er solle Antonia Nachricht geben, was mit mir geschehen ist. Wir - außer Werner - müssen in einen Polizeiwagen steigen, 10 Ärzte, darunter vier Unterärzte und ein aktiver Oberstabsarzt in Uniform. Ein Unterarzt fragt, ob er sich Waschzeug mitnehmen dürfe. Der Kommissar: „Die Russen haben sich auch monatelang nicht waschen und rasieren können, als die Deutschen kamen!" Der Kommissar beugt sich zu uns zurück und fragt - alle in Deutsch! -, ob wir hier oder zu Hause Schußwaffen hätten. Wenn wir sie jetzt nicht abgeben oder melden, würden wir als Spione behandelt werden. In schneller Fahrt zum Gefängnis

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in der Moltkestraße. Zwischen belgischen Wachposten in den Aufnahmeraum. Ein deutscher Gefängnisbeamter: „Meine Herren, die Sache ist nicht so schlimm, wie sie aussieht." Ich werde in eine Einzelzelle geführt. Die Tür hinter mir wird geschlossen, ein Riegel vorgeschoben. Die Schritte des Wärters entfernen sich.
Ich bin gefangen.
Ich bin ganz ruhig. Es ging alles so schnell, und es fehlt jede Möglichkeit, zu handeln. Damit wird jedes Aufbegehren sinnlos. Ein paar Mal schließe und öffne ich die Augen. Ist es Traum oder Wirklichkeit, daß ich in einer Gefängniszelle eingesperrt bin? Leider Wirklichkeit. Ich betrachte die Wände der Zelle. Überall Kritzeleien, meist von ausländischen Häftlingen aus der Nazizeit, Tschechen, Polen, Franzosen, Belgiern. Mehrere „Haftkalender", eingeteilt nach Wochen und Monaten, jeder vergangene Tag angekreuzt, am längsten über drei Monate lang. Dann Erfolgsmeldungen über Wanzenjagden: 60 Wanzen, 30, 20 usw. Tief unten an der Wand ein Kruzifix gemalt, daneben ein Galgen, an dem eine Wanze hängt, darunter 60! Die Trophäen selbst kleben an den Wänden. Ich zähle 83. Recht verheißungsvoll! Dann Drohung gegen Nazideutschland. Hakenkreuz am Galgen. In unbeholfener Schrift: „Mort aux Boches!" Und: „Unsere Zeit kömmt auch noch!" Zwei Inschriften muß ich immer wieder lesen, die eine, weil sie mich rührt, die andere, weil sie mich nachdenklich macht: „Mon seul desir revoir ma Regine cherie!" und: „Alles im Leben hat seinen Grund und seine Bedeutung!"
Inventar der Zelle 159: Pritsche mit Matratzen und drei Decken. Klapptisch mit Schemel. Daneben zweiter Schemel. Kleines Regal an der Wand. Lokus-Kübel, bis oben gefüllt, ständig leichten Kloakenduft ausströmend.
Ich schreite zwischen der Fenster- und der Türseite hin und her, immer wieder, bis mir das Knarren der Dielen unter meinen Füßen zu eintönig wird. Ab und zu gucke ich durch das Spähloch in der Tür. Außer ein paar anderen Türen auf der Gegenseite und einer Treppe ist nichts zu sehen. Ich klettere auf einen Schemel, um durch das hochgelegene Fenster zu schauen. Wenig tröstender Anblick: Gefängnishof, abgeschlossen von einem halb ausgebrannten Gebäudeteil, oben Trümmer. Eine Fensterscheibe ist zertrümmert. Durch die Öffnung und das Spähloch in der Tür dauernder schwacher Windzug. Unheimliche Stille. Nichts zu lesen. Die Minuten kriechen. Immer, wenn ich auf meine Armbanduhr

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sehe, ist der Zeiger um einige Minuten weniger vorangegangen, als ich gehofft hatte. Endlich Schritte, Stimmen, Schlüsselklappern. Die Türen werden aufgeschlossen, die Riegel zurückgeschoben, auch an meiner Zelle. Es gibt Essen! Kohlrübensuppe! Mein Eßnapf hat ein Loch, durch das die Suppe tröpfelt. Der Tisch ist nachher ganz naß davon. Großer Hunger, der die verhaßte Kohlrübensuppe sogar leidlich schmecken läßt. Immerhin eine kleine Ablenkung, die genau sieben Minuten gedauert hat. Es ist noch hell. Ich lese alles durch, was ich in meiner Brieftasche aufbewahrt habe (man hat sie mir gelassen): Alte Briefe Antonias, Notizzettel, Brief von Hedchen Jagt (der mich vor dem Verdacht der Spionage bewahrt hatte!), betrachte die lieben Bilder, die gepreßten Blümchen, das vierblätterige Kleeblatt. Dann dunkelt es schnell. Gegen 21 Uhr lege ich mich auf die Pritsche. Schlafe erst gegen Morgen ein. Man kann kein Licht machen. Die Zelle bleibt dunkel. Streichhölzer habe ich nicht. Etwa um Mitternacht die ersten Wanzenstiche, multiples Jucken. Gegen 6 Uhr morgens erwacht. Stark von Wanzen zerbissen. Dumpfer Druck in der Brust: Ich bin eingesperrt im Gefängnis!
5. Mai 1945 (Sonnabend): Ich entdecke eine winzige Spiegelscheibe, in der ich mich betrachte. Wenigstens ein Gegenüber, nicht mehr allein! Aber keine Seife, kein Handtuch, keine Zahnbürste. 7 Uhr 30 Frühstück: Ein Stück trockenes Brot, ein Eßlöffel Zucker, ein Topf „Kaffee", gierig hinuntergeschluckt, was ich mit Unbehagen feststelle. Morgenspaziergang in der Zelle, eine halbe Stunde lang. Grübeln. Warum bin ich hier? Was könnte man tun, um herauszukommen? Was wirft man mir vor? Wann werde ich verhört? Bekomme ich einen Rechtsschutz? Ich habe ein gutes Gewissen. Jeder, der mich kennt, weiß, daß ich kein Nazi bin. Schwanken zwischen Empörung und Gelassenheit. Wenn die Empörungswoge hochsteigt, werde ich unruhig, wälze Gedanken und Pläne, um doch nur festzustellen, daß Auflehnung zwecklos ist und die Situation erschwert. Der Empörungswelle folgt eine kleinere Angstwelle, die in einem Wellental der Gelassenheit und Selbstsicherheit über dem Boden des guten Gewissens verebbt. Bei ruhiger Überlegung: Mit den Vorwürfen, die den Dösener Chefärzten gemacht werden (angeblich schlechtere Verpflegung für die ausländischen Kranken, Tarnung der NSDAP-Ortsgruppe mit dem Roten Kreuz) habe ich nichts zu tun, da unsere Nervenklinik gar nicht zum Krankenhaus Dösen gehört. Offenbar werfen die Amerikaner die drei von einander unabhängigen Teile des

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Krankenhauskomplexes durcheinander: 1. St. Jakob (städtisch), z. Nervenklinik (staatlich), 3. Heilanstalt (Landesregierung). Alles dies wird sich klären und die Gegenstandslosigkeit des Verdachtes gegen W a g n e r und mich beweisen. Gefühl der inneren Überlegenheit über die Leute, die mich verdächtigt und verhaftet haben. Wer sind sie überhaupt? Sie kennen mich gar nicht, sperren mich ohne einen Schein des Rechts und ohne Rechtsschutz, ohne Verhör, ohne Verteidiger ein! Methoden, wie die Nazis sie angewandt haben. Die Amerikaner wollen uns Deutschen die Demokratie beibringen! Sieht die Demokratie so aus? Wird Unrecht dadurch bestraft und getilgt, daß neues dafür begangen wird? Die Saat des Mißtrauens und des Hasses geht auf, die der Nazismus gesät hat. Gerechtigkeit unter den Menschen ist Fiktion, Selbsttäuschung. Nichtschuldige werden schuldig gesprochen, Schuldige kommen davon! Gerechtigkeit als Wahrheit gibt es nur vor Gott. Vielleicht will er uns nur prüfen, wenn er uns vor die Wahl stellt, Unrecht mit Unrecht zu vergelten oder im Ertragen des Unrechts einen Sinn zu sehen, den Sinn, in ihm einen Weg zur Läuterung zu erkennen, im unverschuldeten Leid eine Herausforderung zu verstehen, die uns zwingt, unser Ich mit einem „harten Besen" bis in alle Ecken und Schlupfwinkel auszukehren, zu reinigen, um es reifen zu lassen? Vielleicht ist es der Sinn der Ungerechtigkeit unter den Menschen, daß sie uns vor diese Gerechtigkeit Gottes stellt, die uns überlegen macht über das Ungerechte, das die Menschen einander antun, die uns frei und sicher und damit Gott nahe werden läßt? Vor dieser Haltung trollt sich der Teufel, der im Ungerechten steckt, von dannen!
Eintöniger Tag. Quälende Langeweile. Die Minuten schleichen dahin. Dauerregen tropft auf das Dach des Gefängnisses. Mittagessen: Im Blechnapf Zusammengekochtes (Kohlrüben, Weißkohl, Karotten). Dazu eine Handvoll Pellkartoffeln. Kein Messer zum Schälen. Abendbrot: Eine Scheibe Brot, eine Scheibe Wurst (!). Rote Rüben. Ein Topf „Tee". Nachts sehr kalt. Lebhafte Wanzentätigkeit. Schlaf durch Frieren und Jucken gestört. Zellenklosett verstopft. Inhalt schwimmt oben.
6. Mai 1945 (Sonntag)!) : Morgens ziemlich verzagt. Regen rinnt unaufhörlich. Sehr kalt. Ich friere thermisch und psychisch. Sitze zitternd auf dem Pritschenrand. Das rechte Auge kommt mir geschwollen vor. In der kleinen Spiegelscherbe: Rechtes Oberlid stark oedematös! Ich kann das Auge fast nicht mehr öffnen. Erste Reaktion: Gott sei Dank, jetzt bin ich krank! Kann nach Arzt oder Sa

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nitäter verlangen, behandelt werden, vielleicht Nachricht nach Hause geben, Hafterleichterung erhalten. Warten auf die Frühstücksausgabe. Morgengebet. Endlich klappern die Schlüssel des Wärters, der Riegel wird zurückgeschoben, der Wärter kommt. Ich bitte um Untersuchung und Behandlung meines Auges. Nach 10 Minuten erscheint ein Sanitäter. Wen sehe ich? Einen früheren Pfleger unserer Klinik, den ich einmal scharf zur Rede gestellt habe, weil er Patienten schlecht behandelt oder sogar geschlagen hatte! Er ist daraufhin wohl entlassen worden und hat den Job im Gefängnis angenommen. „So sehen wir uns wieder!" sagt er. Ich weiß nicht, was in ihm vorgeht. Vielleicht ein kleiner Triumph, vielleicht etwas Mitgefühl? Vielleicht beides. Er meint (und hat nicht ganz unrecht!): „Na, vielleicht eine kleine Haftpsychose?" Das verneine ich natürlich, indem ich auf das geschwollene Auge zeige (was eine psychische Entstehung nicht ausschließt!). Aber ich fühle mich tatsächlich schlapp und unwohl. Das Gefühl, nicht ganz gesund zu sein, erleichtert das Bedrückende der Situation. Abwechslung gelingt durch die Hilfe des Sanitäter: Augenumschlag mit Borwasser, Tabletten, mehrmalige Nachfrage nach meinem Ergehen. Ich bitte ihm innerlich meine damalige Härte ab!
Grübeln über die Gründe der Verhaftung. Auf dem Verhaftungszettel in Dösen hat gestanden: „Prof. „Werner" (gemeint war W a g n e r , Dr. „Jansen ". Wo mag Wagner sein?
Nachts allmähliche Gewöhnung an die Wanzen. Ich bin ihnen gar nicht so böse. Denn sie sind die einzigen Lebewesen in meiner Einsamkeit. Man braucht eine Begleitung, wenn man allein ist. Meine Begleiterin ist die Sorge. Die Sorge um Antonia-. Was wird aus ihr, aus uns, wenn Leipzig russisch wird und ich nach Sibirien deportiert werde? Oder was wird aus ihr und mir, wenn die Amerikaner mich in den Westen mitnehmen und sie in Leipzig unter den Russen bleibt? Jedesmal, wenn die Sorgenwelle etwas abebbt und ich mich innerlich freier fühle, kommt der Gedanke auf: Da war doch noch etwas, was jetzt fehlt. Ach ja, es war die Sorge. Da ist sie wieder, die treue Begleiterin! Sie füllt die innere Leere aus, und damit hat sie wohl auch ihren bestimmten Sinn. Die Märtyrer liebten ihren Schmerz. So weit bin ich nicht. Aber es gibt flüchtige Gefühle, in denen ich der schmerzenden Sorge gar nicht gram bin. Eigenartig! Irrational! Und dann der vernünftige Gedanken: Was ist das, was ich jetzt erleide, gegen das, was

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unzählige Andere an ungleich schwereren Belastungen zu ertragen haben! Die Kriegsgefangenen, die politisch Verfolgten, die Gefolterten, auf der Flucht Verelendenden, die Verhungernden, von der Erschießung Bedrohten ... Die Relativierung meiner Sorge hilft mir, und ich beginne, mich zu schämen, ob meines Kleinmuts und meiner Ichliebe, meiner Ängste und meiner Ungeduld!
Abends inniges Gebet für Antonia, Verachen, die Kinder, die Elterchen, für Lottchen, Adalbert, Hedchen, für Onkel Bau und Tante Frieda, Jochen, Ulla, Erich, Immo, Wolodja, Lorenzo.
Montag, 7. Mai 1945: Morgens 20 cm breiter Streifen Sonnenschein. Ich steige auf den Schemel und die Matratze und lasse den Sonnenstreifen auf meine Stirn fallen. Das Zellenfenster zeigt in südöstlicher Richtung, also etwa in Richtung Störmthalerstraße. Dort ist sie nun, nur 2 oder 3000 Meter von mir entfernt und doch unerreichbar, meine Antonia. In Rußland war ich 2 bis 3000 Kilometer von ihr entfernt und ihr doch näher als jetzt. Die Unerreichbarkeit steigert das Gefühl des Einsseins mit elementarer Kraft. Eigenartig und wunderbar.
Der schmale Sonnenstreifen scheint einen besseren Tag zu verheißen: Ich bekomme eine Zigarette, ein Heft „Atlantis" als Lektüre und darf eine halbe Stunde im Hof spazieren gehen. Tief Luft holen! Meine Leidensgefährten, die ich dabei wiedersehe, wirken ziemlich erschüttert. Miteinander sprechen dürfen wir nicht. Die halbe Stunde ist viel zu schnell herum. Gleich danach werde ich zum Verhör geholt. Der Kommissar vom letzten Freitag: „Welchen Dienstgrad hatten Sie in der SS?" Ich: „Ich war nie Mitglied der SS!" Kommissar: „Welchen Dienstgrad hatten Sie in der SA?" Ich: „Ich war nicht Mitglied der SA!" So geht es weiter. Alle Fragen lassen erkennen, daß der Mann von Unterstellungen ausgeht, die mit meiner Person und meiner Tätigkeit als Arzt nichts zu tun haben. Sie betreffen den Komplex „Dösen" und die Verpflegung der ausländischen Kranken, über die ich keine Auskunft zu geben weiß, weil ich für sie nicht verantwortlich war. Ich erfuhr nicht, warum ich verhaftet worden bin. Nach einem Rechtsschutz habe ich nicht gefragt, weil mir das in der chaotischen Besatzungssituation aussichtslos erschien. Der Kommissar, anscheinend ein amerikanisierter Russe mit Namen Andrejenko (oder ähnlich) wirkt unsympathisch, ja etwas unheimlich auf mich. Die Welt der Verhöre, der Verdächtigungen, der Denunziationen ist mir fremd und berührt mich im Grunde nicht. Aber sie bestimmt jetzt mein weiteres Schicksal.

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Der Rest des Tages verläuft eintönig. Die Haftreaktion ist überwunden. Ich schäme mich ihrer ein wenig.
8. Mai 1945: Mangels anderer Lektüre lese ich zum 4. oder 5. Male die Artikel in der Zeitschrift „Atlantis", darunter die düstere Geschichte eines englischen Gouverneurs der Straits Settlements: Cholera auf einer chinesischen Dschunke. Schuldproblem! Interessanter Aufsatz über Alchemie. Buchanzeigen, Hotel- und Reiseanpreisungen aus dem Jahre 1932! Eintöniger Tag. Auge abgeschwollen. Gleichmut eingetreten. Viel gebetet. Nachts Hungertraum: Großer Saal mit langen Tafeln, auf denen riesige Teller mit Torten, Kuchen, Schlagsahne, belegten Brötchen, Mayonnaisen und anderen Köstlichkeiten stehen. Der bloße Anblick scheint zu sättigen.
Der Sanitäter zieht mich zu kleinen ärztlichen Hilfsleistungen im Krankenrevier heran. Gute Ablenkung. Nachdenken über das Verhör. Ich hätte einiges noch mehr präzisieren können. Aber es war alles so oberflächlich und ging so schnell. Viele Erwägungen: Wer könnte helfen? S c h ö I m e r i c h ? Er, Kommunist, kennt meine nazigegnerische Einstellung. Aber er ist jetzt nicht in Leipzig. Professor Thomas , der ebenfalls für mich aussagen könnte. Aber er hat mit der Sache nichts zu tun. W a g n e r ist wahrscheinlich selbst verhaftet. In Ruhe abwarten! Es wird sich alles aufklären.
Zur Nacht betupfe ich mich gegen die Wanzen mit Salmiakgeist und Tetrachlorkohlenstoff aus dem Krankenrevier. Die Wanzen lieben das nicht.
9. Mai 1945: Wir werden rasiert! Dafür gibt es heute keinen Ausgang. Dem Menschen, der mich denunziert haben sollte, bin ich nicht böse. „Richtet nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet!" Er kann mich ja gar nicht kennen. „Herr, vergib ihnen ..." Zwischen Mittag und Abend starkes Hungergefühl, leichtes, dumpfes Rumoren in der Magengegend. Nachmittags schwere Haftreaktion bei einem Polen. Ich werde zu ihm gerufen: Panikartiges Angstsyndrom, heftige Erregung, Fortdrängen. Ich erfahre nicht, warum er eingesperrt ist, gebe ihm eine Scopolamin-Injektion, nach der er sich schnell beruhigt, so daß er in seine Zelle zurückgebracht werden kann.
10. Mai 1945: Der Pole wird entlassen. Haftreaktion ohne Nachwirkungen abgeklungen. Glücklicher Mensch! Ich betätige mich mehr im Krankenrevier, nähe eine Stirnwunde, schneide einen vereiterten Finger auf usw. Hole mir S t e r n s „Neurologische Begutachtung" aus der Revierbücherei heraus.

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Wie wird es weitergehen? Ich habe das Gefühl, daß sich sehr bald etwas entscheiden wird, glaube eine Haltung erreicht zu haben, mit der ich allen Eventualitäten ruhig entgegensehen kann. Die Ruhe des guten Gewissens! Banale Melodien drängen sich mir zwanghaft auf, leider nichts Bachisches oder Beethovensches. Wir bekommen ein Handtuch und ein Stück Seife (an dem zu schnuppern tröstlich ist!)
11. Mai 1945: Ich werde zum Krankenrevier geholt, um dort zu helfen. Belgische Wachposten. Tschechen, Polen, Litauer, Deutsche sind meine Patienten. Alles Gefangene wie ich. Nichts scheint mich von ihnen zu trennen, keine Nation, kein Stand, keine Klasse, keine Weltanschauung. Noch nie habe ich die Gemeinsamkeit des Menschlichen so tief empfunden wie hier. „Kommunismus" des Herzens? Die gemeinsame Not des Sträflingsschicksals verbindet sie miteinander und mich mit ihnen. Jeder erzählt mir die Geschichte seines Lebens, seiner Verhaftung, der Einsperrung in ein Gefängnis oder ein Konzentrationslager. Jeder ist dankbar für die kleinste ärztliche Hilfe, die ich ihm leiste, dankbar dafür, daß ich mir Zeit nehme, ihn anzuhören und an seinem Schicksal Anteil zu nehmen. Aber warum sind sie hier? Ein Beispiel: Ein baumlanger Sowjet-Litauer mit hellen blauen Augen und klarem Blick: Wegen Denunziation! Der Liebhaber seiner Frau hat ihn des politisch motivierten Mordes an einem Nazi verdächtigt. Vier Jahre hat er dafür im Zuchthaus gesessen, soll jetzt aber freigelassen werden. Ich gönne es ihm. Er sagt zu mir: „ Herr Dr., nur Gottvertrauen hat mir über diese Zeit hinweggeholfen!" Beim Abschied leuchten seine Augen. Verbrecher? Wahrscheinlich nicht. Eher die, die ihn eingesperrt haben. Ich weiß es nicht. Es ist auch nicht mehr so wichtig.
Ein belgischer Wachposten dankt mir für Hilfe und Zuspruch, schenkt mir eine Schachtel Zigaretten. Der Sanitäter geht mit mir zum Gefängnisvorsteher, Herrn Schütz , und beantragt, mich als Arzt im Krankenrevier einzusetzen. Herr Schütz bedankt sich für meine Bereitwilligkeit, diese Aufgabe zu übernehmen, bedauert aber zugleich, meine Hilfe nicht mehr lange in Anspruch nehmen zu können! (Ich denke: Nanu?) Dann: „Es hat sich für Sie ein Vorteil - zufällig ergeben, der sich auch auf die anderen Herren günstig auswirken kann!" Leicht beschwingt schreite ich in mein Revier zurück. Der stellvertretende Gefängnisvorsteher übergibt mir ein Päckchen! Es enthält die Consolatio philosophiae", den „Trost der Philosophie" des B o e t h i u s . Wasieseich?„Die Philosophie

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kann den letzten Trost nicht geben. Sie hilft nur, wenn sie auf dem Boden des Glaubens ruht." Aber missen möchte ich sie auch nicht mehr.
Gegen 20 Uhr Schlüsselklappern. Der Wärter kommt: „Zu einem Verhör!" Also endlich! Aber ich werde nicht zu dem Kommissar geführt, sondern zum Gefängnisvorsteher! Er teilt mir mit, daß ich entlassen werde! Nach dem Wiedersehen auf der Naunhofer Chaussee einer der schönsten Augenblicke meines Lebens!
Raschen Schrittes nach Hause. Ich muß mich beeilen. Um 21 Uhr ist die Ausgehzeit beendet. Ich sehe wieder den blauen Himmel über mir, sauge die laue Abendluft tief in mich hinein. Die Häuserruinen erscheinen mir als freundliche Gebilde. Wissen die Menschen, die davor stehen und mit ihren Nachbarn plaudern, wissen die Kinder, die auf der Straße mit amerikanischen und belgischen Soldaten spielen, wie glücklich sie sind? Was Freiheit bedeutet erfährt man erst ganz, wenn man sie verloren hat. Wie dankbar bin ich, jetzt wieder frei zu sein. Wie dankbar muß ich sein, daß ich nur 8 Tage und nicht 8 Jahre oder länger eingesperrt war! Meine Gedanken auf diesem Heimwege aus dem Gefängnis bewegen sich in der Euphorie der Befreiung nur in Richtung auf die guten Seiten der Haft: Eigentlich ist mir dort nichts menschlich Schlechtes begegnet: Ich habe das Gefängnis eher als eine „Station auf dem Wege des uneigennützigen Helfens" erlebt! Was hat ein Gefängniswärter davon, wenn er mir einen Schlag Suppe mehr gibt als vorgeschrieben ist? Was nützt es dem zum Küchendienst eingeteilten Sträfling, wenn er mir - wie heute nachmittag - ein besseres Geschirr gibt, einen Porzellan-Eßnapf anstelle des leckenden blechernen, einen feinen, richtigen Porzellanteller mit Henkel? Gewiß, ich hatte ihm von meiner Kohlrübensuppe abgegeben. Dann war es Dankbarkeit. Also ein Zeichen der stillen Verbundenheit eines Gefangenen mit dem anderen, ein Grund für mich dankbar zu sein. Vielleicht war auch der Kommissar, der mich verhaftet hat, nur „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft"?
Was war das Schwerste an der Haft? Das Erwachen nachts und morgens! Schlaf und Traum führten mich in die Freiheit hinaus, das Erwachen in den Kerker zurück!
Die kleinen Tröstungen: Essensausgabe, Sonnenstreifen von 8 bis 9 Uhr morgens, Schnuppern an dem Seifenstückchen, Hofgang, Betrachten der Inschrift: „Alles im Leben hat seinen Grund und seine Bedeutung!" Die mittleren Tröstun

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gen: Philosophie (Stoa, B o e t h i u s ), Schlaf, Traum, Dankbarkeit für meine Hilfe im Krankenrevier.
Die große Tröstung: Zuversicht durch Glauben, Gebet, Ruhe des guten Gewissens.
Diese Gedanken gingen mir durch die Kopf beim Heimgang.
Fünf Minuten vor 21 Uhr zu Hause. Antonia steht gerade in der Tür bei Frau Seidel. Die Freude! Das Glück! Verachen, die Gute, und die Kinder Julianchen und Olafchen. Frau T h i e r b a c h , die liebe Nachbarin! Viel erzählen! Gutes Abendbrot! Bad! Die Kinder jubeln!
Nachts heftige Enteritis mit scheußlichen Koliken und ruhrartigen Stühlen. Ziemlich qualvoll. „Des Lebens ungemischte Freude ward keinem Irdischen zuteil!"
12. Mai 1945 : Tagsüber ein Besucher nach dem anderen - Telefonate. Unruhe. Körperlich schwach. Anruf Werner H a u ß : Der Kommissar A n d r e j e n k o habe befohlen, daß wir 10 Entlassenen in Hausarrest in Dösen bleiben sollen. Ich erwidere, daß ich jetzt nur dorthin könnte, wenn ich mit Krankenwagen abgeholt und als Patient behandelt werde. Gegen 20 Uhr kommt ein Sanitätsauto und bringt mich mit Antonia nach Dösen. Aufnahme in der Infektionsabteilung. Liebevolle Betreuung durch Antonia.
22. Mai 1945: Seit drei Tagen in der Wohnung von Frau F r i e d r i c h , Frau eines Dösener Psychiaters. Elektrokardiographisch und röntgenologisch „Myocarditis" und periphere Kreislaufschwäche festgestellt. Feste Bettruhe. Medikamente. Höchstens 2 Stunden täglich Aufstehen. Sehr viel Besuch, anregend und anstrengend. Dr. E r i n g a (Holländer) kommt aus Hochweitzschen, berichtet, Papachen sei beraubt, Helenchen vergewaltigt worden. Russischer Soldat hat einer Krankenschwester Brillantring geschenkt (!). Deutscher Elektriker wird von einem Russen mit vorgehaltener Pistole gezwungen, ihm drei Kisten Zigarren zu schenken usw. Russen sehr geschickt und psychologisch klug in der Behandlung der Deutschen. Wollen uns nicht, wie die Amerikaner, zur Demokratie „erziehen". Wir seien ihre „Towaritschtsch"! Die Amerikaner verlangen, daß die Deutschen vom Bürgersteig ausweichen, wenn sie ihnen begegnen! Fraternisierung streng verboten. In Berlin keine rein kommunistische, sondern gemischte Regierung. Prof. Sauerbruch Gesundheitsdezernent. Heinz R ü h m a n n Kunst-Dezernent usw. Im Rundfunk Meldungen über

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Spannungen zwischen Rußland und den Westmächten! Dritter Weltkrieg möglich?
Ich lese D o s t o j e w s k i s „Brüder Karamasoff". Schuldproblem! Erlösung der Menschheit nur, wenn jeder die Schuld des Anderen mitträgt und übernimmt? Aus den Reden des Staretz Sossima: „Jüngling, vergiß nicht das Gebet. Jedesmal, wenn dein Gebet aufrichtig ist, taucht eine neue Empfindung in dir auf, und mit ihr ein neuer Gedanke. Er wird dich von neuem stärken und du wirst begreifen, daß Gebet Erziehung ist! ... nLiebet den Menschen auch in seiner Sünde, denn das ist das Ebenbild der göttlichen Liebe und das Höchste der Liebe. Liebet die ganze Schöpfung Gottes, das ganze All wie jedes Sandkörnchen." ... „Wenn du jedes Ding lieben wirst, so wird sich dir das Geheimnis Gottes in den Dingen offenbaren! Ist dir das offenbar geworden, so wirst du jeden Tag immer mehr und mehr die Wahrheit erkennen." ... „Die demütige Liebe ist eine furchtbare Kraft. Sie ist die allergrößte Kraft und ihresgleichen gibt es nicht." ... „Jeden Tage, jede Stunde und jede Minute gib acht auf dich, damit dein Antlitz rein sei. Wenn du böse und mit einem schlechten Wort an einem Kinde vorbeigehst ... siehe, so prägt sich dein häßliches und verzerrtes Antlitz in sein schutzloses Herzchen ein." ... „Brüder, die Liebe ist eine große Lehrerin, man muß verstehen, sie zu erwerben. Das aber ist sehr schwer."
Und dann das große utopische Wort: „Mache dich selbst für die Sünden der Menschheit verantwortlich!"
„Vergiß vor allem nicht, daß du niemandes Richter sein kannst!"
„Halte fest deine Begeisterung, wie sinnlos sie den Menschen auch erscheint!" „Fürchte nicht den Vornehmen und den Mächtigen und sei immer ein Weiser und Begeisterter!"
26. Mai 1945 : Heute beginnt die vierte Woche meines „Hausarrests". Ich empfinde ihn nicht als Freiheitsberaubung, weil ich noch Patient bin und ohnehin liegen müßte. Antonia besucht mich jeden Tag. Ihr habe ich überhaupt zu verdanken, daß ich aus dem Gefängnis entlassen wurde! : Sie hatte versucht, mich dort zu besuchen oder zu erfahren, warum ich eingesperrt worden sei. Ein belgischer Wachtposten hielt sie am Eingang der Strafanstalt zurück und schlug ihr mit dem Gewehrkolben auf den Rücken. Eine Patientin, Fräulein G r i e h I („Griehlchen"), hatte ihr gesagt, sie kenne den Gefängnisvorsteher, Herrn Schütz , der vielleicht etwas für mich tun könnte. Den Ausschlag gab eine

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andere Patientin, deren halbjüdische Tochter ich davor bewahrt hatte, daß sie blutdurchtränkte Uniformen waschen mußte. Ihre Mutter, elegant aufgemachte Favoritin der Amerikaner, schritt mit Antonia zur US-Kommandatur, gelangte, höflichst empfangen, bis zu einem Major, bei dem sie temperamentvoll gegen meine Inhaftierung protestierte („Meinen Doktor haben Sie eingesperrt, der war nie ein Nazi. Ich bürge für ihn! Sie müssen ihn freilassen!" Der Major versprach Hilfe, bat aber, noch zwei Tage zu warten, weil die Armee erst eine Siegesfeier hinter sich bringen müsse. Das Weitere siehe oben! Auch G r i e h I c h e n hatte bei Herrn S c h ü t z ein gutes Wort für mich eingelegt. (Deren Tochter wurde unter dem Künstlernamen Christina H a g e n eine gefeierte Opern- und Konzertsängerin an der Deutschen Oper am Rhein (Düsseldorf und Duisburg) und in Bayreuth, seit September 1992 als Kammersängerin (Mezzosopran).)
Vor drei Tagen Besuch des Leiters des "Nationalkomitees Freies Deutschland", Hilbig , bei mir, jetzt Polizeisekretär, sympathisch und mir offenbar gewogen. Warum er gekommen ist, weiß ich nicht recht. Er hat unter den Nazis 5 Jahre im Zuchthaus und Konzentrationslager gesessen, wurde zu einer „Bewährungskompanie" kommandiert, durch Kopfschuß verletzt. Gleich nach ihm erscheint ein früherer Patient, Isidor „Z i s t I e r" , „ Halbjude" bei mir, Idealist und Menschenfreund. Ich habe ihm einmal geholfen. Er will etwas für mich tun. Das Military Government habe angefragt, warum ich verhaftet worden sei. Man wolle sich für meine Sache interessieren. Ich weiß immer noch nicht, warum ich eingesperrt worden bin. Rechtloser Zustand!
Bei der Stadt Leipzig gestern 75 Entlassungen aus politischen Gründen. Massenentlassungen in Industrie und Wirtschaft wegen Mangels an Arbeit. Die Lebensmittelknappheit nimmt zu: Zuteilung von jetzt ab: Wöchentlich 3 Pfund Brot, 35 Gramm Fett, 100 Gramm Fleisch, monatlich ein Käse. Sachsen kann sich auf die Dauer nicht aus sich selbst ernähren. Vater H e I I w i c h hatte schon gesagt: „Dort werdet Ihr verhungern! Der Boden ist zu mager!" Die Eltern sind aber in Klein-Weitzschen, auf dem Lande, gut aufgehoben. Es heißt zwar, die Ostdeutschen sollten auf Befehl der Russen in ihre Heimat zurückgebracht werden. Aber das wird undurchführbar sein.
Fragebögen über Fragebögen! Bisher neun ausgefüllt !
Über „Brüder Karamasoff" nachgedacht. D o s t o j e w s k i als Verkünder der russisch-orthodoxen Erlösungsidee. Erlösung von der Urschuld des Hin

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und Hergetriebenseins zwischen Liebe und Haß, Gutmütigkeit und Grausamkeit, Zerknirschung und Überheblichkeit, Gott und Teufel. Die Menschheit kann nur erlöst werden, wenn sie orthodox geworden ist. Der Kommunismus als Heilslehre erhebt den gleichen Anspruch, nur mit anderen Vorzeichen: Die Menschheit kann nur - vom Kapitalismus - erlöst werden, wenn sie kommunistisch geworden ist. Sendungsbewußtsein dort wie hier. Beiden gemeinsam die Liebe zum Mütterchen Rußland. Väterchen war damals der Zar, jetzt ist es Stalin. Ich würde gerne mit einem Russen darüber sprechen. Aber wann wird das möglich sein?
26. Mai 1945: Mutter und älteste Tochter K e s s I e r haben sich von Hochweitzschen durchgeschlagen. Beunruhigendes in unserer dortigen Wohnung: Russische Soldaten haben Dr. S c h ö I m e r i c h (obwohl er Kommunist ist) und Dr. L e t s c h in der Küche eingesperrt, „Tuta" S c h ö I m e r i c h s (Antonias Tilsiter Schulfreundin) Kleid aufgerissen. Fräulein W e s t p h a I ist vor Angst aus dem Fenster gesprungen.
Trauriger, sorgenvoller Brief der Eltern aus Kleinweitzschen: Banden ziehen räubernd umher. Eltern haben 3 Wochen lang in ihren Kleidern schlafen müssen aus Angst vor Überfällen. Nachts muß einer von ihnen wach bleiben, Tagsüber schwere Land- und Gartenarbeit. Mamachen melkt täglich vier Kühe. Lottchen C o n n o r (Pianistin) mistet den Stall aus. Papachen sehr krank und schwach. Werden sie durchhalten?
27. Mai 1945: Kirchgang! Dankgottesdienst für Pfarrer N i e m ö I I e r in der Thomaskirche. N. nach 8-jähriger Haft aus dem Konzentrationslager Dachau befreit. Wegen Überfüllung der Kirche predigt Pfarrer Walter im Freien. „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten!" Gegenfrage: Warum so Viele nicht errettet, die Gott in der Not angerufen haben? Vom Pfarrer nicht befriedigend beantwortet. Trotzdem alles gerührt. Kollekte für die Bekennende Kirche (zu der sich auch Mamachen bekannt hat!)
Gespräch mit Frau T r e s p e r , meiner Fürsprecherin bei der US-Kommandatur. Abends mit Werner H a u ß und Werner W a g n e r : Dr. Alter , der Denunziant, mit Rot-Kreuz-Transport in Richtung Schweiz abgefahren. Boden zu heiß geworden. Über Drachenzähne gestolpert, die er gesät hatte.

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28. Mai 1945: Anruf Z i s t i e r : US-Geheimdienst („C.I.C.") könne vorerst nichts für mich tun, da ich „Pg." gewesen sei. Weiß das C.I.C. nicht, daß Mitgliedschaft nicht identisch mit Nazi-Gesinnung sein muß?
Ich kenne Nazis, die nicht der Partei angehörten, und Anti-Nazis, die, wie der Kommunist S c h I ö m e r i c h , der unter dem NS-Regime 9 Monate im Gefängnis gesessen hat, Mitglied der NSDAP waren! (Antonia hat ihm noch Lebensmittel in die Haft schmuggeln lassen!) Fragebogen-Justiz! Eine der vielen Formen des kollektivierenden Denkens unserer Zeit, das nichts mit Gerechtigkeit und dem eigenen Gewissen zu tun hat.
Es gibt immer noch bornierte Toren, die als Ursache der Katastrophe das „Versagen der Luftwaffe" (Stalingrad!), das Mißlingen des Mansteinschen Versuches, den Kessel von Stalingrad aufzubrechen, oder den „Verrat der Verbündeten" anschuldigen. Sie wollen - oder können - nicht einsehen, daß es die pöbelhafte Maßlosigkeit Hitlers war, die den Keim des Unheils barg und uns Alle mit sich gerissen hat.
29. Mai 1945: Nachts leichtes Rezidiv der Enteritis. Fühle mich körperlich noch recht schlapp. Blutdruck nur 105/70! W a g n e r auch krank. K a s t e I e i n e r und E r i n g a nach Hochweitzschen. Briefe an die Eltern mitgegeben. Nachmittags Dr. med. Dieter S a a g e r , Corpsbruder, wie ich in Widminnen geboren, von meinem Vater (mit Zange!) zur Welt gebracht, erscheint mit Kartoffeln, Gemüse usw. im Rucksack, gibt uns je ein Pfund ab. Werden wir ihm nie vergessen. Hat als Stabsarzt der Reserve und stellvertretender Regimentskommandeur (!) im Kessel von Heiligenbeil Schweres erlebt und überstanden.
Gespräch mit meinem Doktoranden Eckart F o e r s t e r über G o e t h e , H ö I d e r I i n , Rilke und über die Nieder- und Übergangs-Epoche der abendländischen Kultur. Ortega y Gasset : „C i c e r o hat Landhäuser, wertvolle Bücher, Geld und vor allem literarische Eitelkeit und den Dünkel des Konsuls. Da er an all diesen kleinen Dingen hängt, kann er sich blind machen gegen seine verborgene Verzweiflung ..." Auch wir hängen - bis auf die Landhäuser, die literarische Eitelkeit und den Dünkel des Konsuls an all diesen „kleinen Dingen". Aber wir haben sie verloren, und daher können sie uns nicht blind machen gegen unsere „verborgene Verzweiflung". Ihrer müssen wir uns mit anderen, stärkeren Kräften zu erwehren versuchen. Wann wird es wie

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der Bücher geben und wie lange wird es dauern, bis wir Geld haben, um sie kaufen zu können?
30. Mai 1945: In Leipzig sind 8000 Wohnungen beschlagnahmt worden. Sie müssen innerhalb von 24-48 Stunden geräumt und für Ausländer freigemacht werden, die aus Konzentrationslagern befreit worden sind. Die Ausgewiesenen stehen davor, die Frauen weinend, und packen ihre Habe zusammen. Ausgleichende Gerechtigkeit? Ist es „Schuld" der Menschen, daß Andere ins Konzentrationslager eingesperrt worden sind, und werden sie dadurch „bestraft", daß man sie aus ihren Wohnungen vertreibt? Ist es "Verdienst" der ehemaligen KZ-Insassen, daß man sie eingesperrt hat, und werden sie dafür „belohnt", indem man ihnen Wohnungen zuweist? Falsche Fragestellung! Es geht hier nicht um persönliche Schuld oder Nichtschuld, sondern um rein praktisch notwendige Maßnahmen: Für die ehemaligen Lagerinsassen muß Platz geschaffen werden. Die aus ihren Wohnungen Gewiesenen denken wahrscheinlich nicht an die Juden und die Antifaschisten, denen das Gleiche und noch viel Schlimmeres widerfahren ist. Was können wir dafür?" werden sie sagen. Sie empfinden die Ausquartierung als Unrecht. Aber gibt es nicht eine „Höhere Gerechtigkeit", die mit dem Anspruch des Einzelnen auf Gerechtigkeit nicht in Einklang zu bringen ist? Sind wir nicht Alle Getriebene, Gehetzte im Strudel der Zeit, Opfer - und Täter - des Fluches der bösen Tat, daß sie „fortzeugend immer Böses muß gebären"?
12. Juni 1945: Das Geschehen rast wie ein Film im Zeitraffertempo mit uns weiter. Jeder Tag bringt neue Erregungen, Erwartungen, Befürchtungen, Hoffnungen, meist aber Sorgen. Wie gut ist es, daß alle diese Emotionen sich nicht einfach summieren, sondern jeweils an- und abschwellen. Dadurch sind sie immer noch einigermaßen erträglich. Entlastend wirken auch Schlaf, Tätigkeit und - bei den Frauen! - Tränen. Ich komme mit dem Tagebuchschreiben kaum noch mit. Daher nur Streiflichter: Zu Gast bei Mutter und Tochter G r i e h I mit Herrn E i c h h o r n , der wegen antifaschistischer Tätigkeit zu vier Jahren Zuchthaus mit anschließender KZ-Lagerhaft verurteilt worden ist, danach Kommando zum Bombenentschärfen. Sympathischer Mann. Gespräch über Probleme der Weltwirtschaft, amerikanischen Kapitalismus, Weltanschauung sub specie pecuniae! Sozialismus als Rettung?

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Mein Hausarrest aufgehoben! Alle Mitglieder der NSDAP sollen aus ihren Berufen und Stellungen entfernt werden. Verschärfte Durchkämm-Aktion steht bevor. Ruth P i p e r berichtet, daß mehrere Medizinalräte des Städtischen Gesundheitsamtes fristlos entlassen worden seien, unter ihnen Dr. Schatz , der kein Nazi, nur formales Parteimitglied war. Wildes Denunziantentum breitet sich aus. Würdelosigkeit vieler Deutscher den Amerikanern gegenüber. Ein Amerikaner sagt: „Wir müßten vielen Deutschen erst einmal etwas Nationalstolz einbleuen!"
Es heißt, die Russen sollen Leipzig, ganz Sachsen und Ost-Thüringen besetzen. Massenhafte Angstreaktionen. Ungewißheit. Widersprechende Meldungen.
Erich R e c k , der Halbruder meiner Mutter, schwarzes Schaf der Familie, aus Gefangenschaft zu uns gekommen. Benimmt sich ordinär. Nach Besuch Isidor Z i s t I e r s : „Ist der Judenjunge endlich weg?" ! ! ! Ich werfe ihn hinaus! Er hat einen Passierschein nach Königsberg.
Dr. W a I I r a b e , wissenschaftlich arbeitender Pharmazeut, halbjüdischer Schwager von Suschen P a r k e t t , Antonias bester Freundin, bei uns. Weil er mit einer Nichtjüdin verheiratet war, ist er davon gekommen, aber jetzt noch ohne Stellung. Bescheidener Mann, vornehme Gesinnung.
Viel Unruhe bei uns. Wohnung wird etwas besser eingerichtet. Julianchen und Olafchen ein Trost. Moll-Stimmung, von Fräulein G r i e h I ausgehend, Überempfindlichkeit. Lebensmittel werden knapper und knapper. Prof. Bürg e r , Ordinarius der Medizinischen Universitätsklinik, hat für das Personal 950 Kalorien täglich berechnet, für die Krankenkost etwa 1300 Kalorien. Keine Zulagen erlaubt, auch nicht für Tbc-Kranke, außer für Patienten mit Hungerödemen.
Viele wollen in den Westen: M a t t h e s nach Göttingen, G a e t h g e n s (Gynäkologe, Oberarzt an der Univ.-Frauenklinik) nach Gießen, Werner H a u ß nach Frankfurt. Er ist als kommissarischer Chef von Dösen abberufen worden, vom C.I.C. verhört, aus der Wehrmacht entlassen.
Egoismus der Professoren ( B ü r g e r , B a e n s c h ) Gegenbeispiele: L e n d l e (Pharmakologie), Thomas (Physiologische Chemie), M a t t h e s (Innere Medizin): Untadelige Charaktere, schlicht, hilfsbereit, keine Opportunisten! K i m m i g (Dermatologe) berichtet, daß die Russen das Berliner Schering-Institut mit der PenicillinHerstellung und allen Mitarbeitern in die Sowjet

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Union deportiert hätten. Wer nicht mitwollte, bekam keine Lebensmittelkarten. Das AEG-Werk sei nach Leningrad gebracht worden.
Bei Herrn A r n s t , meinem Buchhändler, in dessen Antiquariat ich gerne schmökere und gerne etwas kaufen würde, wenn ich Geld hätte: Im russisch besetzten Dresden soll Ruhe herrschen, die Ernährung besser als hier sein, die Wirtschaft angekurbelt werden. Man behandele die ehemaligen Nazis dort relativ großzügig.
K a s t e i e i n e r , Frau R o I I y , Schwester Ottilie, Fräulein Friebe und unser Gretchen sind in Colditz von den Russen wegen Spionageverdachts verhaftet und in den Keller der Kommandantur gesperrt worden. K. hat aus dem Kellerfenster um Hilfe gerufen.
Die Eltern sollen bis zum 20. Juni nach Ostpreußen zurückgebracht werden. Haben Einspruch erhoben. Veras echter Teppich in Kleinweitzschen gestohlen. Sie will in den Westen. Ich rate ihr, vorläufig hier zu bleiben.
20. Juni 1945: Buntes Kaleidoskop von Geschehnissen: W a g n e r aus Gefangenschaft entlassen, Werner H a u ß im Lager Naumburg zurückbehalten. Frau K u h I b e r g bei mir (Ehemann Nervenarzt in Königsberg gewesen, von den Amerikanern eingesperrt und in ein Lager gebracht, durch frühere Tätigkeit beim Erbgesundheitsgericht als „kriminell" belastet!) Das 1933 erlassene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" ist in seinem Grundgedanken durchaus diskutabel, in seinem Mißbrauch und dem Mangel an wissenschaftlich fundierter Begründung der Begriffe „erbkrank", „erblich" und „vererbbar" inhuman. Berechtigt aber nicht zur pauschalen Diskriminierung der Ärzte und Richter, die an der Ausführung der damaligen gesetzlichen Bestimmungen beteiligt waren. Der Gedanke, erblich bedingte Krankheiten zu verhüten, hat eine lange, weit in die Zeit vor dem Nationalsozialismus zurückgehende und nicht auf Deutschland beschränkte Geschichte!
Besuch in den Anstalten Altscherbitz bei Dr. G r a b e und Schkeuditz bei Frau Dr. B r e c h I i n g . Sie ist von den Amerikanern über W a g n e r s und meine politische Haltung befragt worden, hat positive Auskunft gegeben.
Unsere fünf Häftlinge nach 24-ständigem Kelleraufenthalt entlassen.

Kommen die Russen? Kommen sie nicht? Niemand weiß Genaues.

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Der junge Dr. S c h m i d t bei uns. Idealistischer Kommunist. Läßt das Menschliche in seiner Personalpolitik nicht zu kurz kommen. Langes, gutes Gespräch.
Immer mehr Professoren und Dozenten gehen in den Westen. Pgs werden in der Stadtverwaltung reihenweise entlassen. Rektor der Universität erhebt Einspruch gegen die fristlose Kündigung der Professoren B a e n s c h (Röntgenologe), C a t e I (Pädiatrie), R i e d e r (Chirurgie) - erfolglos.
23. Juni 1945: Die Amerikaner deportieren einen für sie wichtigen Teil der Universität in den Westen: Das Theoretisch-physikalische, das Physiologischchemische, das Chemische, das Geographische, das Vitamin-Forschungs-Institut, alles mit Professoren, Assistenten und Hilfspersonal. Bei Weigerung wird mit militärischen Zwangsmaßnahmen (?) gedroht! Prof. T h o m a s steigt mit Tränen in den Augen in den Wagen. Familie, 2 Koffer, ein Rucksack dürfen mitgenommen werden. Irgendwelche Zusicherungen bezüglich des Bestimmungsortes, der Unterbringung, Bezahlung, der Arbeitsmöglichkeiten werden nicht gegeben. Scharfes Protestschreiben des Rektors: Ein derartiges Vorkommnis sei in der über 500-jährigen Geschichte der Universität Leipzig ohne Beispiel! Der Rektor sei von den Maßnahmen weder vorher noch nachher benachrichtigt worden! Er bitte die Militärregierung um Stellungnahme. Antwort: Sie habe den Protest des Rektors zur Kenntnis genommen und werde ihm nachgehen. Sie selbst habe von den Maßnahmen nichts gewußt und den Rektor daher nicht benachrichtigen können! (?) Es gebe Dienststellen, auf die die Militärregierung keinen Einfluß habe!
Damit können nur das Secret Service oder politische Stellen in Washington gemeint sein, die ihre Weisungen direkt an das Hauptquartier in Frankfurt geben. Dieses Verfahren erinnert an die Kompetenzen der Reichsleitung der NSDAP oder der Gestapo, auf Grund deren ebenfalls Weisungen unter Umgehung der zuständigen militärischen Dienststellen erlassen wurden! („Wie sich die Bilder gleichen!")
So wird Deutschland ausgeschlachtet. Was nicht durch Bomben zerstört ist, wird deportiert. Wissenschaft und Menschen werden als Ware gesehen, die beliebig an- und abmontiert, hin- und hertransportiert werden können. De rq adieung des Geistes zur Sache, des Menschen zum Gegenstand!

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Am Sonntag wunderbares Bach-Konzert in der Lucas-Kirche. Die Menschen, auch ich, sitzen auf den Treppenstufen des überfüllten Kirchenraumes. Ein Kammermusiker des Gewandhauses erzählt mir, die Amerikaner hätten kein Interesse am Fortbestand des Gewandhausorchesters. A b e n d r o t h , sein Dirigent, verhandle fast täglich, bisher erfolglos mit ihnen. Sie seien nur an Operettenmusik interessiert, verlangten ein Operettenkonzert für ihre Soldaten. Will man der Zivilbevölkerung andere, auch klassische Musik vorenthalten? Soll das auch Strafe für uns Deutsche sein? Das Ressentiment der Besiegten meldet sich!
Aus den täglich und stündlich hin- und herwogenden Gerüchten, Halbwahrheiten, Unwahrscheinlichkeiten, Möglichkeiten, Enttäuschungen, Hoffnungen schält sich so etwas wie eine „allgemeine Meinung" heraus: Die Amerikaner sind desinteressiert an diesem Teil Deutschlands und an uns Deutschen, sie verachten uns und schlachten uns aus. Letzte Hoffnung: Die Russen!
Ostpreußen, Oberschlesien, Pommern werden polonisiert, die Lausitz wird tschechisch. Die in diesen Gebieten verbliebenen Deutschen werden „ausgesiedelt", richtiger: vertrieben. Radikale Lösung des Minderheitenproblems.
Besuch bei Vater Hähnchen , Uralt-Kommunist! Partriarchenbart, Schwerkrank. Prächtiger Mann, gütig, klug, vornehme Gesinnung. Übereinstimmende Ansichten: Kapital kann nicht höchster Lebensinhalt, eigentlicher Daseinszweck sein. Befreiung von ihm bedeutet Hinwendung des Menschen zu sich selbst, zu höheren, immateriellen Werten. Die Frage, wie das Immaterielle dieser Erde mit dem Prinzip des dialektischen Materialismus zu vereinen sei, wußte Vater Hähnchen nicht genau zu beantworten.
24. Juni 1945: Mein Geburtstag. Besuch von Dr. Triller aus Braunsberg, Dozent für slawische Sprachen, Schwiegersohn meines Opthalmologie-Lehrers in Königsberg, Prof. B i r c h -Hirschfeld (auf der Flucht gestorben). Will nach Ostpreußen zurück. Hat polnische Beziehungen.
Schöner, nur allzu lebhafter Tag, von Antonia liebevoll gestaltet. Frau Elfriede W i I k e , unsere „Pythia", legt Karten: Vera und die Kinder werden eine „weite Reise machen!" Auf Veras Frage nach den Karten für Gretchen: „Davon sagen sie nichts!" Nachts gegen 12 Uhr Telefonanruf: Vera soll morgen früh um 5 Uhr mit den Kindern in einem von Adalbert beschafften Auto nach Westfalen, an

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die holländische Grenze gebracht werden! In aller Eile bis morgens gepackt. Wehmütiger Abschied. Gretchen darf nicht mit!. Nun sind wir allein. Verachen und die Kinder fehlen uns sehr!
Werner H a u ß aus dem Lager Naumburg entlassen. Dort KZ-Zustände! Hunger! Kein Brot! Gleiches wird mit Gleichem vergolten, früheres Unrecht durch neues ersetzt! Ältester Insasse 74 Jahre alt, jüngster 9 Jahre, Waisenknabe aus Berlin, von SS-Division mitgenommen, soll von amerikanischem Offizier adoptiert werden. Der Alte, ein geistig erstarrter Nazi mit weißem Vollbart und goldenem Parteiabzeichen, glaubt an den Endsieg! Kameradendiebstahl wird mit Spießrutenlaufen bestraft. Einer, der dabei aus dem Lager zu rennen versuchte, vom Posten erschossen! Annemarie hat Werner aus dem Lager als „dea ex machina" befreit!
Kommunistische Plakate gegen Bürgermeister V i e r I i n g (Sozialdemokrat). Weitere Echappeure gehen mit der Deportierungsaktion in den Westen: Haas (Pharmakologie), Wagner (Ophthalmologie), W e i n i g (Gerichtsmedizin), Otto (Otologie). Ich entschließe mich, hierzubleiben. Habe mir politisch nichts vorzuwerfen, verlasse mich auf meine Gewährsmänner. Russische Besatzung natürlich nicht ohne Risiko: Deportation? Familientrennung? Antonia hat Angst davor. Aber Flucht in den Westen ohne Stellung, ohne Wohnung, ohne Geld wäre ein noch größeres Risiko. Ich möchte auch meine Patienten nicht im Stich lassen, zumal Werner W a g n e r einen Passierschein nach Frankfurt erhalten hat, von dem er so bald wie möglich Gebrauch machen will. Ich nehme an, daß die Russen uns Ärzte, namentlich auch Fachärzte, brauchen werden. Sie sollen eine hohe Meinung von der deutschen Medizin haben. Hoffen wir, daß ich mich richtig entschieden habe.
Der Hunger beginnt sich bemerkbar zu machen. Seine psychologischen Wirkungen sind weit drastischer als die des Bombenkrieges: Bei meinen Visiten in Dösen muß ich drohende Hungerrevolten zu ersticken versuchen, was bei den Frauen noch schwieriger ist als bei den Männern. Die Hungerreaktionen sind je nach Persönlichkeitsstruktur, Erziehung, sozialem Status unterschiedlich: Primitivere werden aggressiv, Differenziertere resignieren, Affektlabile weinen, sind gereizt oder schimpfen. Hunger wirkt demoralisierend, der Selbsterhaltungstrieb erstickt höhere moralische Regungen. Im Gegensatz zum Verhalten

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im Luftschutzkeller vermißt man jede Hilfsbereitschaft. Ich kann wenig mehr tun als zu beruhigen, kleine Zulagen zu erwirken und für Bierhefe gegen Eiweißmangelsyndrome zu sorgen.
30. Juni 1945: Es geht jetzt nicht um die Frage, ob, sondern wann die Russen kommen werden! Abends Rundfunkmeldung: Besetzung Sachsens und Thüringens durch die Sowjetarmee steht unmittelbar bevor! Nun ist es soweit. Gewisse Entspannung nach der Ungewißheit.
1. Juli (Sonntag): Kritischer, sorgenvoller Tag. Antonia voller Befürchtungen: Ich könnte verschleppt, von ihr für immer getrennt werden. Tante Elsa H e I I w i c h (Baltin) habe gesagt: „Seht bloß zu, daß ihr nicht getrennt werdet!" Aber wie soll man das verhindern? Antonia steigert sich in ihre Angst hinein, ist nicht zu beruhigen, hat eigenartige Geruchshalluzinationen. Endlich Erlösung und Beruhigung durch Tränchen. Auch Gretchen weint - stundenlang!


Sowjetische Armee besetzt Leipzig


2. Juli 1945: Nachts Motorengebrumm, unaufhörliches, dumpfes Rollen: Die Amerikaner rücken ab! Kalter, grauer Morgen. Auf dem Weg nach Dösen sehe ich die ersten roten Transparente über den Straßen, rote Fahnen an den Häusern, Plakate: „Es lebe Marschall Stalin , der Bezwinger des Faschismusses" (!!) „Hoch die siegreiche Rote Armee!" „Leipzigs Antifaschisten grüßen die russischen Brüder!" „Wacht auf, Verdammte dieser Erde!" „Der Tag der Rache ist gekommen. Wir werden Richter sein!"
In der Innenstadt völlig verändertes Bild: Kleine Kolonnen mit pferdebespannten Fahrzeugen, wenig Kraftwagen. In den „Panjewagen" russische Soldaten kutschierend, rundliche Gesichter mit flachem Profil, z.T. mit mongolischem Einschlag (Kirgisen? Kalmücken?), einer mit langem Säbel an der Seite, eine Peitsche schwingend. Zwei russische Sanitätsoffiziere photographieren die Ruinen der Stadt. In der Windmühlenstraße stößt ein vor mir ungelenk radfahrender Russe einen deutschen Passanten um (aus Versehen!) fällt kopfüber hin, steht lächelnd auf, biegt das verbogene Vorderrad zurecht, fährt in wildem Tempo weiter. Den Russen, die eins der wenigen Autos steuern, merkt man an, daß ihnen diese Tätigkeit ungewohnt ist: Starr, leicht vornübergebeugt, etwas

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verkrampft sitzen sie am Steuer, schalten hart und geräuschvoll, machen überreichlichen Gebrauch von der Hupe und rasen durch die Straßen in kindlichnaiver Freude über ihr Motorvehikel. Das wirkt auf mich sympathischer als das lässig-routinierte Voltigieren der Amerikaner, die mit ihrem Motor verwachsen zu sein scheinen.
Wagner zurück von seinem Fluchtversuch in den Westen, deprimiert, war nicht über Leinefeld bei Kassel hinausgekommen, weil die Züge nicht weiterfuhren.
Abends völlige Ruhe in der Stadt, etwas unheimlich. Telefon ist abgestellt worden.
2. Juli 1945: Regen, Sturm, grau-verhangener Himmel, kalt. Mehrere Gewitter. Bedrohliche Stimmung. Erste Plünderungen werden bekannt, aber nicht die Russen plündern - Plünderer werden erschossen! - , sondern polnische Zivilarbeiter. Die deutsche Polizei ist machtlos, weil ohne Schußwaffen. Eine russische Militärregierung existiert noch nicht. Die Amerikaner waren über Nacht verschwunden, ohne die Stadt den Russen zu übergeben. Noch vor drei Tagen hatte der amerikanische Kommandant bei einem Besuch des Bürgermeisters nicht erwähnt, daß die Russen die Stadt am nächsten Tage besetzen werden! Auch Werner H a u ß hat vergeblich versucht, in den Westen zu gelangen. Nachmittags mit W a g n e r bei M a n n b o r g s , Werner H.'s Schwiegereltern. Tröstende Bouteille.
Gegen Abend überraschend Evchen C o n n o r mit Nino bei uns. Dramatischer Bericht über die letzten Tages des „Dritten Reiches", wie Ernst Wolf M o m m s e n , einer der engsten Mitarbeiter Albert S p e e r s , sie erlebt hat!
3. Juli 1945: In den Straßen immer weniger Autos. Balkanisierung des Stadtbildes! An den Ruinen des Postgebäudes am Augustusplatz stehen fünf Kühe angebunden, friedlich wiederkäuend, daneben russische Soldaten und Frauen. In den Hochparterre-Räumen der bisherigen amerikanischen Kommandantur in der Auerstraße sind ebenfalls Kühe untergebracht! Der „Schwarze Markt" am Hauptbahnhof wächst rapide: 100 Tabletten Süßstoff 20 Mark, eine Schachtel Streichhölzer 5 - 10 Mark, ein Brot 130 Mark usw. ! Mittags Plünderungen durch Polen in Schuhgeschäften und Weinlagern. Als ich zum Rektorat der Universität komme, um mein russisches „Off Limits" abzuholen, toben im daneben gelegenen Schuhgeschäft betrunkene Polen herum, auf der Treppe des Rektoratsge

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bäudes ist Wein in langen Rinnsalen ausgeflossen, Scherben liegen herum. Die deutsche Polizei hatte, nur mit Holzknüppeln „bewaffnet", vor den mit Messern versehenen Polen das Feld räumen müssen. Ich radele etwas unruhig nach Hause, finde aber noch alles in Ordnung.
Plakate kündigen Gewandhaus-Konzerte an, am Sonntag Symphoniekonzert zum Empfang der Roten Armee! Plötzlich geht's! Ein Punkt für die Russen! Auch Theater soll gespielt werden, Dantons Tod, als Oper Fidelio!
Die Plakate auf den Litfaßsäulen spiegeln das chaotische Zeitgeschehen wider: „Marschall S t a 1 i n sagt: Die Rote Armee kommt nicht als Unterdrücker, sondern als Freund des deutschen Volkes!" „Der antifaschistische Block begrüßt die Rote Armee!" „Eine furchtbare Bilanz - Zahlen über die Opfer des faschistischen Terrors!" „Lustmord in der Feldflur Glesien!" „Prometheus oder Christus? Vortrag von Professor Dedo Müller ". „Pst! Feind hört mit!" „Freiwillige für die Division Hermann Göring!" „Musikalischer Gottesdienst in der St. Lucaskirche!" usw., usw.
Rote Fahnen aus den Fenstern, aber nur wenige.
5. Juli 1945: Es gibt wieder Telefon! Vergeblicher Start Evas nach Hochweitzschen. Die Mulde strenger abgesperrt denn je. Unerhörtes Flüchtlingselend auf den Landstraßen. Röntgen-Gerät aus Schkeuditz, das wir dringend brauchen, kann von dort nicht abgeholt werden, weil eine Benzinsperre besteht und Wagen requiriert werden. Alle Versuche, Betten usw. für die Klinik zu beschaffen, scheitern am bürokratischen Widerstand der Verwaltungsbeamten. Auch das Chaos kann der Bürokratie nichts anhaben.
Schwester Charlotte: Russischer Offizier zu ihr: „in einem Vierteljahr haben wir Kriege mit Amerika!" und: „Nicht wir Russen haben die deutschen Städte zerstört, sondern die Engländer und Amerikaner!"
Man hat den Eindruck, daß die Russen sich bemühen, auf die Deutschen einen günstigeren Eindruck zu machen als die Amerikaner. Das scheint ihnen sogar zu gelingen. Jedenfalls vermeiden sie es, sich als Sieger und Lehrmeister in Demokratie aufzuspielen, sie verhalten sich eher als „Towarischtsch", Kameraden. Die Amerikaner haben ein striktes Fraternisierungsverbot, die Russen nicht.
Schwache Lichtblicke. Zwei russische Professoren waren bei Bürger und H u e c k (Pathologie-Ordinarius) und haben die baldige Wiedereröffnung

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der Universität in Aussicht gestellt. Sie sind stark interessiert an der deutschen Wissenschaft, im besonderen auch an der Medizin.
6. Juli 1945: Nachts ertönte die wohlvertraute Sirene: Plünderungsalarm! Ein Altersstift in der Denkmals-Allee ist geplündert worden. Deutsche Polizei machtlos. Die Russen kurbeln Wirtschaft und Industrie an, erteilen Aufträge an Lieferfirmen, versprechen Lieferung von Rohstoffen, z. B. Wolle an die Mitteldeutsche Wirkwarenfabrik Schkeuditz, verlangen Einstellung von mehr Arbeitern. Falls Aufträge mit der von den Gewerkschaften geforderten 40Stundenwoche nicht erfüllt werden können, muß länger gearbeitet werden! .Ein aus Rußland zurückgekehrter volksdeutscher Arzt meint, die Russen wollten uns tatsächlich nicht unterdrücken, sondern hier eine Art Renommiergebiet schaffen, um möglichst viel Produktion herauszuholen. Eine eigentliche Bolschewisierung halte er für unwahrscheinlich.
Vater Hähnchen hingegen meint, Deutschland werde eine Räte-Republik analog Bulgarien oder Rumänien werden, der Rußland landwirtschaftliche Erzeugnisse gegen Industrieprodukte liefern könne. Viele deutsche Arbeiter würden sich freiwillig nach Rußland melden!! (?).
H a u ß ist aus seiner Wohnung gesetzt worden. Wir vermitteln ihm eine neue.
Die roten Fahnen sind auf Weisung der Militärregierung eingezogen worden. Nur die Lastkraft-, Liefer- und Personenwagen haben ihre roten Wimpel behalten.
Hetzplakate gegen Bürgermeister V i e r I i n g . Soll abtreten. Russischer Offizier zu Schwester Charlotte: „Ein Mann, gegen den gemeckert wird, ist richtig an seinem Platz! V i e r I i n g soll bleiben."
Nachmittag bei Frau Ragna C a r r i e r e . Norwegischer Sänger.
7. Juli 1945: Russische Kommission beim Rektor! Universität soll zum Herbst anfangen! Nachmittags antifaschistische Kundgebung mit Frau Dr. Heinze (Ehemann von Nazis hingerichtet!) und Gewerkschaftsführer H a m m e r
Sonntag, 8. Juli 1945: Vormittags Krankenbesuche. Nachmittags Vortrag Prof.Dedo Müller (Ordinarius für Praktische Theologie und Ethik): „Prometheus oder Christus": Der pragmatische Positivismus und Aktivismus des 19. und 20. Jahrhunderts ist „prometheisch" geprägt. Der Mensch als Quelle schöpferischer Kräfte glaubt nur an sich selbst, an die Autonomie der Persönlichkeit. Metaphy

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sisches könnte seine schöpferischen Kräfte nur lähmen. „Ich kenne nichts Ärmeres Unter der Sonn als euch, Götter!" ( Goethes „Prometheus"). Dieser Prometheus-Mythos hat seine Wirkungskraft für uns verloren. Der Mensch hat sich nicht als das aus sich selbst schöpferische Wesen erwiesen, die menschliche Seele ist der Schau- und Kampfplatz nicht-autonomer Kräfte geworden. Die Erlebniskraft des Menschen reicht zum Erfassen des Geschehens unserer Tage nicht aus. Mächte, die außerhalb seiner Erlebnisfähigkeit liegen, haben ihn in ihren Bann geschlagen. Der prometheische „Selbstrausch" ist ein Wirklichkeitswahn. Der Mensch kann die Wirklichkeit aber nicht in der Absonderung von, sondern nur in der Beziehung zu Gott erleben und bewältigen. Der Machiavellismus hatte zu einer Einschränkung des Wirklichkeitsbildes geführt, er hat die Realität des „Du" der Realität des „Ich" geopfert. Zur Abkehr von Prometheus und zur Einkehr zu Gott kann der Mensch nicht durch eine „Lehre" oder ein „Gesetz" geführt werden, sondern nur durch die Nachfolge Christi. Der Mensch muß sich eine Wirklichkeitswelt erschließen, die mehr ist als er selbst: Gott! Frei wird er nur, wenn er göttliche Kräfte in sich einströmen läßt, nicht in der Auflehnung gegen Gott, sondern indem er sich ihm unterwirft. Schöpferisch ist er erst dann, wenn er in seinem Inneren geordnet ist, wenn er sinnhaft handelt. Das ist sehr schwer. Christus ist der Weg zur Synthese von Tat und Sinn. Er hat den Tod überwunden und damit auch den Selbsttod als letzter Konsequenz des prometheischen Menschen. In der Tiefe seines Herzens ist der Mensch vor Gott schuldig. Bekenntnis zur Schuld bedeutet aber nicht Lähmung, sondern im Gegenteil Entbindung der Schaffenskraft, Wiedergeburt eines neuen Menschen, der Humanität, der Weltbürgerschaft. Hier liegt die Aufgabe der Deutschen: Eine humane Brücke zwischen Ost und West zu bilden!"
So etwa habe ich Dedo Müllers, des christlichen Theologen, Vortrag in Erinnerung behalten - erhellend in unseren dunklen Tagen und auch wegweisend, wenngleich mit dem christozentrischen Absolutheitsanspruch nur zu einem von mehreren möglichen Wegen führend!
Hier war eine Stimme zu hören, die schon der Russe D o s t o j e w s k i hatte erklingen lassen: Wahrer Russe zu sein, heiße Bruder aller Menschen zu werden, „Allmensch", in brüderlicher Harmonie das zerstrittene Europa, den Westen mit dem Osten im Geiste des Evangeliums Christi zu versöhnen!

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Das ist ein anderer Ton als das plakatierte „Wacht auf, Verdammte dieser Erde! Der Tag der Rache ist gekommen! Wir werden Richter sein!"
9. Juli 1945: Eva nach Hochweitzschen. Unsere Lebensmittelvorräte werden knapp. Russische Offiziere besichtigen unsere Klinik. Ich sage ihnen, daß die Patienten nicht genug zu essen haben. Sie versprechen, für Zulagen zu sorgen. Ein russischer Soldat, der Brot aus einer Bäckerei gestohlen hat, wird von einem Vorgesetzten auf der Stelle erschossen!
Abends Unterricht in Russisch.
10. Juli 1945: Geharnischter Brief des Rektors gegen die Professoren und Dozenten, die sich der amerikanischen Deportierungsaktion freiwillig angeschlossen haben! Drohung mit Gehaltssperre und Dienststrafverfahren - beides illusorisch. Aufstellung einer Liste mit allen hier gebliebenen, unfreiwillig und freiwillig in den Westen gegangenen Universitätsangehörigen.
Meldung des Rundfunksenders Luxemburg: Rußland soll Hamburg und den Kaiser-Wilhelm-Kanal als Zugang zur Nordsee fordern und als Preis dafür Thüringen und Sachsen angeboten haben!?
Kleine Russengeschichten: Russischer Brückenposten an der Mulde gibt deutschem Landser vierzehn „kaputte Armbanduhren" gegen eine „gesunde Uhr"! Der Landser stellt fest, daß die 14 Uhren nicht gehen, weil sie nicht aufgezogen sind! Russischer Soldat mit Panjewagen und Pferdchen - ein zweites hinten angebunden schenkt einer Leipziger Frau das Pferd gegen eine Flasche Schnaps! Russischer Soldat sieht einen Jungen auf Fahrrad freihändig fahren, gibt ihm seines, nimmt dessen Rad, steigt auf, ohne die Lenkstange anzufassen und fällt hin!
11. Juli 1945: Ärgerliche anstrengende und vergebliche Jagd nach dem Röntgen-Gerät in Schkeuditz. Insulinvorräte an der Klinik reichen nur noch für etwa 10 Tage. Keine Aussicht auf Nachlieferungen. Schwerdiabetiker müssen sterben.
Abtransport von Maschinen aus den Betrieben beginnt. Verelendung und Hungersnot zu erwarten.
12. Juli 1945: Ärger über Fehlschlag mit Schkeuditz. Plakate der Kommandantur: Alles militärische Gerät wird beschlagnahmt. Unheimliche Ruhe in der Stadt. Auf den Straßen sieht man bereits Russen Arm in Arm mit deutschen Mädchen!

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Der Stadtkommandant Generalmajor T r u f a n o w sucht Quartier: Die Herfurthsche Villa ist ihm zu groß, eine andere zu klein, eine dritte ( J u n g m a n n ) richtig. Außerdem Versuchsgut Schönau als Sommersitz, zusätzlich Jagdrevier, da passionierter Jäger. Kulturelle Veranstaltungen gibt er großzügig frei. Allerdings mußten Fidelio und Gewandhauskonzert abgesagt werden, da man vergessen hatte, ihm Programm und Textbuch vorzulegen. Kinos sollen anlaufen, zunächst nur mit russischen Filmen über den Einmarsch in Berlin.
Ich fühle mich tagsüber schlapp und ohne rechte Spannkraft, könnte sonst soviel schaffen. Hunger? Hypotonie? Paradentose. Lese in Nestles „Griechischer Geistesgeschichte", „in ihrer Entfaltung vom mythischen zum rationalen Denken dargestellt" (Geschenk von Antonia zu meinem Geburtstag!) mit Gewinn und Genuß! Nestle beginnt mit dem schönen Wort Goethes: „Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren." Und er beendet seine Einleitung mit dem alten tiefsinnigen Wort, das er auf den Widerstreit zwischen mythischer und rationaler Weltbetrachtung, zwischen Religion und Philosophie, zwischen Glauben und Wissen anwendet: „Nemo contra Deum nisi Deus ipse." Frei übersetzt: „Niemand kommt gegen Gott auf außer Gott selbst."
13. Juli 1945: Nur noch vereinzelt Plünderungen in den Stadtrandgebieten. Die Russen beschlagnahmen weiter Autos, auch Privatwagen von Ärzten, Lieferwagen usw. Die Lebensmittelversorgung der Stadt ist gefährdet. Radiomeldung aus London: Vermögen der Parteigenossen und Amtsträger der NSDAP soll beschlagnahmt werden, Parteigenossen sind aus ihren Stellungen zu entlassen, bekommen den niedrigsten Verpflegungssatz.
22. Juli 1945: Alle Druckereien in Leipzig sind beschlagnahmt, die Druckmaschinen versiegelt, Maschinen in industriellen Betrieben werden vermessen und verladen, die Namen der Arbeiter, die die Maschinen bedient haben, werden aufgeschrieben (wie Herr J u rtsch mir erzählt).
Ein Gutsbesitzer aus Klein-Zlchocher berichtet, er habe von 100 Kühen nur noch vier. 60 seien von den Polen, die übrigen von den Russen beschlagnahmt worden. Ähnlich sei es ihm mit seinen Schweinen und Kälbern ergangen.
Die Straßen sind abends leergefegt von Fahrzeugen. Herr A. erzählt mir, er habe Leute gesprochen, die gesagt hätten, unter „Adolf' sei es doch noch am besten gewesen!! Kein Kommentar!

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Aus dem Gespräch der Melier und Athener bei T h u k y d i d e s (dem „furchtbaren" Gespräch, wie Nietzsche sagte): Zwei Weltanschauungen ringen miteinander: Die eine, von den Meliern vertretene, ist die hergebrachte, unter politischen Laien unausrottbare Meinung, die gerechte Sache müsse unter dem Beistand der Gottheit siegen. Die andere, zu der sich die Athener bekennen, ist die Ansicht, daß das Wesen der Politik Macht ist und daß das Recht sich nach der jeweiligen Macht richten müsse. Es gebe kein absolutes Recht, sondern das Recht bestimme sich immer nach dem Gleichgewicht der Macht, d.h. der Überlegene, der Mächtigere setze das Recht fest, dem sich der Unterlegene, der Schwächere zu fügen habe. Dies sei keine Ausgeburt menschlicher Willkür, sondern ein seit jeher bestehendes und ewig wirksames Naturgesetz. Wer sich darauf verlasse und danach handele, befinde sich mit dem Göttlichen mehr im Einklang als derjenige, der dem naiven Glauben huldigt, die Gottheit werde der sogenannten „gerechten Sache" zum Siege verhelfen! Man mag das als grausam oder brutal empfinden, aber: „Es ist so, und wer sich dagegen zu stemmen versucht, der wird zermalmt." Soweit T h u k y d i d e s in Nestles Darstellung. T h u k y d i d e s habe seine Lehre von der Recht schaffenden Macht als dem „Grundgesetz der Politik und der Geschichte" von der Denkweise der Sophisten übernommen und mit ihr die Geringschätzung der Demokratie und der Massenherrschaft. Wir Deutsche haben unter H i t I e r erleben müssen, wie unheilvoll sich die Lehre vom Recht des Stärkeren und der Verachtung der Demokratie bestätigt hat, und wir erleben jetzt unter anderem Vorzeichen, daß der Sieger bestimmt, was Recht ist!
Gegen die Massenbeschlagnahmungen durch die Russen erheben die antifaschistischen Vertreter, allen voran der Kommunist S e I b m a n n , scharfen Einspruch. Aber ihnen wird entgegnet: Hitler hat Rußland verwüstet und die Russen hungern lassen - jetzt seid ihr dran!
Gestern nachmittag bei Frau T r e s p e r , meiner Fürsprecherin bei den Amerikanern, die mich eingesperrt hatten. Jetzt hat sie sehr nette russische Einquartierung!
Plakate der kommunistischen Partei: Das sowjetische System eignet sich nicht für Deutschland! Die Russen selbst betonen, daß der Bolschewismus etwas ganz anderes sei als der deutsche Kommunismus! ( S c h ö I m e r i c h wird enttäuscht sein!). Die „klassenlose Gesellschaft" in der Sowjetunion sieht so

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aus, wie ich es in einem russischen Kaufhaus in Dnjepropetrowsk gesehen habe: Im Erdgeschoß Abteilung für Arbeiter mit billigen Sachen, im Obergeschoß Abteilung für Angestellte mit etwas teureren Angeboten, darüber Abteilung für Beamte mit noch teureren Dingen, ganz oben Abteilung für Parteifunktionäre mit entsprechenden guten und noch kostspieligeren Angeboten!
Im Unterschied zur deutschen Wehrmacht ist die Verpflegung in der sowjetischen Armee für Offiziere besser als für Mannschaften! Ein Hauptmann bekommt 1400,- Mark (in deutsches Geld umgerechnet) Monatsgehalt, zahlte Werner Hauß in der Sprechstunde 60,- Mark statt 20,- Mark!
Dreier-Konferenz in Berlin seit dem 17. Juli ( S t a I i n soll mit C h u rc h i I I 1 '/2 Stunden lang diniert haben. Das Ergebnis wird unser künftiges Schicksal bestimmen.)
Eva nach Hamburg, Gretchen nach Gescher. Die Demarkationslinie im Harz wird äußerst scharf bewacht. Die Posten schießen sofort. Illegale Grenzgänger werden in Lager gesperrt. Preis für eine Grenzpassage von Frauen: Eine Vergewaltigung! Es gibt neuerdings "Fluchthelfer'", die alle Stege und Wege, Grenzposten usw. kennen und die Grenzgänger von Ost nach West für einige Hundert Mark geleiten.
Neuer Oberbürgermeister von Leipzig Dr. Z e i g n e r (Sozialdemokrat), früherer sächsischer Ministerpräsident, Zweiter Bürgermeister Roßberg (Kommunist).
„Antifaschistischer Blockwart" besichtigt unsere Wohnung!
4. August 1945: Hedchen J a g d t bei uns. Beglückende, unvergeßliche Stunden! Sie hat ihre sterbende Mutter in Braunsberg zurücklassen müssen und ist, über das zugefrorene Frische Haff geflüchtet, gerade noch mit dem Leben davongekommen. Nachmittags mit ihr bei Frau S t e n d e r h o f f , der Witwe des Dipl.-Psychologen Dr. St., der beim letzten Bombenangriff auf Leipzig getötet worden ist. Sie hatte ein Kind erwartet, und ich mußte ihr die Nachricht vom Tode ihres Mannes überbringen. Er war ein Mann, bei dem ich das Gefühl empfand, er könnte mein Freund werden, seitdem er verständnisvoll und gescheit in der Diskussion auf meinen Vortrag über „Psychisch-nervöse Reaktionen auf Fliegerangriffe" in der Medizinischen Gesellschaft eingegangen war.
Seine Frau hat mir aus seiner Bibliothek die von Nicolai Hartmann herausgegebene „Systematische Philosophie" mit dem berühmten Beitrag des

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Herausgebers „Neue Wege der Ontologie" vom Mai 1942 geschenkt und zum Andenken an ihren Mann S t e n d e r h o f f s Monographie über die Psychologie des Pessimismus am Beispiel L e o p a r d i s in die Hand gedrückt, als ich sie mit der Todesnachricht besuchte. ( S t e n d e r h o f f s Eltern sind die Besitzer der alten bekannten Universitätsbuchhandlung in Münster.) Ihm verdanke ich die ersten Anregungen zur Beschäftigung mit dem Thema Nihilismus"!
Inzwischen geht die Beschlagnahme und Registrierung von Industriebetrieben, Maschinen, Lebensmittellagern usw. weiter.
Ergebnis der Potsdamer Konferenz: Königsberg fällt mit Nordostpreußen an Rußland, Mittel- und Südpreußen an Polen. Unsere geliebte Heimat unwiederbringlich verloren. Die östlich der Oder-Neißelinie noch verbliebenen Deutschen müssen heraus, sollen in Mitteldeutschland untergebracht werden, das bereits übervölkertes Notstandsgebiet ist. Mit den vertriebenen Sudetendeutschen sollen das etwa 16 Millionen Menschen sein: Fluch der bösen Tat - H i t I e r s Erbe! Was bleibt den Menschen, wenn sie alles verloren haben? Was bleibt denen, für die mit dem Nationalsozialismus „eine Welt zusammengebrochen" ist? Nichts, was ihrem Leben noch einen Sinn geben könnte? Kein Glaube an überzeitliche Werte, eine lebendige Idee, eine geistige Kraft? Über dem Kult des Lebens haben sie vergessen, sich auf den Tod einzurichten, über dem Glauben an den „Führer" haben sie den Glauben an Gott verloren.
7. bis 9. August 1945: Seit 4 Monaten wieder zum erstenmal in Hochweitzschen. Lehrreiche Enttäuschungen. Bei eigenen Schwächen ertappt, von Antonia korrigiert. Wiederberührung mit der reinen Natur nach der langen Zeit des Lebens zwischen Großstadtruinen. Fahrt über die Mulde wieder frei. Die von der deutschen Wehrmacht sinnlos gesprengten Brücken bei Großbothen und Leisnig sind notdürftig zusammengeflickt.
23. September 1945: Inzwischen 5 Wochen lang W a g n e r vertreten. Schwierige Umstellung auf zweite Rolle in der Klinik. Er meint, ich zöge die Patienten an mich, fühlt sich zurückgesetzt! Das war nicht meine Absicht. Offene Aussprache, Klärung, Ausgleich. Ethisches Alltagsproblem unserer Zeit: Egoismus des Anderen verleitet zum eigenen Egoismus, Mißtrauen Anderer zum eigenen Mißtrauen, Unwahrhaftigkeit zu eigener Unwahrhaftigkeit! Man muß höllisch auf sich aufpassen, um nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Die Masse zieht nach unten, sie wünscht nur, die nackte Existenz zu behaupten und zu sichern -

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auf Kosten der Anderen! Hier muß der Wille ansetzen, dem Zug nach unten durch höhere Kräfte entgegenzuwirken: Der Unwahrhaftigkeit durch das Bemühen um Wahrheit, dem Mißtrauen durch Vertrauen, der Eigenliebe durch Nächstenliebe zu begegnen. Jeder sollte versuchen, als Einzelner dem Massenegoismus zu widerstehen, Keimzellen der Erneuerung aus der Asche des Unterganges zu bilden, Werte zu retten, die zugrundegegangen sind: Ehrfurcht, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und vor allem anderen: Liebe! Liebe im urchristlichen Sinne und im Sinne S p i n o z a s : „Wenn ich dich liebe, was geht's dich an!" Utopie? Zu hoch gesteckte Ideale? Ja, aber Leit-Ideen, an denen wir uns zu orientieren wenigstens versuchen sollten und könnten, nicht mit Worten, sondern durch Handeln, Vorleben. Ich habe die Hoffnung, daß sich in einzelnen Menschen, in kleinen Gemeinschaften Keimzellen eines Erneuerungsprozesses, Fermente eines Umschmelzungsvorganges der durch das Fegefeuer des Grauens und der Vernichtung "geläuterten" Menschheit entwickeln werden! Nicht aber in Kollektiven und Ideologien!
Äußeres Geschehen in der Zwischenzeit: Eine nicht abreißende Kette von Registrierungen, Fragebögen, Kommissionen, drei Fakultätssitzungen, Verhaftungen am laufenden Bande, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahme von Möbeln, Teppichen usw. in Privatwohnungen, Sperrung der Bank- und Postscheckkonten, Stop der Gehaltszahlungen und Pensionen, Schließung der Banken, die in eine „Sächsische Landesbank" umgewandelt werden sollen. Immer noch Gerüchte, die Russen gingen weg, Leipzig bekomme eine englische oder gemischte Besatzung - Wunschphantasien! Hunger greift um sich, die Selbstmordziffer steigt an, sogar unter Katholiken, wie der Pfarrer Dr. Spülbeck berichtet. Wo bleibt der Halt, den die Kirche geben soll? Aber wofür und wie soll eine einfache Frau noch leben, die ihren Mann verloren hat und ihre Kinder nicht satt machen kann?
Neulich in der Poliklinik eine Mutter mit 4-jährigem Jungen, diphtherische Stimmbandlähmung, zum Skelett abgemagert, blaß, klammert sich mit flehendem Blick an die Mutter und sagt mit seinem heiseren Stimmchen immer wieder: „Butterbrot, Butterbrot!" Unter den klinisch Kranken mehren sich die Fälle mit Eiweißmangel- (Hunger) Ödemen. Wir können nicht helfen, da die bisherige Zulage von tierischem Eiweiß wegfällt. Die ehemaligen Parteigenossen werden in die unterste Verpflegungsgruppe eingereiht. In Leipzig hat es drei Wochen

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lang kein Fleisch und keine Butter gegeben. Hunger demoralisiert schnell, wie man täglich beobachten kann.
Heute sah ich in Kleinweitzschen ein elternloses Flüchtlingskind, 7-8 Jahre altes Mädchen, völlig verwildert, spricht kaum, weiß seinen Familiennamen nicht, schläft bei zwei russischen Soldaten, die es irgendwo aufgegriffen haben, verkriecht sich nachts in Scheunen und Autos. Ich frage sie nach ihren Eltern keine Antwort - , woher sie käme keine Antwort -, schließlich „Betest Du auch zum lieben Gott?" Antwort: „Lieber Gott, H i t I e r , Pfui, pfui ..." (Spuckt mehrmals aus!) Recht hat sie!
Hedchen J a g d t inzwischen zweimal bei uns. Beglückende Tage. Sie sollte sich in Langensalza den von den Russen angeordneten Untersuchungen auf Geschlechtskrankheiten unterziehen, hat das aber unter einem Vorwand gerade noch vermeiden können! Unser armes, wirklich keusches Hedchen!
Ein anderer Lichtblick: Professor W e I I e r , Orientalist, reaktive Depression. Begegnungen mit ihm und seiner Frau bereicherndes menschliches und geistig belebendes Erlebnis!
Mehrere Russen und Russinnen in der Poliklinik untersucht und behandelt. Darunter ein Sergeant mit Impotenz! In seinem selbstgeschriebenen Sprachführer Russisch-Deutsch fand ich die Sätze: „Gib mir einen Kuß!°, „Hast Du mich lieb?", gleich danach: „Politischer Führer"! Gutmütiger und dankbarer Mensch. Schenkt mir Brot, Margarine und Äpfel, zieht einen 50,- Markschein aus der Seitentasche und überreicht ihn mir. Ein anderes Mal die Frauen eines Obersten und eines Majors behandelt: Beides robuste, kräftige, wohlgenährte Frauen, aber unter erheblichen funktionell-nervösen Störungen leidend: Schreckhaftigkeit, tic-artige Gesichtszuckungen, Kopfschmerzen, Vasolabilität, Schilddrüsen-Überfunktion usw. Die Obristenfrau hat als Offizier Seite an Seite mit ihrem Mann an der Front gekämpft und im Mai eine Gehirnerschütterung erlitten, die andere hat als Ingenieurin in Fabriken schwer gearbeitet und ist jetzt als Sekretärin kriegsdienstverpflichtet. Beide Frauen haben im Kriege ihren „Mann gestanden", das Weibliche in sich zurückgedrängt, Ängste durch Pflichtgefühl und Disziplin abgewehrt, und nun, nach dem Wegfall dieser aufgezwungenen Fassadenhaltung, bricht das künstlich Zurückgestaute durch und entlädt sich in psychosomatischen Gesundheitsstörungen. Wir kennen diesen Vorgang unter der Bezeichnung „Entlastungsdekompensation" sehr gut.

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In der Klinik endlose Schwierigkeiten und Ärgernisse mit den Instandsetzungsarbeiten und dem Rücktransport der ausgelagerten Bestände, besonders auch der Bibliothek! Wieviel Aufwand an Zeit, Geduld und abgebremstem Affekt „schmählich ward vertan!" Simpelste Dinge werden zu zentralen Problemen. Dazu die allgemeine Unsicherheit und Unberechenbarkeit der gegenwärtigen Situation! Das täglich neue Sorgen und Fragen: „Was wird aus uns? Wie werden wir den Winter überstehen? Was tue ich, wenn ich meine Stellung verliere? Alles dies absorbiert so viel von der seelischen und geistigen Substanz, daß für die eigentlich sinnvolle Aufgabe, die Arbeit an der Forschung und Lehre, nicht mehr viel übrig bleibt. Ein Trost ist nur, daß die nicht minder sinnvolle Aufgabe, die therapeutische Arbeit an meinen Kranken, trotz der Zwänge jener Vordergründigkeiten und der Zeitverschwendung nicht zu kurz kommt. Je weniger ich mit Medikamenten, deren es täglich weniger und weniger gibt, helfen kann, desto mehr versuche ich den Patienten menschlich, im klärenden und ermutigenden Gespräch zu helfen. Aber auch das hat seine Grenzen bei schweren organischen Erkrankungen. Wie soll eine funikuläre Myelose bei perniziöser Anaemie ohne Leberpräparate therapiert werden, die nicht mehr zur Verfügung stehen? Wie soll man Hungerödeme bei Polyneuropathie behandeln, wenn es keine Eiweißzulagen gibt? Ich versuche, aus einer Brauerei Bierhefe als Ersatz zu bekommen, notdürftiger Ersatz. Zuspruch und Trost werden zur Lüge, wenn ich dem Patienten nicht geben kann, was er zur Gesundung braucht. Es ist schwer, bei solchen Fesselungen des ärztlichen Handelns nicht zu resignieren.
29. September: Ich bin durch einen russischen Offizier registriert worden. Was bedeutet das? Ich weiß es nicht. Der Mensch wird zur Nummer, zur Sache, zum manipulierbaren Objekt eines totalitären Systems, das die Nachfolge des untergegangenen angetreten hat und nun bestimmt, was „Recht" und „rechtens" ist.
Heute Feiertag für die Opfer des Faschismus! „Karl-Marx"- (der frühere Augustus-) Platz mit riesigen roten Fahnen, Pylonen und einem Aufbau mit Tribüne am Theater geschmückt.
Bei Vater H ä h n c h e n , der mich mit kommunistischer Literatur versorgt. Geruhsames Wochenende in Hochweitzschen.
5. Oktober 1945: Sitzung aller Mitglieder der Medizinischen Fakultät beim Oberbürgermeister. Professor B r u g s c h , früherer Ordinarius für Innere Medizin in Halle, von den Nazis aus dem Amt gejagt, jetzt Personaldezernent bei der

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Zentralverwaltung in Berlin, leitet die Sitzung und fordert die „Säuberung des Lehrkörpers" als Voraussetzung für die Wiedereröffnung der Universität!
Konkretes Ergebnis der Sitzung: Großes Fragezeichen!
12. Oktober 1945: Zur „Säuberung des Lehrkörpers" wird eine Kommission gebildet, der Schölmerich , Dedo Müller und Prof. Niekisch angehören.
14. Oktober 1945: S c h ö I m e r i c h verabschiedet sich telephonisch von uns, er geht nach Berlin in die Zentralverwaltung, verspricht, daß er für mich sorgen und versuchen werde, mich für das Ordinariat in Leipzig vorzuschlagen !!(?) Von der Aktion B r u g s c h sei ihm nichts, von der Existenz der „Säuberungskommission" nur etwas „vom Hörensagen" bekannt !! Inzwischen sind wieder andere Kommissionen gegründet worden. Chaotische Zustände!
Ich lese die Reden von Robespierre , St. Just , Lassalle, Liebknecht und die Leibniz-Biographie von C o l e r u s
Die Ethik S p i n o z a s ! Gewaltiges Wort: „Wer Gott liebt, kann nicht wünschen, daß Gott ihn wieder liebt." Abstrakter Rationalismus als „Religion"? Ist das noch „Religion"? Ja, wenn sie gelebt wird. Und das hat S p i n o z a getan. Nein, wenn sie nur gedacht wird. Und das tun die Rationalisten mit ihrem liebelosen Vernunft- und Tugendglauben. Für sie ist Liebe eine Abstraktion vom Transzendenten, Göttlichen, das es nicht gibt. Sie ist ein immanentes Phänomen, das vom Menschen in die Welt hineingelegt wird. Ergebnis? Bei S p i n oz a eine Ethik „more geometrico", bei C a I v i n eine puritanisch-kalte, intolerante Doktrin, bei R o b e s p i e r r e das terroristische Massacre „im Namen der Tugend", bei unseren heutigen Atheisten ( S c h ö I m e r i c h u. A.) der ideologisch legitimierte Machtwille, dem die Nächstenliebe untergeordnet wird. Allen diesen Rationalisten fehlt die Wärme und die Festigkeit des Glaubens an eine höhere göttliche Macht und damit ein letzter innerer Halt, der „höher ist als alle Vernunft"! Diese Einsicht soll uns aber vor Oberheblichkeit bewahren!
Der Glaube an die alleinige Wahrheit der sozialistischen Idee ist ein Glaube an etwas vom Menschen Geplantes, von ihm allein Realisierbares, der Glaube an das irdische Paradies sozialer Gerechtigkeit. Auch ich glaube an die Notwendigkeit einer Idee als das Leitziel größerer Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft. Aber ich weiß, daß die sozialen Mißstände nicht allein durch ideologisch starres Planen und mit den Mitteln politischer Macht bekämpft werden können,

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sondern daß es dazu auch einer „metaphysischen" Basis, einer ethischen und religiösen Fundierung bedarf. Ein Sozialismus ohne Gott wird scheitern, wie der Mensch scheitern wird, der sich an die Stelle Gottes setzt. (Aber wer und was ist ..Gott" ? Letzte und eigentliche Wirklichkeit ?)
Nur, wenn wir als Dienende, nicht als Herrschende an die Aufgaben herangehen, vor die uns die sozialen Probleme stellen, wird Gottes Segen auf ihnen ruhen. Das hat nichts mit Kirchengläubigkeit und -hörigkeit zu tun. Es ist eine einfache Konsequenz aus der Geschichte des HitIerschen wie des Lenin-StaIinschen „Sozialismus"
16. Oktober 1945: Gestern und heute hat die „Säuberung des Lehrkörpers" durch eine Kommission aus Dresden begonnen, bestehend aus einem Dr. T r a e g e r , Vertrauensmann der GPU (!) und Dr. M e n k e- G I ü k e rt , Staatssekretär bei der Sächsischen Landesverwaltung. Ergebnis: Alle Dozenten meiner Generation sollen die Lehrbefugnis verlieren (mit Ausnahme eines Herrn, der rechtzeitig einer antifaschistischen Partei beigetreten ist! Inzwischen ist aber auch ihm gekündigt worden!) Die Entscheidung über den Entzug der Lehrbefugnis liegt bei der Zentralverwaltung in Berlin. Die Ordinarien gelten als unersetzbar, soweit sie nicht politisch schwerer belastet sind. Aber in Halle sind auch „politisch Belastete" als Hochschullehrer mit einer dreijährigen „Bewährungsfrist" im Amt belassen worden.
Warum geschieht das nicht in Leipzig? Warum gibt man den ehemaligen NS-Parteigenossen nicht die Möglichkeit, ihren Willen zur Mitarbeit im antifaschistischen Sinne zu beweisen? Hält man es für „gerechter", eine ganze Generation von Universitätslehrern ohne Aussicht auf einen qualifizierten Ersatz auszuschalten?
18. Oktober 1945: 11 Tage Urlaub in Hochweitzschen. „Der letzten Tage (Monate! ) Qual' war groß!" Ruhe, Entspannung. Kalorien!
D o s t o j e w s k i : „Die Erniedrigten und Beleidigten" ! Nicht so groß wie die „Karamasoffs", aber auch voller psychologischer Feinheiten und erschütternd in der Zuspitzung der Konflikte.
22. Oktober 1945: In den umliegenden Ortschaften sind Fabrik- und Gutsbesitzer mit ihren Familien verhaftet und deportiert worden. Wohin? Arbeitslager? Sibirien? Ural? Warum? Als „Kapitalisten", also „Verbrecher"! Wenn man konsequent wäre, müßte man jeden, der eigene Hosen anhat, »enteignen" und mit

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Gemeinschaftshosen versehen! S c h ö I m e r i c h praktizierte seinen antikapitalistischen „Sozialismus" dadurch, daß er in Hochweitzschen, als ich in Leipzig war, meine Hemden trug, Teile des Eßgeschirrs Antonias bei Einladungen (Gelagen?) seiner Genossen zerbrach, während seine aus Tilsit stammende Frau, Tochter eines Hotelbesitzers, sich den Pelz der in die USA entschwundenen Frau des Röntgenologen Prof. B a e n s c h aneignete. „Eigentum ist Diebstahl" sagt Pierre Josef P ro u d h o n in „Qu'est - ce c'est que la propriete?" Ja, wäre hinzuzufügen, falls es einem Anderen gehört!
24. Oktober 1945: Allgemeine Beunruhigung wegen der zahlreichen Verhaftungen in der Umgegend. Eine sechsköpfige Familie, Bekannte der Frau H e I m , bei der die Eltern Hellwich untergekommen sind, ist mit neugeborenem Kind verhaftet und mit Lastkraftwagen abtransportiert worden. Die Leute sind keine Nazis gewesen! Aber eben „Kapitalisten"!
Dr. Kayser und Dr. K n a b als „alte Parteigenossen° fristlos entlassen! K a y s e r war 19 Jahre alt, als er in die Partei eintrat! Soll man einen jungen Menschen zur Strafe für einen pubertären Idealismus um den Beruf und damit um seine Lebensaufgabe bringen? Das Bedrückendste ist für mich, daß man für eine Sache leiden muß, den Nationalsozialismus, die man schon seit langem abgelehnt hat! Wie leicht hat es dagegen der Märtyrer, der für eine Idee leidet, die es wert ist, daß man seine Freiheit oder, wenn es sein muß, sein Leben für sie opfert! Die Lage, in der wir sind, ist die tragische Situation des Bürgertums (nicht nur des deutschen!), das zwischen zwei geschichtlichen Epochen und zwei ideologischen Systemen steht: Als wir nach der Machtübernahme 1933 in die NSDAP eintraten, wurden wir nachsichtig lächelnd empfangen - man nannte die im März 33 Eingetretenen die „Märzgefallenen" - „Aha, jetzt endlich beliebt es den Herren Akademikern, zu uns zu kommen. Wo waren Sie denn, als wir für den Führer und die Partei gekämpft haben?" Jetzt heißt es: „Erst nach dem Zusammenbruch des Faschismus entdecken Sie Ihre antifaschistische Gesinnung! Vorher haben Sie schön mitgemacht!" Das stimmt zwar nicht bei Leuten wie mir, die sich schon längst von dem Regime - innerlich - abgewandt hatten. Aber heute wie damals gelten wir Bürgerlichen als die Hinterherhinkenden, die Zuspätgekommenen. Das „Hinterherhinken" kann aber eine positive Seite haben: Die kühlere Distanz, die nüchterne Kritik in der Beurteilung der jeweiligen politischen Richtungen und Systeme, die größere Möglichkeit, die geistige Frei

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heit und Selbständigkeit zu wahren und zu festigen! Wir sollten die Chance nutzen, den bürgerlichen Provinzialismus abzulegen und Welt-Bürger im Geiste zu werden! Aber: Wird unser Bürgertum diese Chance erkennen und nutzen können?
Voraussetzung ist der Abbau der Schranken und Vorurteile innerhalb unserer Klassengesellschaft. Aber nicht der Ersatz des Bürgertums durch das Proletariat! Sondern das - utopische - Ziel einer wirklich klassenlosen Gesellschaft müßte eine Einstellung sein, mit der der Einzelne sich nicht in erster Linie als Demokrat, Kommunist, Christ, Arbeiter, Akademiker usw. verstehen, sondern als Mitmensch, als Bruder - D o s t o j e w s k i scher Gedanke!
24. Oktober 1945: Gestern Abend interessantes Gespräch mit Herrn E I I rot h , Sekretär der Kommunistischen Partei Deutschlands in Sachsen. Lädt mich zu Diskussionsabend in der Universität ein. Hat Briefwechsel mit dem Rektor, Prof. Schweitzer (Altphilologe) geführt, äußert Toleranz den Bürgerlichen gegenüber, aber auch Notwendigkeit der Demokratisierung, unter der er natürlich das Bekenntnis zum Marxismus-Leninismus versteht.
Köstliche Herbsttage! Glasklare Luft! Goldbuntes Laub! Braune Felder! Vollmond. Geruhsame Tage.
Doktor-Arbeit referiert. Krankenbesuch. S p i n o z a s Ethik! Er unterscheidet schon deutlich die Erscheinungen von den Dingen „an sich", empirisches von spekulativem Denken, steckt die Grenzen des Erkennbaren ab. Also schon Vorläufer von Ka n t . Imponierende Ruhe und Klarheit des Denkens bei S.!
Als Gegenstück K o I b e n h e y e r s „Bauhütte", „Metaphysik der Gegenwart", unruhiges, vielfach unklares, trotz vieler Gedanken einförmiges Denken, zum Teil bombastisch, schwülstig. Das Leben als „Anpassungsvorgang", das Denken ein „differenziertes Anpassungssystem"! Für Begriffe wie „Sinn", „Gott" ist kein Platz. Dafür immer wieder „Volk", „Rasse", als ob es sich hierbei um wissenschaftlich faßbare biologische Einheiten handele! Bald wieder aus der Hand gelegt. Kein Gewinn.
Dafür noch einmal B e n r a t h s „Mutter der Weisheit" gelesen, köstlich erholsam, französisch anmutender Esprit, auch Tiefes und Kulturkritisches. Feiner Humor. Ausschnitt aus der bürgerlichen Gesellschaft der Vorkriegszeit (1912).

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28. Oktober 1945: Sonntag! Wieder daheim in Leipzig. Was wird die nächste Zeit bringen? W a g n e r wieder nach Westen. Besuch Frau S e h m s d o r f s und Frau H o f f m a n n s . Frau S. immer noch NS-orientiert! Ich versuche, ihr klarzumachen, daß der Nationalsozialismus (ähnlich wie der Kommunismus) das Materielle, Triebhafte, Biologische an die Stelle des Geistigen, Ideellen, Immateriellen setze, also ein Materialismus im Gewande des Idealismus („Vaterland", „Volksgemeinschaft" usw.) sei. Beides seien Heilslehren als säkularisierter Ersatz für die christliche Religion, Diesseits-Glaubenslehren mit dem Anspruch, die Herrschaft des Menschen an die Stelle der Herrschaft Gottes zu setzen. Wird es bei Menschen, für die mit dem NS-Regime eine Welt zusammengebrochen ist", ein „Metanoeite!" geben?
3. November 1945: Fakultätssitzung. Neue Listen. Begründung der Unersetzbarkeit der politisch Belasteten. Staats-Telegramm der Russischen Militär-Administration an den Rektor: „Alle Männer und Frauen im Öffentlichen Dienst, die Angehörige der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen waren, sind bis zum 5. November, spätestens zum 15. November zu entlassen!" Tableau!


Fortsetzung siehe TEIL 2!

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