Drei tröstliche Erfahrungen

Die Familie sammelt sich in den Januartagen 1945 in Zobten am Berge: die Mutter, drei Töchter mit ihren sechs Kindern im Alter von sechs Jahren bis zu sechs Monaten. Die drei Männer sind bei der Wehrmacht.

Als die Lage kritisch wird, können ihnen der Mann der einen Schwester und der jüngste Bruder von der Wehrmacht zu Hilfe kommen. In Breslau, der Heimat der Familie, werden sie in den Zug gesetzt. Sie bleiben zusammen, haben ein warmes Abteil, die Kinder mit ihren ständigen Anliegen sorgen für Abwechslung und Ablenkung. Trübe Gedanken finden erst gar nicht Raum. Es ist, - darf man es so ausdrücken? - eine geborgene Flucht. Sie müssen alle später sagen: „Wir wurden von Engeln aus Schlesien herausgetragen", wenn sie von den schrecklichen Schicksalen unzähliger anderer Flüchtlingsfamilien hören.

In Berlin, der ersten Station des Fluchtweges, begegnet ihnen ein dritter Mann der Familie. Dieser dritte Mann bin ich selbst. Die älteste der Schwestern ist meine Frau, zwei der Kinder gehören uns. Die Kompanie in Guben hat mich nach Berlin geschickt, neue Übungsmunition zu holen. Man muß doch noch was für den Endsieg tun! Der Hauptmann auf der Kommandantur am Bahnhof Friedrichstraße schwenkt hämisch seine Zigarre, als ich ihn um 24 Stunden Nachurlaub angehe: „Ha, ha, ha, wenn's jeder so macht, kommt der Iwan wirklich noch nach Berlin!" Ha, ha ha, denke ich, er kommt auch, wenn ich den Urlaub nicht kriege. Nun, der Hauptmann im Zimmer nebenan ist gnädiger und gönnt mir noch einen Tag Zusammensein mit meiner Familie. Mein kümmerlicher Beitrag zur gemeinsamen Aktion ist der Rat an die Meinen, möglichst schnell Berlin zu verlassen. Wohin? In Tirol wohnt ein Onkel. Aber empfiehlt sich Österreich noch? Lieber nicht. Im äußersten Winkel von Thüringen, vor den Toren Fuldas, im Geisaer Land, haben die Schwester: in einem Pfarrhaus dereinst herrliche Ferienwochen verlebt. Also in die Rhön. Ein Telegramm bereitet die Gastgeber schonend vor. Der gute Bruder bringt den kleinen Treck wieder glücklich hin. Ich erfahre es in Guben, ehe man uns in die Slowakei verfrachtet...

Das ist die erste tröstliche Erfahrung, die uns die furchtbare Zeit lehrt: daß die Familie - wäre das Wort nicht so sehr mißhandelt worden, müßten wir sogar sagen: die Sippe - noch eine lebendige Kraft ist, wie sie uns in guten Tagen nie mehr bewußt wird, weil wir sie nicht nötig haben. Ein Glied allein triebe hilflos im Chaos umher und ginge vielleicht zugrunde, zusammen sind sie eine Macht, die sich in schwerster Bedrängnis behauptet, zum Nutzen des einzelnen und aller.

Der Krieg ist zu Ende, oder korrekt gesagt, die Kriegshandlungen sind abgeschlossen. Die Männer der Familien finden sich einer nach dem andern wieder ein. Als letzten lassen mich die Russen ziehen, allerdings auch schon im Herbst 1945. Sie haben mich nach der Kapitulation von den Amerikanern übernommen, die uns freundlicherweise in Oberösterreich festhielten und dem sowjetischen Bundesgenossen, wie sie feierlich erklären ließen, „zur Entlassung" übergaben. Im Lager Stockerau wurde uns triumphierend verkündet, die Russen hätten auch noch Thüringen besetzt. Ob meine Leute noch rechtzeitig nach Westen ausgewichen sind? Sie sind es nicht. Ich höre es in Fulda, als ich, von den Russen als Dystrophiker nach Hause geschickt, dort bei Bekannten das Terrain sondiere. Also den bitteren Weg zurück in den Bereich, dem ich soeben entronnen bin. An einem Sonnabend im Oktober betrete ich in abenteuerlicher Kostümierung, um den russischen Posten nicht aufzufallen, das Häuschen, in dem meine kleine Schar Zuflucht gefunden hat. Ich stehe in der Tür. „Der Papa!" sagte der Dreijährige, der in der Badewanne sitzt. Doch ich höre ihn kaum. Ich sehe nur die Stube, ein vorsintflutlicher Herd, ein klobiger Tisch, ein paar derbe Stühle, beleuchtet von einer trüben Lampe. Das ist alles. „Wir sind jetzt arme Leute!" durchfährt es mich blitzartig. Der Gedanke ist mir in der Gefangenschaft nie gekommen. Mit der Familie verband sich ganz selbstverständlich die Vorstellung eines bürgerlichen Milieus. Die Tatsache der Flucht änderte daran nichts. Sie blieb in dieser Hinsicht einfach ignoriert.

Nun, da ich daheim bin, überfällt mich die Einsicht in die Wirklichkeit unseres Daseins. Was soll aus uns werden? Die Frage läßt mich nicht los. Dazu die gesundheitliche Verfassung (aus purer Nächstenliebe haben die Russen uns nicht entlassen), die Fremde, die Enge, die Kinder, an deren Entwicklung ich bisher kaum Anteil gehabt habe. Das alles verdunkelt die Freude des Wiederbeisammenseins.

Da hilft mir die zweite tröstliche Erfahrung in dieser Zeit, die wir hier machen dürfen. Die Menschen sind gut zu uns. Sie leben selbst wahrhaftig nicht im Überfluß. Die steinigen Rhönberge fordern von ihnen die letzte Kraft und geben ihnen bitterwenig. Aber von dem, was sie ihnen geben, geben sie auch uns. Ohne jede gönnerhafte Geste, mit einer Selbstverständlichkeit, die das Nehmenmüssen nicht zur Last werden läßt. Die Kruste ums Herz löst sich. Für die Miete und die Mittagssuppe heize ich auf dem Sägewerk der Familie, der unser Häuschen gehört, den Ofen. Es hat gewiß schon bedeutendere Sägewerksarbeiter gegeben als mich. Die geschmolzenen (ein Rhönausdruck) Suppen der guten Tante Anna, die ich mir mehr kläglich als redlich verdiene, haben mich wieder zum Menschen gemacht. Sie schmecken mir noch auf der Zunge.

Wir erleben eine geschlossene, von einer wahrhaftigen Religiosität bestimmte Welt. Die Menschen sind arm, verglichen mit den Bauern meiner ermländischen Heimat, aber armselig sind sie ganz und gar nicht. Nichts ist freilich hier weniger angebracht, als von einer bukolischen Idylle zu reden, weiß Gott, dafür sehen wir tagtäglich, wie hart und rauh das Leben unserer Rhöner ist. Aber sie haben etwas, worin sie uns über sind: das innere Gleichmaß. Wir lernen von ihnen, daß zum wirklichen Glücklichsein nicht unbedingt ein Sack voll Geld gehört oder was man sich dafür kaufen kann. Das ist unsere dritte tröstliche Erfahrung. Es geschieht nicht von ungefähr, daß wir unser schönstes Familienfest gerade in K. feiern.

Am Weihnachtsmorgen 1945 nach der Christmesse treffen wir uns in unserer Küche, die Großmutter und drei Ehepaare. Der Kaffee ist immerhin heiß, der Kuchen ohne Streußel und Rosinen, immerhin ein Kuchen. Wir sitzen beieinander, still, besinnlich, ich darf sagen glücklich. Vorher und auch wieder nachher haben wir großartigere Familienfeste gefeiert, aber kein schöneres.

Aber unseres Bleibens kann hier nicht immer sein. Uns sind andere Wege vorgeschrieben als die Straßen der Rhönberge. Doch welche? Die beiden Schwäger suchen sich als Apotheker ihre Stellen zunächst in der Zone. Mir scheint der Zugang zum erlernten und (trotz allem) geliebten Schriftleiterberuf vorerst versperrt. Mehrmals gehe ich über die. damals noch sehr durchlässige Demarkationslinie in die Westzonen und reihe mich in die Armee der Suchenden ein, die in den ersten Jahren nach dem Kriege ruhelos durch die Lande zieht. Was suchen wir? Verwandte. Arbeit ‑ vielleicht auch uns selbst. Schließlich konzentrieren sich meine Wünsche auf das benachbarte Fulda. Meine Frau wird schwerkrank. Wir bringen sie über die Berge und Zonengrenze dorthin. Sooft ich sie nach der Operation in der Klinik besuche und in den Gassen der Bonifatiusstadt die Menschen sehe, die bürgerliche Kleider tragen und aus ihren bürgerlichen Wohnungen treten, um ihren bürgerlichen Berufen nachzugehen, denke ich: Werden wir auch noch einmal solche Bürger sein? Ein Freund aus heimatlichen Gefilden, der in Fulda untergeschlüpft ist, rät mir: Geh' zum Direktor des Gymnasiums, der ist ein tätiger Mann. Ich gehe zu ihm. Was sind Sie? Haben Sie Zeugnisse? Nun, ich hatte meine Frau gebeten: Wenn du flüchtest, nimm meine Zeugnisse mit, die sind nach den Kindern das Wichtigste. Sie hatte sie mitgenommen. Ich zeige sie dem Herrn Direktor. „ Wollen Sie nicht Studienrat werden?" sagt er, „wir bilden hier jetzt welche aus!“ Mir bleibt zunächst die Sprache weg: Schulmeister soll ich werden? Nun, machen wir's kurz: Ich bin's geworden, geblieben ‑ und bin's gern.

Ich krieche in Fulda in einen Schwesternheim unter, wo ich eine Anzahl von Schicksalsgefährten treffe. Wir sind eine Welt für uns, die Welt draußen ist uns fremd. Ich war einst ein leidenschaftlicher Theater‑ und Konzertbesucher. Noch am Ende des Krieges bin ich in Berlin in die Furtwängler‑ und Karajankonzerte gelaufen und habe aufs tiefste bewegt im Staatstheater am Gendarmenmarkt die künstlerische Rehabilitierung meines vielgeschmähten ostpreußischen Landsmannes Hermann Sudermann durch die grandiose Fehlinginszenierung des „Johannisfeuers“ erlebt. Jetzt aber, wo mich die Wirklichkeit kräftig am Wickel gekriegt hat, sind mir Musik und Theater Scheinwelten geworden, die mich nichts mehr angehen. Zögernd lasse ich mich in ein Konzert des Stuttgarter Kammerorchesters mitnehmen. Verwandelt kehre ich in meine Klause zurück. Seitdem hat die Kunst uns unzählige Male beglückt. Auf's Thema bezogen: Wenn wir uns eingegliedert fühlen, hat die Kunst daran ihren unermeßlichen Anteil.

Noch zum Stichwort Eingliederung: Im Kollegium der Schule geben die Vertriebenen bald den Ton an. Was haben sie zu riskieren? Allenfalls eine Versetzung nach Grünberg oder Großumstadt. Wenn schon. Die einheimischen Kollegen verlieren mehr... Wir gehen auch zum Zirkel des Studentenverbandes, dem wir in jungen Jahren mit leuchtenden Augen und schwellenden Pulsen, wie es in unserem Liede heißt, die Treue geschworen haben. Hier sind wir sozusagen statutengemäß gleichberechtigt. Und man beordert mich bald als Vertreter zu Verbandstagungen nach Bochum, Würzburg und Bonn ab. Doch auch hier treten sich zwei Welten gegenüber. Die einen sind nach dem Kriege wieder dort gelandet, woher sie gekommen sind, und sprechen gern von ihren Fuldaer Verhältnissen, die wir, die "Freemen" nicht kennen und, ehrlich gesagt, auch nicht kennen lernen wollen, wenigstens nicht so genau, so sehr es uns sonst die Aura der alten Barockstadt antut. Doch treffen wir auch im Zirkel Leidensgenossen, die der Sturm der Zeit nach Fulda verweht hat. Wir werden Freunde und sind es noch.

Überraschend schnell ist es mir gelungen, die Familie nach Fulda nachzuziehen. Eine liebe Bekannte hat uns eine möblierte Wohnung vermittelt. Doch hat erst noch eine allmächtige Wohnungskommission das entscheidende Wort zu sprechen. Also heißt es eifrig Klinken putzen. Herr Arbeitersekretär G., Herr Bilderhändler F., Frau Fabrikant Sch. werden gewonnen. Herr Zimmermeister M. ist dagegen. Solange noch so viele Eingesessene auf Wohnungen warteten, könne er nicht für uns stimmen. Aber wir haben die Mehrheit und bekommen die Wohnung. In einer schönen Sommernacht bringt eine Pferdefuhre unseren zusammengestoppelten Hausrat mit ein paar Metern kostbaren Brennholzes über die Hohe Rhön durch die Zonengrenze ins erste Dorf auf westlicher Seite. Die Wohnung in Fulda ist geradezu eine Sehenswürdigkeit. Sie besteht eigentlich nur aus einem Zimmer und unübersehbarem Nebengelaß. Sie ist noch heute im Gespräch unserer vielen Freunde, die uns dort besuchten, Ermländer, Ostpreußen, Schlesier, Fuldaer, Hessen, woher sie auch immer kamen.

Wir haben eine Wohnung - wir müssen auch leben. Der Vater ist wieder Lehrling geworden, - die Ausbildungshilfe des hessischen Staates trudelt erst ein paar Tage vor der Währungsreform ein. Und bis dahin? Die guten Menschen in der Rhön bekommen von Zeit zu Zeit pro Kopf eine Flasche Schnaps zugeteilt für 40 Reichsmark. Das ist ihnen zuviel Geld. Sie gehen sie uns ab, wir verkaufen sie an westliche Schnapsdurstige für ein sündhaftes Aufgeld (hoffentlich ist der Wucher jetzt verfährt) und können von ein paar Flaschen Schnaps ein paar Monate die zugeteilten Lebensmittel erstehen. Nicht zu vergessen die prächtigen Pakete der Kusine aus New York. Sie helfen uns vor allem über Wasser zu bleiben. Die Camels und Lucky Strikes darin werden natürlich auch in Reichsmark umgesetzt.

Übel sind die Kinder dran. Sie vertauschen die goldene Freiheit des Landkindes mit dem traurigen Dasein des Trümmerkindes. Wie wir Unterm Heilig Kreuz aus der Post kommen, sitzen sie auf der Rinnsteinkante. Das ist doch eine Bank, die sie für uns gemacht haben, sagen sie. Die Tochter bringt uns ein ihr unbekanntes Gebilde ins Haus. Für das kleine Flüchtlingskind, haben die Nachharn genagt, die eine Gemüsehandlung besitzen. Es ist, wir scher es verzückt, eine große Weintraube.

Nun sind wir seit zehn Jahren in Köln. Die tolerante, traditionsschwere Stadt am Rhein beweist auch an uns ihre Assimilationskraft. Wo stehen wir heute? Schon hier oder noch drüben ‑ oder nirgendwo? Wir meinen, es ist uns gelungen, hier zu sein und auch der Heimat die Treue gehalten zu haben, die sie verlange, eben weil sie die Heimat ist. Der Vater führt die kölschen "Pänz" an den Born der Weisheit und bewegt sich ‑ geben ihn die Aufsatzkorrekturen frei - liebend gern in heimatlichen Regionen. Die Mutter, gewissermaßen von Berufswegen eingegliedert, alldieweilen eine Mutter immer dort zu Hause sein muß, wo ihre Familie ist, möchte doch noch einmal im Leben in ihren geliebten schlesischen Bergen wandern und bei Kahlberg den Wald und die Ostsee rauschen hören. Die Kinder zeigen begeistert und besitzesstolz unseren Besuchern die Herrlichkeiten der alten Colonia, schwirren aber ebenso begeistert zu den Gruppenabenden des Jungen Ermlands ab, sie treffen dort Menschen von ihrer Art.

Und die drei Erfahrungen, von denen wir sprachen? Die Familienbande sind wieder gelockert, die Welt der thüringischen Rhön ist zunächst hinter dem Eisernen Vorhang im Sperrgebiet völlig entschwunden, das Wirtschaftswunder nagt auch an unseren Herzen. .

Waren die Erfahrungen also vergeblich? Wir wollen uns bemühen, daß sie es nicht sind. Sonst bestehen wir die Prüfung, die uns das Vertriebenenschicksal aufgegeben hat, nicht.                             Hans Preuschoff

Entnommen aus: „Nach zwei Jahrzehnten, Erlebnisberichte über Flucht, Vertreibung und Eingliederung“, hrsg. von Staatssekretär Dr. Peter Paul Nahm.

Dieser Beitrag ist Teil der Website www.braunsberg-ostpreussen.de!

Das Dorf in der Rhön, das der Familie Zuflucht gewährte, hat auch eine Website: www.kranlucken.de.

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