Das erste der tausend Jahre

Erinnerungen von LUDWIG KAYSER,
Erster Bürgermeister von 1929 - 1935 und letzter demokratischer Bürgermeister der Stadt Braunsberg (Ostpreußen)

Ludwig Kayser ist 1899 in Münster geboren. Nach den beiden juristischen Staatsprüfungen wandte er sich der kommunalen Laufbahn zu und wurde Stadtassessor in Trier. Als solchen wählte ihn das Braunsberger Stadtparlament 1929 zum Ersten Bürgermeister der Passargestadt. Nach seiner Amtsenthebung durch die Nationalsozialisten 1935 ging er nach Berlin, wo er erst nach zweijähriger Beschäftigungslosigkeit ein neues Tätigkeitsfeld fand. Nach dem letzten Kriege war Ludwig Kayser bis zum Eintritt in den Ruhestand 1964 Oberstadtdirektor von Bocholt. Den Lebensabend verbringt er in seiner Vaterstadt. - Die Zwischentitel hat die Redaktion des Ermlandbuches in den Brief eingefügt, ebenso stammen von ihr die Anmerkungen. Der Brief ist im Ermlandbuch von 1977 abgedruckt.

Ludwig Kayser als Oberstadtdirektor vom Bocholt 1946 - 1964

Sehr geehrter, lieber ermländischer Kalendermann!

Wir schreiben Ende Dezember 1973. Die an Ostpreußen erinnernden weißen Tage - Schnee auf Bäumen und Feldern, Kinder auf Rodelschlitten und Eisflächen - liegen schon hinter uns. Kommen sie in diesem Winter noch einmal? Etwas fehlte bei dem Erinnerungsbild - das Klingeln der Pferdeschlitten. Die gibt es hier in Münster sehen lange nicht mehr. Noch denke ich an unseren ersten Winter in Braunsberg, meine liebe Frau lief bei jedem Glöckchengeklingel zum Fenster, so ungewohnt war das Bild der elegant durch die Stadt gleitenden Pferdeschlitten.

Das Jahr 1973 neigt sich dem Ende zu. Noch einmal ziehen Monate, Wochen, Tage, Ereignisse, Menschen, Gedanken vor meinen inneren Augen vorbei.

Auch das Jahr vor vier Jahrzehnten: 1933. Es war "mein vierunddreißigstes Jahr". (Unser Prälat Gerhard Fittkau war beim Einbruch der Roten Armee in Ostpreußen 1945 nach Rußland verschleppt worden. Sein qualvollen Erlebnisse hat er in einem erschütternden Buch niedergelegt, das inzwischen in neun Sprachen übersetzt wurde. Er erreichte gerade damals das "Alter Christi" und nannte sein Werk daher "Mein 33. Jahr".)

Schon manches Mal habe ich daran gedacht, das noch im Gedächtnis Haftengebliebene auf dem Papier festzuhalten. Sie baten mich auch darum. Immer wieder stellte ich es zurück. Dieser oder jener lebt noch, er könnte sich gekränkt fühlen. Bei anderen, die nicht mehr unter uns weilen, könnte das Bild, das wir von ihnen in der Erinnerung haben, beschwert oder getrübt werden.

Doch es sei. Ihrem Wunsche folgend, seien einige persönliche Erinnerungen an Braunsberg aus dem ersten Jahre des sogenannten tausendjährigen Reiches in diesen Zeilen niedergelegt. Auf Vollständigkeit kann mangels genügender Unterlagen kein Anspruch erhoben werden. Auf Richtigkeit? Das Gedächtnis kann nach vierzig Jahren irren. Und ich war zu feige, Tagebuch zu führen. Vor allem kann ich vielfach die genauen Tage und Monate nicht angeben. Die nachstehende Aufzählung von Einzelereignissen darf daher vor allem keinen Anspruch auf chronologische Richtigkeit erheben. Ich kann nur sagen: nach bestem Wissen und Gewissen.


Das Weihnachtsgeschenk des Kommunistenhäuptlings

Es war am Heiligen Abend des Jahres 1932, also am Vorabend des Jahres, in dem meine Erinnerungen spazierengehen. Wir hatten Besuch eines befreundeten Ehepaares, mit dem wir den Abend gemeinsam verbrachten. Gerade waren die Kerzen an Krippe und Weihnachtsbaum angesteckt, da schellte es an der Etagentür. Ich öffnete. Mit einer Duftfahne - er hatte sich wohl Mut angetrunken - stand vor mir der örtliche Kommunistenhäuptling. Er wies auf einen Pflasterstein, den er vor die Tür gelegt hatte: Das sei das Weihnachtsgeschenk der Arbeitslosen für mich. Nach einigen weiteren "freundlichen" Worten entfernte er sich. Ein paar Tage später war ich mit Juristen zusammen. Das Ereignis hatte sich inzwischen rundgesprochen. Man machte mir Vorwürfe, daß ich den "Täter" nicht habe festnehmen und der Justiz zuführen lassen. Es entspann sich eine Unterhaltung darüber, welche Straftat hier wohl geahndet werden könne. Körperverletzung: Ich war nicht berührt worden. Drohung: Der Stein lag ruhig auf dem Boden und wurde als Geschenk bezeichnet. Beleidigung: Sollte ich mich genau der Worte eines Angetrunkenen erinnern? Genug davon. Damals soll anderen Ortes ähnlich verfahren sein. Autoritäre Parteien verfügen über eine wohlfunktionierende Lenkungspraxis. Zumindest hatte der sich ob seiner Tat stolz Entfernende erreicht, daß uns der Weihnachtsabend ein wenig verdorben war. Und das war wohl auch beabsichtigt.

Auch in Braunsberg begann das neue Jahr mit großer, bedrückender Arbeitslosigkeit, politischer Unruhe, weitgehender Unsicherheit, Ungewißheit ob der Zukunft - mit Bangen und Sorgen.

Braunsberg wird wieder Garnisonsstadt

Mitte Januar, ich betone, daß es vor dem 30. Januar war, suchte mich der Wehrkreisintendant aus Königsberg in meinem Dienstzimmer auf. Er vergewisserte sich zunächst, daß die Türen zum Flur und zum Vorzimmer Doppeltüren waren und daß sich im danebengelegenen Magistratssitzungssaal, zu dem nur eine einfache Tür führte, niemand aufhielt. Unsere Besprechung müsse ganz geheim sein! Er entwickelte, für mich völlig neu, die Pläne zum sogenannten Heilsberger Dreieck, als dessen Endpunkt am Frischen Haff Braunsberg Garnisonstadt werden solle. Es folgten in den nächsten Monaten umfangreiche Verhandlungen, alle unter dem Zeichen "Geheime Reichssache". Dabei sei an die Besprechungen mit der Generaloberin der Katharinerinnen gedacht, auf deren Gelände am Stadtrand nach Marienfelde zu das neue Kasernement entstehen solle. Bei voller Geheimhaltung wurden die Grundstücksverträge abgeschlossen.

Die Arbeit der Kommunalpolitik geht auch in unruhigen Tagen weiter. So beschloß die Stadtverordnetenversammlung in ihrer Sitzung am 25. Januar 1933 eine neue Haushalts-, Kassen- und Rechnungsordnung. Eine Ordnung, die an sich für eine geordnete Verwaltung in geordneten Zeiten sorgen soll, die aber auch in wirren Zeiten noch geeignet sein muß, als Richtlinie, als Halt - oder wie man es nennen will - zu dienen.

Der Tag der "Machtergreifung" kam, der 30. Januar. Begeisterung bei den einen, Niedergeschlagenheit bei den anderen. Auch in Braunsberg Auflauf vor dem Rathaus, Gesang des Deutschlandliedes, Gejohle, Siegestaumel. Ich saß still in meinem Amtszimmer, dachte, was wohl alles kommen werde. Was wirklich kam, haben wohl nur sehr wenige geahnt - das hätten wir in Deutschland für unmöglich gehalten.

Ende Februar wieder ein Aufmarsch auf dem Marktplatz, den ich aus meinem Amtszimmer beobachtete. Als das Deutschlandlied erklang, stand ich unwillkürlich auf und schaute auf das Bild des Bürgermeisters Simon Wichmann - was hatte Braunsberg schon alles erlebt? (Simon Wichmann (1581-1638) hat sich als Bürgermeister von Braunsberg während der Schwedenzeit (1626-1635) um seine aufs schwerste in Mitleidenschaft gezogene Vaterstadt hochverdient gemacht, auch durch persönliche Verhandlungen mit König Gustav Adolf und seinem Kanzler Oxenstierna.) Irgendwie wurde in diesen Tagen im Unterbewußtsein das Nationalgefühl angesprochen. Ich dachte an den Augenblick, da 1927 zum ersten Male seit 1918 in Trier das Deutschlandlied unter freiem Himmel erklingen durfte.

Erste Verleumdungen durch die NS-Presse

Am nächsten Tage schrieb die Preußische Zeitung in Königsberg (Organ des Gauleiters der NSDAP, Erich Koch, der noch - im Jahr 1977 - im Zuchthaus in Wartenburg lebt.), ich hätte unter den Versammelten auf dem Marktplatz gestanden und bei der Nationalhymne den Hut aufbehalten. Damals ahnte ich nicht, daß damit der Anfang eines unguten Pressefeldzugs gemacht wurde. Die nicht der NSDAP angehörenden Bürgermeister wie auch andere leitende Beamte sollten vor der Bevölkerung bloßgestellt werden, um ihre beabsichtigte Absetzung als dem Volksempfinden entsprechend hinstellen zu können. Angeblich, so wurde nachträglich, natürlich erst nach der Wahl, in meinem Fall angegeben, sei eine Verwechslung erfolgt. Ich bleibe bei meinem Zweifel.

Die tägliche Arbeit ging weiter. Da in der Stadtverordnetenversammlung eine eindeutige Mehrheit bestand, da, das kann gesagt werden, der NSDAP-Ortsgruppenleiter W. (er war städtischer Angestellter bei den Technischen Werken) nicht zu den radikalen Umstürzlern zählte, da auch, so darf angenommen werden, die umworbenen Zentrumswähler nicht verunsichert werden sollten, war es im Verhältnis zu anderen Orten und Gegenden in Braunsberg noch einigermaßen ruhig.

Alles sah den Märzwahlen mit Spannung entgegen. Ich habe selbst noch auf Zentrumsversammlungen in Königsberg und im Ermland gesprochen. Ein parteipolitisches Auftreten in Braunsberg selbst verbot sich für mich schon aus beamtenrechtlichen Gründen. Auch von auswärtigen Wahlreden rieten mir manche ab. Aber ich meinte, wenn ich solche vorher gehalten hätte, könnte ich nicht in einem kritischen Augenblick aufhören, das sehe wie Feigheit aus. Die Versammlungen verliefen zeitgemäß, es herrschte einige Unruhe, besondere Tumulte erlebte ich nicht.

Bei der Reichstagswahl am 5. März erreichte die NSDAP nicht die absolute Mehrheit. Sie benötigte die Unterstützung durch die Deutschnationalen, deren Führer Hugenberg nicht die Zeichen der Zeit erkannte, oder überschätzte er sich grenzenlos? Das Ergebnis in Braunsberg bestätigte die dominierende Stellung des Zentrums. Den 2485 NSDAP-Stimmen standen 3992 Zentrumsstimmen, 1187 SPD-Stimmen, 429 der Kampffront Schwarz-Weiß-Rot (vereinigte bürgerliche Rechte; um von ihr einen bekannten Namen zu nennen: Stadtrat Wendel) sowie 275 KPD-Stimmen gegenüber. Die Zahlen habe ich der Ermländischen Zeitung entnommen. Meine Mutter hielt die Zeitung während meiner Braunsberger Amtszeit; die Exemplare, die meine Tätigkeit betrafen und von ihr aufbewahrt wurden, sind heute in meinem Besitz. In der Wahlkampfzeit wurden auch gegen mich Gerüchte verbreitet. Noch im Juli erhielt ich mit der Anschrift "Bürgermeister a. D." eine anonyme Karte aus Königsberg, die in entsprechender Art auf meine dortige Wahlkampfrede verwies.


 Hakenkreuzfahne auf dem Rathaus

An dem dem Wahltag folgenden Montagmorgen wurde ich kurz nach 5 Uhr fernmündlich angerufen, am Rathaus sei die Hakenkreuzfahne gehißt worden. Ich zog mich rasch an und begab mich zum Rathaus. Dort erfuhr ich, daß eine Rotte unter Zerstörung einer Innentür den Turm erstiegen und die Fahne herausgehängt hatte. Ich ließ diese vom Hausmeister herunterholen. Es folgte ein aufregender Tag. Ich habe über seinen Verlauf einen Aktenvermerk diktiert, dessen Durchschrift ich noch besitze. Diese Aktennotiz beginnt:

"Braunsberg Ostpr., den 6. März 1933

Vergangene Nacht gegen 5.15 Uhr wurde ich telefonisch von der Polizeiwache (Polizeihauptwachtmeister P.) angerufen. Es wurde mir mitgeteilt, daß eine Gruppe von 15 bis 20 Mitgliedern der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei fast vollständig in SS- und SA-Uniform in das Rathaus eingedrungen sei und auf dem Rathausturm die Hakenkreuzfahne gehißt hätte. Ich habe mich sofort zum Rathaus begeben.

Soweit zunächst der Aktenvermerk. Ich erfuhr im Rathaus von den Polizeibeamten, wie sich die Uniformierten des Schlüssels bemächtigt und trotz allem Einspruch die Fahne gehißt hätten. Auch sagte mir Polizeihauptwachtmeister S., daß in der Stadt mehrfach geschossen worden sei. In dem Aktenvermerk heißt es weiter:

"Durch den zwischenzeitlich im Rathaus erschienenen Hausmeister habe ich gegen 6.30 Uhr die Fahne dann vom Rathausturm entfernen lassen. Unmittelbar darauf erschien wiederum ein Trupp Nationalsozialisten., auch jetzt wieder fast alle in SS- und SA-Uniform vor dem Rathausportal und klingelte. Auf meine Anordnung wurden nur 3 bis 4 Nationalsozialisten eingelassen, und zwar erschienen: der Ortsgruppenvorsitzende W. (in Zivil), der sich bei den nachfolgenden Verhandlungen stark zurückhielt, sowie der SS-Führer S., der SA-Führer K. und noch ein weiterer SS-Angehöriger.

Sie verlangten gebieterisch das Wiederhissen der Fahne, beschwerten sich darüber, daß vor der Entfernung nicht bei ihnen angefragt worden sei. Sie hätten bei der gestrigen Wahl die Macht bekommen. Diese Macht würde von ihnen jetzt ausgeübt. Sie seien revolutionär. Die Fahne sei durch das Entfernen entehrt worden, da der Hausmeister und Arbeiter sich sicher an ihr die Hände abgeputzt hätten.

Ich habe darauf eingehend mit den 3 Uniformierten (W. hielt sich etwas abseits) verhandelt. Sie vertraten auch mir gegenüber den Standpunkt, daß sie auf Grund der bei der Wahl erlangten Macht das Hissen der Fahne, die nunmehr die Fahne der Nation sei, verlangen könnten. Sie hätten Befehl, die Fahne zu hissen. Auch in Hamburg und Lübeck (?) sei die Hakenkreuzfahne auf den Rathäusern gehißt. Eine Bemerkung dahingehend, daß das Zentrum ausgespielt habe, habe ich sofort als nicht hierher gehörig zurückgewiesen, so daß dieser parteipolitische Gesichtspunkt auch nicht weiter angerührt wurde. Sie würden gegebenenfalls mit Gewalt eindringen und die Fahne hissen, wenn auch Blut fließe. Vorher hatten sie noch gefragt, auf wessen Veranlassung die Fahne heruntergeholt sei. Ich habe erklärt., daß ich es veranlaßt hätte, und ausdrücklich angegeben, daß ich für die Maßnahme die volle Verantwortung übernähme und trüge. Es wurde mir darauf erwidert, daß sie jetzt die Macht hätten. Ich würde nach einigen Stunden nicht mehr im Amte sein. Der Herr preußische Innenminister Göring habe gesagt, daß ihre Kugeln seine Kugeln seien, sie würden gedeckt. Sie gaben dabei zu verstehen, daß sie unter Bezugnahme auf diese Äußerung auch mit Gewalt gegen mich und die in meinem Auftrag handelnden Polizeibeamten vorgehen würden. Besonders der SA-Führer K. äußerte sich sehr erregt und scharf. Auch der mir nicht bekannte SS-Angehörige beteiligte sich in entsprechender Schärfe, während der SS-Führer S., nachdem ich ihm erst grundsätzlich entgegengetreten war, ruhiger wurde und nach einer langsam ruhiger werdenden Auseinandersetzung erklärte, daß er seine SS nunmehr nach Hause schicke. Während dieses von mir mehr auf dem Flur geführten Gesprächs hatte der Ortsgruppenleiter W. auf der Polizeiwache, was ich z. T. auch mitverstehen konnte, geäußert, daß er seine Leute nicht mehr in der Gewalt habe und daher nichts veranlassen könnte.

S. begab sich sodann zum Tor und entließ seine Leute. Ich begab mich in den nebenan gelegenen Kassenraum, um von dort das Landratsamt anzurufen. Ich habe mich vergewissert, daß irgendeine Mitteilung oder irgendein Erlaß über das Hissen der Hakenkreuzfahne nicht vorlag. Als ich zurückkam, hatten die Nationalsozialisten die Wache und auch das Rathaus bereits verlassen. Ich habe dann noch mit dem Polizeipräsidium Königsberg und auch der Regierung (Polizeihauptmann) Königsberg fernmündlich mich in Verbindung gesetzt, wo mir an beiden Stellen versichert wurde, daß auch dort von einem Erlaß nichts bekannt sei. Bei einem der mehreren Gespräche habe ich auch mit dem Landrat persönlich gesprochen. der meinen Standpunkt, daß das Hissen unzulässig sei, teilte. Die Fahne selbst ist bei der Vorsprache ausgehändigt und sodann mitgenommen worden.

Ein kleinerer Trupp hat sich dann auf der Straße noch längere Zeit unterhalten und sich dann aufgeteilt. Zu weiterer Unruhe ist es nicht gekommen.

Die Tür zum Zimmer 26 im oberen Rathausgeschoß ist beschädigt."

Soweit die Wiedergabe des damaligen Aktenvermerks. Ergänzt werden darf noch, daß Ortsgruppenleiter W., schon als er mit den radikaleren Uniformierten das Rathaus betrat, mir zuflüsterte, er habe die Gewalt über seine Leute verloren, ich möge zusehen, wie ich fertig würde.

Ich hatte und habe die Angewohnheit, bei Reden und Gesprächen eine Hand in die Hosentasche zu stecken. Das muß ich wohl auch beim Gespräch mit den drei Uniformierten getan haben. Denn die hinter mir stehenden Polizeibeamten meinten, als wir wieder unter uns waren, ob ich den Revolver in der Tasche schon entsichert oder noch gesichert gehabt hätte? Ich leerte meine Taschen. Ich besaß keinen Revolver. Damit hatten die Polizeibeamten nicht gerechnet. So unterschiedlich können Zivilisten und Ordnungshüter in kritischen Situationen denken.

Wie verlief der Tag weiter? Das Rathaus blieb verschlossen. Die Mitarbeiter der Verwaltung wurden einzeln hereingelassen. Die tägliche Arbeit ging ihren Weg. Gegen 8 Uhr wurde ich von dem der NSDAP zumindest sehr nahestehenden Handwerksmeister P. angerufen und gefragt, ob es stimme, daß ich angefaßt worden sei. Ich konnte verneinen und ihn beruhigen. Um 9 Uhr herum wurde mir mitgeteilt, daß SS und SA in Braunsberg Ausgehverbot hätten, daß am Nachmittag aus Königsberg eine Parteikommission kommen werde. Gegen 10 Uhr wurde angerufen und gefragt, ob ich noch lebe, in der Stadt werde erzählt, sie hätten mich umgelegt. Es kehrte Ruhe ein. Zum Mittagessen konnte ich nach Hause gehen und meine verständlicherweise besorgte Frau aufmuntern.


SA- und SS-Führer abgesetzt

Der Nachmittag verlief zunächst ohne Besonderheiten. Am späten Nachmittag aber wurde vom Vereinshaus (Gemeint ist hier gewiß das Evangelische Vereinshaus, dessen Wirt sich rechtzeitig" mit der NSDAP zu stellen wußte. Das Katholische Vereinshaus <dann Gesellschaftshaus> wurde von ihr boykottiert.) angerufen, die Parteikommission habe ihre Besprechung beendet, ob ich noch einige Minuten für sie zu sprechen sei. Ich bejahte.

Die Herren waren mir unbekannt. Am Lametta sah ich, daß es höhere Ränge sein mußten. Ich meine mich zu erinnern, daß unter ihnen der stellvertretende SA-Obergruppenführer aus Königsberg war. Nach Vorstellung und Begrüßung nahm man Platz. Längeres Gespräch. Sie gaben zu, daß ich nach den (noch) geltenden Bestimmungen gehandelt hätte. Sie hätten es aber begrüßt, wenn ich der sich abzeichnenden Entwicklung Rechnung getragen hätte. Ich bezog mich auf die schon erwähnten Bestimmungen über das Flaggen an öffentlichen Gebäuden, die nicht die Hakenkreuzfahne vorsähen. Als Beamter hätte ich die Bestimmungen zu beachten und anzuwenden. Die Unterhaltung verlief bei aller Unterschiedlichkeit der Standpunkte und Härte korrekt und sachlich. Zum Schluß teilten die Herren mir mit, daß die örtlichen SA- und SS-Führer abgesetzt seien und daß sich in wenigen Tagen die Nachfolger bei mir vorstellen würden. Sie fragten noch, ob ich bei dieser Sachlage die Angelegenheit als erledigt ansehe. Was sollte ich antworten? In "Revolutionszeiten" antwortet man anders denn sonst. Obendrein war die Anspannung meiner Nerven wohl auf dem Siedepunkt angelangt. So gab ich die vielleicht frechste Antwort in meinem beruflichen Leben: Ich hätte in dieser Zeit, zumal unter Berücksichtigung des Erich-Koch-Plans (In dem nach dem Gauleiter benannten Plan waren die Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung in Ostpreußen zusammengefaßt.), Wichtigeres zu tun, als eventuell mehrere Tage vor einer Gerichtstür zu warten, ehe ich in einem Landfriedensbruchprozeß als Zeuge vernommen würde, ich sähe die Angelegenheit als erledigt an. Die Sache war erledigt. Nach zwei Tagen meldeten sich bei mir der neue SA- und der neue SS-Führer. Die dem Erich-Koch-Plan damals zugemessene Bedeutung mag übrigens aus dem damals umlaufenden, offiziös-offiziell verbreiteten, in Besprechungen apostrophierten Bonmot ermessen werden: "Alle dem Erich-Koch-Plan entgegenstehenden Bestimmungen gelten als außer Kraft gesetzt."

Eine Zwischenbemerkung sei mir gestattet: Meiner Generation wird so häufig vorgeworfen, sie sei 1933 zu weich gewesen, sie habe dem Hitlerismus nicht genügend Widerstand entgegengesetzt usw. Darf ich eine Gegenfrage stellen? Besteht ein wenig Verständnis dafür, daß ich an jenen Märzabenden 1933 mich fragte, ob an dem Gerede, der Führer wolle Ordnung, er verurteile alle örtlichen Übergriffe usw., nicht doch etwas Wahres sei? Daß alles Tarnung, Irreführung . . . Lassen Sie mich den Satz nicht vollenden.

Daß Polizeikommissar Tarnowski mich zu meinem Schutz mehrere Wochen beschatten ließ, erfuhr ich erst später.

Eine Woche weiter, am 12. März 1933, fanden Kommunalwahlen statt. Ihr Ergebnis dürfte die Einstellung der Braunsberger Bevölkerung kurz nach der Reichstagswahl wohl am besten wiedergeben. Es erhielten in der Stadtverordnetenversammlung das Zentrum 13 Sitze, die NSDAP 7, die SPD 3 und die Kampffront Schwarz-Weiß-Rot 2. Die absolute Zentrumsmehrheit in den städtischen Körperschaften - so wurden Magistrat und Stadtverordnetenversammlung genannt - blieb erhalten. Dr. Heider war weiter Stadtverordnetenvorsteher.


Erste Schikanen gegen jüdische Mitbürger

Nach den Wahlen hingen überall und allerorts in den damals üblichen Mengen noch Wahlplakate. Die "intellektuellen Urheber", so wurden die Juden u. a. genannt, seien heranzuziehen, die Antinaziplakate zu entfernen. Die Behörden hätten nicht einzuschreiten. So erklang es von oben. Es bestand z. B. auch ein Erlaß, m. E. des Innenministers, Juden seien Organisationen der NSDAP zur Vernehmung zu überlassen. Es begann wie alles: "spontan" - auch in Braunsberg. Unter den jüdischen Mitbürgern, die die Plakate abreißen mußten, war auch Herr Wolff, der stadtbekannte Inhaber der Neustadt-Apotheke. Auf ihn hatten es SS und SA offensichtlich besonders abgesehen. Der stellvertretende Landrat und ich fuhren sofort nach Königsberg, um dort zu erklären, daß W. kein "intellektueller Urheber" sei. An drei Stellen wurde uns bestätigt, die Braunsberger NSDAP-Stellen seien fernmündlich unterrichtet worden, Wolff sofort freizulassen. Als wir nachmittags nach Braunsberg zurückkamen, war nichts geschehen, angeblich hätte man kein Ferngespräch erhalten. Wer hatte uns irregeführt? Wir konnten nur noch veranlassen, daß Wolff und andere Leidensgenossen sofort zu ihren Familien heimgehen konnten. Wir machten uns Vorwürfe, Zeit verloren zu haben, weil wir in Königsberg nach den Besprechungen nicht sofort zurückgefahren waren, sondern erst noch in einem Lokal gegessen hatten.

Wolff war ein angesehener Bürger, m. W. Mitglied einer kleinen demokratischen Partei, der damals auch der spätere Bundespräsident Heuss angehörte, ein vermittelnder Charakter und tüchtiger Geschäftsmann. Er wurde noch ein anderes Mal festgenommen. Er sollte vor der "Machtergreifung" in einem kleinen, geschlossenen Kreis eine beleidigende Bemerkung über eine Nazigröße (Horst Wessel?) gemacht haben. Wer hatte das aus dieser Gesellschaft wohl weitergetragen? Die SS verlangte unter Bezugnahme auf den erwähnten Erlaß, daß ihr Wolff zur Vernehmung übergeben werde. Zu spät erschien bei mir der Kreisleiter, der mir auf meine Frage sagte, der Erlaß regle nur die Vernehmung durch die SS, nicht die körperliche Überlassung, ich könne der SS den neben meinem Amtszimmer gelegenen Magistratssitzungssaal zur Vernehmung zuweisen, dann könne ich hören, wenn sich etwas ereigne. Ich muß gestehen, der Kreisleiter kannte seine Leute! Und ich mußte erst lernen, das hatte der preußische Beamte bisher nicht gelernt, Bestimmungen, Weisungen usw. "revolutionsmäßig" auszulegen. Aber schon war Wolff im SS-Lokal. Polizeikommissar Tarnowski und ich sind ein bis zwei Stunden um das Häuserquadrat, in dem das SS-Lokal lag, gegangen, um zu hören, was darin vorging. Es blieb alles still. Als Wolff zum Rathaus zurückgebracht worden war, bestätigte er mir, daß er nur befragt, im übrigen korrekt behandelt worden sei. Als ich bei anderer Gelegenheit von Kreisleiter P., es standen die zwei stolzen SS-Uniformierten H. und L. dabei, nach Wolff und sonstigen Juden befragt wurde, konnte ich nur antworten, ich hätte nicht in Wolffs Haus verkehrt, ich möchte mich nicht in Anwesenheit anderer äußern, die es anders gehalten hätten. Der Kreisleiter wie auch die Herren H. und L. verstanden!

An bestimmten Tagen standen auch in Braunsberg braune Posten mit großen Plakaten vor jüdischen Geschäften, so auch vor dem Hause, in dem ich wohnte. In seinem Erdgeschoß befand sich ein jüdisches Textilgeschäft, der Centralbazar. Einigen Braunhemden war, wenn ich vorbeiging, Unbehagen, anderen Fanatismus anzumerken.

Daß die Arbeitsbeschaffungsbemühen Berlins und Königsbergs in Braunsberg unterstützt wurden, war selbstverständlich. Öffentliche Vorhaben wurden unter mehreren Gesichtspunkten gesehen. Der Um- und Erweiterungsbau des Gymnasiums Hosianum diente auch der Beschäftigung Braunsberger Arbeitsloser. Die Bezirksschule des deutschen Arbeitsdienstes schaffte Arbeit und stärkte die Braunsberger Wirtschaft. Das neue Wasserwerk, heute würde man bei ihm von einer Förderung der "Lebensqualität" sprechen ("Heute" - das war im Jahre 1973, heute im Jahr 1976 redet kaum ein Mensch mehr davon, allenfalls noch ironisch. So rasch geraten Modewörter außer Kurs! ), war ebenfalls eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.


Hindenburgstraße und Adolf-Hitler-Platz

Zum 20. April 1933 (Zusatz für alle, die sich nicht mehr erinnern: "Führers Geburtstag") beschloß die Stadtverordnetenversammlung Straßenumbenennungen: die Neustädtische Marktstraße in Hindenburgstraße, der Neue Markt in Adolf-Hitler-Platz. Warum überhaupt - so könnte man heute vielleicht fragen - bei den gegebenen Mehrheitsverhältnissen (vgl. oben) Umbenennungen? Bei dem eigenen Konzilianz-, Toleranz- und Verhandlungsdenken hoffte man auf Entgegenkommen, auf Bereitschaft zur Zusammenarbeit bei anderen Fragen. Man lebte noch in demokratischen Gedankengängen.

Straßenbenennungen galten zudem als Polizeiaufgabe - also als sog. Auftragsangelegenheit. In Jahrzehnten hatte sich die Übung entwickelt, die Stadtverordnetenversammlung oder städtische Ausschüsse mitzubeteiligen. Es hätte also möglicherweise eine höhere Stelle.... Wir wollten aber die Straßen nicht nur nach Nazigrößen benennen. Damit nicht irgendwer von irgendwo eine verhetzende, verletzende Nazirede hielt, sagte ich die offiziellen Worte.

Die Ermländische Zeitung, die darüber berichtete, bringt im übrigen in der gleichen Nummer weitere aufschlußreiche Mitteilungen: die Oberlandesgerichtspräsidenten in Königsberg und Kiel beurlaubt, früherer Bürgermeister von Pillau in Schutzhaft genommen. Gerüchte über Unregelmäßigkeiten bei der Stadtverwaltung in Seeburg, Leiter der AOK in Mohrungen in Schutzhaft genommen, Beurlaubungen beim Magistrat in Ortelsburg, Straßenumbenennungen in Seeburg, Ortelsburg, Ehrenbürgerrecht für Hitler in Dt. Eylau. Das alles in einer Nummer; ob es an anderen Tagen weniger war?

Schulumbenennungen folgten. Hindenburgschule. Die uns heute geradezu absurd anmutenden Namen Katholische Adolf-Hitler-Schule und Evangelische Adolf-Hitler-Schule lassen Kompromißbemühungen verschiedenster Art erkennen, aber auch weitreichende Unklarheit und Unsicherheit.

Landräte im Ermland und anderswo wurden als "politische Beamte" abgesetzt, darunter der verdiente Landrat von Braunsberg Stankewitz. Pensionierungen politischer Beamter aus politischen Gründen waren auch nach 1918 erfolgt. So wurden die jetzigen Maßnahmen sehr bedauert, auch weitgehend abgelehnt - aber schlüssige Schlüsse auf die endgültigen Absichten des neuen Regimes (noch) nicht gezogen.

Die Beunruhigung der Bevölkerung aber stieg. Die Bezeichnung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 wurde in ihrem Zynismus erst erkannt, als ganz im Gegensatz zu ihr das Gesetz dazu benutzt wurde, einwandfreie Berufsbeamte aus ihren Stellungen zu vertreiben. Die Fragebögen zur Durchführung des Gesetzes bereiteten manchem große Schwierigkeiten, weil er bis dahin keine Familienforschung betrieben hatte. Der Volksmund sprach in dem Zusammenhang von der Jagd nach der arischen Großmutter. Einzelne Antworten auf den Fragebögen konnten ein Schmunzeln nicht verhindern, so wenn ein Pensionär die Frage nach früherer Parteimitgliedschaft damit beantwortete, er habe "seit 1927 NSDAP gewählt". Das sollte nun einer bei den geheimen Wahlen, die es von 1927 bis 1933 gegeben hatte, nachprüfen!


Eine teuflische Methode

Auf welch böse Weise damals Beamte "mürbe" oder "reif" gemacht wurden, mag ein Beispiel beleuchten. Ich fuhr 1933 von einer Sitzung in Königsberg zurück. Mit mir im Abteil saß der neue NSDAP-Bürgermeister einer anderen, nicht im Ermland gelegenen ostpreußischen Stadt. Ich kannte seinen bewährten Vorgänger und bemerkte, er habe doch eine geordnete Verwaltung übernommen. Er bestritt es nicht, meinte aber, er müsse noch den Leiter seines Haupt- und Personalamtes loswerden, gegen den an sich nichts vorliege, der ihm aber nicht passe, um die Stelle mit einem ihm genehmen Mann zu besetzen. Auf meinen erstaunten Einwand, das sei nach dem Beamtenrecht doch nicht möglich, die lächelnde Feststellung: Das sei ganz einfach! Er habe den Betreffenden beauftragt, jeden Abend seinen (des Bürgermeisters) Aktenbock auf das durchzusehen, was unbedingt am folgenden Tag erledigt werden müsse. Nun diktiere er alle paar Tage einen Aktenvermerk, der sich irgendwie kritisch mit dem ihm nicht genehmen Beamten befasse. Die Vermerke werfe er später in den Papierkorb. Wenn der Beamte aber die Vermerke mehrere Monate lang gesehen und gelesen habe, werde er schon selbst seine Pensionierung wünschen. Erst langsam, sehr langsam mußte man lernen, wie tief unser Deutschland gefallen war. Solch eine menschliche Unanständigkeit hatte man nicht für möglich gehalten.


Wer ging in die Partei?

Ich will in diesem Zusammenhang nicht im einzelnen darauf eingehen, aus welchen Kreisen nach meiner Ansicht die NSDAP ihre alten und neuen Mitglieder (man sprach von AK, WAK und URAK, "alten Kämpfern", "wirklich alten Kämpfern" und "uralten Kämpfern") gewonnen hatte und gewann.

Zwischenbemerkung: Das Jahr 1933 und Hitler sind - so meine ich, ohne mich in die Streitfrage der Historiker zu mengen - neben Versailles nicht ohne einen Blick auf die Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre und ihre Folgen auf Wirtschaftslage und Arbeitslosigkeit in Deutschland zu verstehen.

Entwurzelte, Verzweifelte, Landsknechtsnaturen, Phantasten, auch Idealisten, stets Unzufriedene, ständige Besserwisser, um Familie und Stellung und Beruf Besorgte, Bejaher überbewerteter Einzelfragen, Unter-Druck-Gesetzte usw., usw. suchten ihr Heil bei der Partei. Ich will aber auch nicht verschweigen, daß Nationalbewußtsein und Ordnungsverlangen mitsprachen. Die Weimarer Republik hatte gewiß in manchem versagt. "Mein Kampf" hatte kaum jemand gelesen.

"Märzgefallene", "Aprilhasen", "Maikäfer" waren damals geläufige Bezeichnungen. Nicht unbedingt als Schimpfwörter, eher als zeitgemäße Feststellungen. Die Partei drängte auf unterschiedliche Weise. Sie ließ verbreiten . . . , die Aufnahmelisten würden zu einer bestimmten Stunde geschlossen . . . hinterher . . . oh, die Folgen für Beamte . . . für Kleingewerbetreibende . . . für Geschäftsleute . . .

Auch mich rief im Frühjahr ein guter Freund an, ob ich mich schon angemeldet hätte, ich solle es doch tun, man wolle mich in Braunsberg behalten, um 6 (18 Uhr) würden die Listen geschlossen. Ich verneinte, er drängte. Ich sagte ihm nach längerem Gespräch, es sei inzwischen wenige Minuten vor 6 Uhr, ich könne gar nicht mehr rechtzeitig zur Geschäftsstelle kommen. Er darauf: Es sei alles abgestimmt, für mich werde die Hintertür noch bis 6 1/4 Uhr offengehalten. Das ist heute so mit einem Lächeln niedergeschrieben - aber damals? Ich habe die Hintertür nicht benutzt.

Die Reaktionen in der Bevölkerung blieben in jenen Tagen unterschiedlich. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Dazwischen bedächtiges Abwarten, ängstliches Tasten. Es wechselten Beispiele der Angst mit denen der Beherztheit. Meine verdiente Vorzimmerdame, Fräulein Charlotte Dawel, sagte mir eines Tages, Gräfin Lehndorff, dieGattin des Landstallmeisters, möchte mich sprechen. Ich sorgte mich, was da wohl wieder passiert sei. Sie begrüßte mich, sie wolle mir nur eben sagen, welche Achtung sie empfänden, daß ich nicht "gefallen" sei. Ich bedankte mich und dachte, man merkt die Tochter des Vaters. (Sie war die Tochter des witzgeladenen kämpferischen Kammerherrn von Oldenburg-Januschau, des Intimus von Hindenburg, der allerdings als überzeugter Monarchist in der Zeit der Weimarer Demokratie das Wort prägte: "Vox populi - vox Rindvieh". Er war ein Mann mit Rückgrat.)

Der Kampf um und gegen die katholischen Verbände und Jugendorganisationen begann in Braunsberg langsam und zurückhaltend. War es Taktik? Ein ermländischer Junglehrer im Westmünsterland erinnerte mich nach 1945 daran, daß die Stadt Braunsberg zwar nicht habe verhindern können, daß die katholische Jungmännerorganisation, der er angehörte, ihr Heim in einem städtischen Gebäude (Schulgebäude?) an die HJ habe abtreten müssen, daß die HJ aber auf Veranlassung der Stadt die Einrichtungs- und Sportgegenstände habe vergüten müssen. Das sei, wie er meinte, damals ein seltener Fall gewesen. Erwähnt sei auch, daß ich dem Führer des Jungbanns Ermland der HJ auf seinen Wunsch noch im November 1933 eine Besprechung mit Bischof Kaller über die religiöse Betreuung der im Jungvolk zusammengeschlossenen Jugend vermittelte.

Im Mai 1934 unternahm der HJ-Obergebietsführer G. A., Führer des Obergebietes Ost der Hitler-Jugend, "eine Fahrt durch Ostpreußen, einen Feldzug für die Einheit der deutschen Jugend". Eine Sonderillustrierte "Gegen Zwietracht - G. A.s Ostlandfahrt" berichtete darüber. A. sprach u. a. in Königsberg und Heilsberg. "Die katholischen Jugendverbände wollen sich ausschließen. Wir wenden uns gegen diese Saboteure . . . Die Gläubigen gehen in die Kirche, um von der Kanzel herab Gottes Wort zu hören, um sich der Allmacht zu beugen; Steine erhalten sie statt Brot, Hetzparolen statt innerer Erhebung." So in Königsberg, in Heilsberg etwas milder. Damit begann nach meiner Erinnerung die bisher zurückgehaltene Propaganda gegen Katholizismus und katholische Kirche. Es würde hier zu weit führen, näher darauf einzugehen, daß sich m. E. die NSDAP regional ihren Gegnern gegenüber unterschiedlich verhielt, ihre ersten Stöße galten dem regional stärksten Gegner und das waren in Ostpreußen nicht Zentrum und katholische Kirche. (Was wohl auch nicht ohne Bedeutung für die anfängliche Einstellung einiger Herren an der Staatlichen Akademie in Braunsberg war.) Es sollen auch Meinungsverschiedenheiten und Spannungen zwischen Erich Koch und Alfred Rosenberg bestanden haben.


Über allem die Parteihörigkeit

Zu einer politischen Angelegenheit, für mich aber auch zu einem Beispiel menschlicher, bürgerlicher Schwachheit in unruhigen Zeiten entwickelte sich die Auftragsvergabe beim neuen Grundwasserwerk. Drei Angebote von Spezialfirmen aus Berlin und Breslau und einer Königsberger Baufirma lagen vor. Unser städtischer Berater Dr.-Ing. Schimrigk aus Weimar riet zur Auftragsvergabe an die Breslauer Firma. Entsprechend wurde beschlossen. Am folgenden Vormittag Anruf auf Anruf aus Königsberg - Oberpräsidium, Regierungspräsidium, Industrie- und Handelskammer, Handwerkskammer, Gauleitung, weitere Parteistellen usw., usw., alle des gleichen Inhalts: Vergabe an eine nichtostpreußische Firma sei unmöglich. "Sabotage am Erich-Koch-Plan" gehörte noch zu den geringsten Vorwürfen.

Was das bedeutete, kann ermessen, wer das Jahr 1933 miterlebt hat. Wir lehnten eine Änderung des Beschlusses ab. Es kam zu einer Besprechung im Oberpräsidium in Königsberg. Nur höhere Beamte und sachverständige Herren nahmen daran teil. Dr. Sch. legte dar, daß das Angebot der Königsberger Firma aus technischen Gründen nicht hygienisch sicher sei, eine derartige Anlage solle eine Spezialfirma mit Spezialkenntnissen und Spezialmitarbeitern errichten. Er begründete das im einzelnen, mußte aber ihm bekannte Geschäftsgeheimnisse wahren. Er fand keine sachliche Gegendarstellung, aber trotzdem kein Verständnis. Der Erich-Koch-Plan, kein Auftrag außerhalb Ostpreußens, Beschäftigung der ostpreußischen Wirtschaft, Beschäftigung ostpreußischer Arbeiter waren die alleinigen Argumente. Ängstlich drückte sich jeder an den technischen, hygienischen, gesundheitlichen Gründen vorbei. Ich gab zu verstehen, dann sollten die Königsberger Stellen es schriftlich geben, die zuständigen Behörden könnten ja anweisen. Keiner war dazu bereit. Das müsse die Stadt Braunsberg selber wissen. Aber immer wieder: Der Erich-Koch-Plan sei zu beachten. Die Nervosität stieg. Ich betonte, die Stadt Braunsberg könne nicht das Risiko für eine Verunreinigung des Trinkwassers und eine sich möglicherweise anschließende Seuche, wie sie sich z. B. 1892 in Hamburg ausgebreitet habe, übernehmen, der Auftrag müsse daher nach Breslau gehen. Danach allgemeine, unheimliche Stille. Schon begann die Versammlung sich langsam aufzulösen, da bemerkte ich noch, auch die Stadt Braunsberg stehe zu dem Wunsch, die ostpreußische Wirtschaft zu fördern, sie werde - zumal im Rahmen des Erich-Koch-Plans mit weiteren Wasserwerken in Ostpreußen zu rechnen sei - mit ihrem Berater, der schon vorgefühlt habe, auf die Breslauer Spezialfirma einwirken, mit der Königsberger Firma einen Lizenz- oder Regionalvertrag abzuschließen. So könne nach unserer Meinung am besten der Sache wie dem Erich-Koch-Plan und der ostpreußischen Wirtschaft gedient werden.

Die bis dahin schweigsamen Sachkundigen sprangen auf, die Spannung löste sich, die beängstigende Stille verwandelte sich in einen Lärm der Erleichterung. Stühle rutschten, alles rief und lief durcheinander . . . Dr. Sch. und ich gingen zu einem nahe gelegenen Café, er schrieb eine Karte an seine Frau, sie brauche keine Pakete zu schicken. So teilte er ihr mit, daß seine Fahrt nicht im Konzentrationslager geendet sei. Aber was verstanden wir damals schon unter KZ? Erst viel, viel später kam die Kenntnis.

Unsicherheit herrschte auch anderswo. Im Frühjahr und Sommer 1933 war ich zweimal dienstlich in Berlin. Dabei suchte ich auch das Reichsgeneralsekretariat der Zentrumspartei auf. Es war wohl schon nach der üblichen Bürozeit. Die Putzfrau war verwirrt. Endlich fand ich ein besetztes Büro. Die Vorzimmerdame war unruhig. Als ich bemerkte, ich möchte einen der leitenden Herren sprechen, ich sei Erster Bürgermeister von Braunsberg und gehöre dem Zentrum an, meinte sie kurz angebunden: Das hätte ich, wenn ich noch im Amte sei, wohl nie zu erkennen gegeben. Der zuständige oder nichtzuständige Herr vermochte mir nichts Eindeutiges zu sagen, alles sei unklar. Aber Prälat S. habe neue Verbindungen zur NSDAP aufgenommen, man hoffe auf einige Klärung. Nicht schlauer denn vorher fuhr ich heim.

Ein anderes Bild: An der Hedwigskirche in Berlin hing die Hakenkreuzfahne, in Schneidemühl, wo ich die Rückfahrt kurz unterbrach, flatterten an Bischof Kallers ehemaliger Kirche Fahnen in kirchlichen Farben, an St. Katharina in Braunsberg wehte Schwarz-Weiß-Rot. Wie sollten wir jungen Katholiken uns da zurechtfinden?


Die Komödie der Haussuchungen

Die Zentrumspartei löste sich auf. Dem Beschluß vom 5. Juli ging vielerorts allerhand voraus. Am 1. Juli 1933 wurde ich fernmündlich zu einer Besprechung ins Landratsamt gebeten. Unter Vorsitz des stellvertretenden Landrats waren Beamte und NSDAP-Vertreter anwesend. Der Kreisleiter erklärte, wohl etwas bedrückt, es müsse festgestellt werden, ob Zentrumsmitglieder staatsgefährlich tätig gewesen seien und noch wirkten; dazu seien Haussuchungen notwendig - auch in Braunsberg. Allgemeines Schweigen und Unbehagen. Ich meldete mich zu Wort: Ich betrachtete mich als maßgebendes Zentrumsmitglied am Ort, die Haussuchungen müßten bei mir beginnen. Die Steine der Erleichterung meinte ich plumpsen zu hören, als ich mich selbst als erstes "Opfer" anbot. Der stellvertretende Landrat übernahm zunächst die Leitung der Aktion, an deren Durchführung Polizeibeamte sowie Mitglieder der NSDAP und ihrer Organisationen beteiligt waren. Am unglücklichsten fühlte sich der wirklich bedauernswerte Polizeihauptwachtmeister G., der bei seinem direkten Vorgesetzten eine Durchsuchung aus politischen Gründen mitmachen mußte. Sie begann im Fremdenzimmer. Nach einigen Blicken ins Zimmer wurde bedeutet, da sei ja nichts. Worauf ich erklärte, ich wisse, was eine Haussuchung sei, ich lege Wert auf Korrektheit, ich möchte nicht zu einem späteren Zeitpunkt hören, bei mir sei nicht ordentlich verfahren worden. Im Ofenrohr hinter dem Ofen könnten Schriftstücke versteckt sein. Wenn schon, dann verlangte ich Vollständigkeit und Gründlichkeit. Nun wurde also bis in alle Ecken, bis in die Ofenrohre nachgesehen. Eine Kleinigkeit blieb mir in Erinnerung. Auf meinem Nachttisch lag das Buch "Mein Kampf". Erstaunen, es bei mir zu finden. Worauf ich nur antworten konnte, ob es mir nicht erlaubt sei, das Buch zu lesen. Man fand Zentrumswerbeschriften, die ich aufbewahrt hatte, und beschlagnahmte "Im Westen nichts Neues". Der stellvertretende Landrat, der ja meine Haussuchung leitete - eine ihm sehr peinliche Situation -, schenkte mir später als "Ausgleich" ein Buch des Stahlhelmführers Seldte.

Übereinstimmend wurde nach der Durchsuchung meiner Wohnung festgestellt, sie habe nichts gegen mich und meine Amtsführung ergeben. Nun müßten die anderen Haussuchungen folgen, so bei Erzpriester Schulz und Professor Switalski. Die Parteivertreter meinten, ich als zuständige Ortspolizeibehörde müsse nun die Leitung übernehmen. Ich lehnte ab, was wohl selbstverständlich war. Mein Sträuben half nichts. Sie drängten. Eigenes Unbehagen? Der stellvertretende Landrat entschied. Ich sagte mir heimlich, vielleicht könne ich Schlimmeres verhüten, und erklärte mich bereit.

Zwischenbemerkung: "Vielleicht Schlimmeres verhüten." Eine Bemerkung, über die zur Erklärung, zur Begründung zur Verurteilung manches zu sagen bliebe. Ich habe mich darüber nach 1950 ausführlich mit niederländischen Freunden unterhalten, die aus ihrer Widerstandserfahrung Verstehen und Verständnis zeigten.

Hierzu eine kurze Bemerkung des Ermländischen Kalendermannes: Wie in meinem ganzen Leben konnte ich auch im Dritten Reich den Mund nicht halten und sagte "unklug" heute selbstverständliche Wahrheiten, statt sie "klug" zu verschweigen. Die Folge waren Schulverbot und öffentliche Beschimpfung, zweimalige Verhaftung und mehrfaches Durchsuchen der gesamten Wohnung. Ich weiß also aus eigener Erfahrung, welche Bedeutung dem Leiter eines solchen "Haus-Durchsuchungs-Trupps" zukam.

Die heutige junge Generation kann das nicht mehr wissen. Denn derlei Zustände sind ihr unbekannt (die verzerrenden Darstellungen eines Herrn Böll treffen den Tatbestand nicht). Als damals Betroffener möchte ich hier ausdrücklich sagen: Herr Bürgermeister Kayser handelte im Interesse aller Gegner des Nationalsozialismus, wenn er selbst die auch für ihn schreckliche Aufgabe übernahm, bei befreundeten Herren die Hausdurchsuchungen zu leiten.

Jeder frage sich nur selbst: Wenn schon eine Durchsuchung unabwendbar ist, wem würden wir unsere Wohnung lieber zeigen? Einem (meist böswilligen, oft heimtückischen) Feinde oder einem anständigen Menschen und lieben Bekannten?

Wir gingen, jetzt ohne den stellvertretenden Landrat, zunächst zur Erzpriesterei und dann zur Professorenwohnung. Ich teilte beiden Herren mit, daß bei Zentrumsanhängern Haussuchungen stattfänden, bei mir sei sie schon erfolgt, jetzt seien sie an der Reihe. Wer die beiden prächtigen Menschen gekannt hat, wird sich ihre sehr unterschiedliche Reaktion vorstellen. Schulz ganz Zurückhaltung, Ablehnung, Härte; Switalski Verbindlichkeit, Entgegenkommen, Höflichkeit. Die ganze Aktion, die ich rückblickend nur in das Kapitel "Absonderheiten in Revolutionszeiten" einordnen kann, verlief ergebnislos. Mit einer Besprechung am Abend, an der m. W. zeitweise auch der Oberstaatsanwalt teilnahm, fand der seltsame Tag seinen Ausklang. Das Protokoll des Landratsamtes, das mir später abschriftlich überlassen wurde, kann man heute nur mit einem leisen Lächeln lesen. Für mich war es beruhigend, daß an diesem Tage meine liebe Frau nicht daheim, sondern bei. ihrer Mutter in Berlin war.

In diesen Monaten wurde überraschend Stadtrat Ziegler verhaftet. Den allseitigen Bemühungen gelang es, ihm nach wenigen Tagen wieder die Freiheit zu verschaffen. Es war ihm nichts passiert. Er erzählte mir nachher, bei den Vernehmungen seien ihm manche begegnet, die früher einmal bei ihnen in der SPD gewesen seien. (Ziegler, der inzwischen verstorben ist, war nach dem Kriege in leitender Stelle in der Deutschen Postgewerkschaft tätig und Mitglied des Deutschen Bundestages.)

Das im Juli 1933 abgeschlossene Reichskonkordat wurde - abgesehen von der Partei und den Hundertfünfzigprozentigen - mit Zurückhaltung, Befremden, Bedrückung aufgenommen. Hatte sich der Vatikan nur abgefunden? Oder hatte er den Stempel seines Einverständnisses unter die "Machtergreifung" gedrückt? Waren die Nichteinverstandenen abgeschrieben? Wie war es in Italien Don Sturzo mit seinen Popolari ergangen? (Der Partito Popolare Italiano (Italienische Volkspartei) war 1919 von Don Luigi Sturzo gegründet worden. Er vertrat die Idee einer christlichen Demokratie und bildete als stärkste bürgerliche Partei zunächst mit den Sozialisten und 1922/23 auch mit Mussolini die Regierung. Durch die faschistische Wahlreform von 1924 verloren die Popolari über die Hälfte ihrer Sitze und lösten sich nach der Ermordung des sozialistischen Abgeordneten Matteotti 1924 auf, zumal sie sich nicht mehr der Unterstützung durch den Vatikan sicher zu sein glaubten. In der heutigen Democracia Cristiana (DC) fanden sie eine Nachfolgerin.) Mußte der einzelne Folgerungen ziehen? Bei den Katholiken wuchs die Unklarheit.


Ende der Arbeitslosigkeit

Am 21. Juli "meldete" der stellvertretende Landrat dem Gauleiter das Ende der Arbeitslosigkeit im Kreise Braunsberg. Damit endeten auch oder wurden übergeführt die "Fürsorgearbeiten", welche die Stadt Braunsberg jahrelang im Stadtwald, im Rodelshöfer Wäldchen, an der Passarge und sonstwo zur vorübergehenden Beschäftigung Arbeitsloser durchgeführt hatte.

Die tägliche Arbeit ging während des turbulenten Jahres wie gewohnt weiter. Sie blieb im großen und ganzen, von unangenehmen Ausnahmen abgesehen, von den politischen Ereignissen weniger behelligt. Der pflichtbewußten Arbeit aller Mitarbeiter und -innen sei auch an dieser Stelle dankbar gedacht.

Die großen Maßnahmen nahmen mich und sie stark in Anspruch. Ich deutete schon an: Braunsberg wieder werdende Garnisonstadt, Grundstücksbeschaffungen für Unterkünfte und Übungsgelände an der Stadtwaldchaussee und in Lisettenhof; die Bauarbeiten liefen bereits an. Der Um- und Erweiterungsbau des Gymnasiums Hosianum, wohl eine staatliche Schule, aber .die Stadtverwaltung daran in vieler Beziehung interessiert und beteiligt. Nicht immer einfache und angenehme Verhandlungen. (Über den Um- und Erweiterungsbau des Gymnasiums berichtete der Verfasser dieses Beitrages ausführlicher in dem Heft 19 der Braunsberger höheren Schulen (Ostern 1974, S. 15-19.) Dann der Ausbau der Bezirksschule des Deutschen Arbeitsdienstes im alten Kasernement an der Rodelshöfer Straße, auf das die Wehrmacht keinen Wert mehr legte. Freimachung, Umbauten; die Reithalle wird Sport- und Festhalle. Eröffnung im Januar 1934. Leitung, Stammpersonal, Schüler machten einen guten Eindruck. Ordnung in Zeiten der Unordnung. Für die Unterstützung durch die Stadt beim Schulaufbau hat sich die Bezirksschule beim Stadtjubiläum 1934 durch starke Beteiligung und Hilfe bedankt. Wir hielten die Bezirksschule für einen Gewinn der Stadt der Schulen, wie Braunsberg genannt wurde.


Erzpriester Schulz protestierte heftig

Episoden, ernste wie heitere, unterbrachen die sachliche Arbeit. Eine sei noch als "Zeitblitz" erwähnt. Die Wehrmachtfrage lief als "Geheime Reichssache". Im Februar, es war die Wahlkampfzeit, wurde das Gerücht verbreitet, auf Veranlassung des katholischen Erzpriesters habe der katholische Erste Bürgermeister, damit die Sittlichkeit in Braunsberg nicht gefährdet werde, die Errichtung einer Garnison verhindert. Erregt saß Erzpriester Schulz kämpferisch drängend - wer sich seiner erinnert, kann es sich vorstellen - in meinem Amtszimmer und verlangte Richtigstellung in der Zeitung. Ich mußte ablehnen und schweigen. Eine entsprechende Anfrage in öffentlicher Sitzung der Stadtverordnetenversammlung: Ich durfte wieder nichts sagen, aber auch nicht lügen. Es gibt Fälle, da nur eine fast scherzende Ausrede helfen kann. Und dabei lagen die Verträge bereits im Panzerschrank des Amtszimmers.

Ab und zu konnte man zweifeln, ob Ereignisse unter "Komik" oder unter "Zeitgeist" einzuordnen waren. So ist mir ein Hinweis in Erinnerung (ob von staatlicher oder Parteistelle, kann ich nicht mehr bestimmt sagen), daß der weibliche Vorname "Hitlerine" im Geburtsregister nicht eingetragen werden dürfe.

Unter den laufenden Arbeiten darf ich noch eine nennen, die damals von allgemeinem Interesse und mir besonders lieb war. Die Häuser an Braunsbergs Straßen waren üblicherweise Putzbauten, die in regelmäßigen Abständen eines Anstrichs bedurften. Kriegs- und Krisenzeiten hatten manche notwendige Renovierung verzögert. Das sich seit 1932 abzeichnende Ende der Weltwirtschaftskrise regte an. Wir wollten den Straßenzügen ein lebhafteres Äußeres geben. Farbe im Straßenbild! Regierungsbaurat Weyrauch, bewährter Leiter des Staatshochbauamtes, beriet Stadtbauamt, Hauseigentümer und Handwerksmeister. Seine Sach- und Fachkunde, seine gewinnende Verhandlungsführung führten zu schönen Ergebnissen.

Gern denke ich zurück an die Festfeier zum 350jährigen Bestehen der Kongregation der Schwestern von der hl. Katharina. Lichtpunkt der Humanität und Liebe in turbulenter Zeit.

Zu den in der Erinnerung erfreulichen Stunden zählt die Teilnahme am Reitkurs beim Landgestüt. Traben, Galoppieren, Voltigieren, Springen in der Halle und auf dem Reithof. Ausritte in die ermländische Landschaft. Obersattelmeister Wronn und die Hengste verlangten volle Aufmerksamkeit und ließen keine Gedanken an Dienst und Politik zu.


"Sie können nicht Führer sein!"

Die "Gleichschaltung" lief auch in Braunsberg mit steigendem Bemühen. Sie brachte Veränderungen in Organisationen, Vereinen und Vorständen nach dem "Führerprinzip". Ein Beispiel: Die Stadt förderte die bei der Berufsschule gebildete Segelfliegergruppe. Diese wurde übergeführt in die Fliegerortsgruppe des Deutschen Luftsportverbandes (DLV). Ich konnte nicht Vorsitzender oder, wie das damals hieß: Führer, bleiben oder werden, da "Sie nicht unseren Bedingungen entsprechen, nach denen nur Nationalsozialisten in führenden Stellen des DLV tätig sein dürfen; vielmehr hat sich auch die Kreisleitung der NSDAP . . . nicht einverstanden erklärt" (Schreiben der Landesgruppe vom 22. Januar 1934). Mit politisch unbedeutenden Posten wurde ich wohl noch belehnt, z. B. wurde ich Mitglied des Verbandsausschusses des Prüfungsverbandes und stellvertretendes Vorstandsmitglied des Gemeindeunfallversicherungsverbandes Ostpreußen. Von politisch bedeutsamen Stellungen aber wurde ich entbunden, so von der eines Dienststrafrichters bei der Dienststrafkammer. Was mir nicht unsympathisch war.

In der Fronleichnamsprozession hatten die städtischen Körperschaften wie bisher ihren Platz hinter dem Sanktissimum. Beim Schützenfest trug der Erste Bürgermeister zum Umzug eine besondere (man darf sagen: eine zweite) Amtskette, die heute neben der Bürgermeisterkette von der Patenstadt Münster aufbewahrt wird. Auf der Freilichtbühne im Stadtwald wurde in diesem Jahr "Das Nachtlager von Granada" von Konradin Kreutzer gegeben.

Im Oktober wurde das neue Gefallenenehrenmal am Stadtgraben, entworfen von dem eben genannten Regierungsbaurat Weyrauch, feierlich enthüllt. Ein würdiges Mahnmal an würdiger Stätte. Leider hatten sich die Verhandlungen und Vorbereitungen so hingezogen, daß die Fertigstellung erst im Jahr der "Machtergreifung" erfolgen konnte.

Der November brachte, verbunden mit der Volksbefragung zum Austritt aus dem Völkerbund, wieder eine Reichstagswahl. Es war keine Wahl im demokratischen Sinne mehr. Daher auch weitgehende Interessenlosigkeit.


Das Werk des Freiherrn vom Stein vernichtet

Das Jahr 1933 lief aus. Preußisches Gemeindeverfassungsgesetz und Gemeindefinanzgesetz vom 15. Dezember 1933 änderten die Gemeindeverfassung, beendeten die kommunale Selbstverwaltung, brachten das schon genannte "Führerprinzip". Es gab keine gewählte Stadtverordnetenversammlung, keinen gewählten Magistrat mehr. Als "Leiter der Verwaltung" führte der Bürgermeister die Verwaltung - selbstherrlich?! Ihm waren Beigeordnete beigegeben. Beraten sollten ihn Gemeinderäte, die "durch die Aufsichtsbehörde auf Vorschlag des Gauleiters" berufen wurden. Was das bedeutete, bedarf keiner Hervorhebung. Diese Gemeinderäte hatten ohnehin keinerlei Bestimmungs- oder Beschlußrecht. Staatliche Stellen beriefen Bürgermeister und Beigeordnete. Der Magistrat (in der sog. echten Magistratsverfassung) hatte sich aus ehrenamtlichen und hauptamtlichen Kommunalpolitikern zusammengesetzt, wobei die ehrenamtlichen in der Mehrzahl waren. Dieser Magistrat war als ein Kernstück der berühmten Städteordnung des Freiherrn vom Stein von 1808 ein sehr wichtiges Organ bürgerschaftlicher Selbstverwaltung. Seine Braunsberger Mitglieder in den Jahren 1930 bis 1933 seien hier in bester Erinnerung und mit herzlichem Dank für vertrauensvolle Zusammenarbeit genannt: Joseph Hinz (nach seinem zu frühen Tode ersetzt durch Dr. Artur Motzki), Emil Kotberg, Anton Restetzki, Eugen Schröder, Walter Wendel, Otto Ziegler, dazu die hauptamtlichen Mitglieder Zweiter Bürgermeister Fritz Lutz und ich.

 

Der Braunsberger Magistrat 1933: Schröder, Zweiter Bürgermeister Lutz, Wendel, Ziegler, Kolberg, Hinz, Restetzki, Erster Bürgermeister Kayser

Das 650jährige Stadtjubiläum 1934 warf seine Schatten voraus. Die Vorbereitungen mit ihrer Freude, aber auch ihrem Ach und Weh hatten begonnen und forderten Überlegungen, Zeit und Arbeit. Zu Weihnachten brauchte ich keinen kommunistischen Pflasterstein zu erwarten, aber . . .Ich rechnete wohl nicht damit, das Jahr 1934 in Braunsberg zu überstehen. Darum darf, ehe ich schließe, noch eine persönliche Antwort auf eine "Zusatzfrage" gestattet sein. Wie ich selbst, so werden wohl auch Sie gelegentlich gefragt werden: Warum wurde ich tatsächlich erst 1935 und nicht schon früher, schon 1933, abgesetzt? Der Umstand meiner "verspäteten" Absetzung hat sich sogar nachteilig für mich ausgewirkt. Wäre ich sofort 1933, so wurde in den folgenden Jahren angedeutet, abgesetzt worden, läge es klar auf der Hand, daß es politische Gründe gewesen seien. Aber erst 1935 - dann müsse doch etwas anderes vorliegen, mindestens hinzukommen. Mir sind Gründe nicht mitgeteilt worden. Eine Bescheinigung, daß ich aus politischen Gründen, nicht aus anderen, etwa ehrenrührigen, in den Ruhestand versetzt sei, wurde mir von den ostpreußischen Stellen verweigert.


Nicht vor der Saarabstimmung!

Ich selbst möchte Folgerungen aus zwei Gesprächen ziehen Herbst 1933 mit Kreisleiter P., 1934 bei der Bezirksregierung in Königsberg. Der Kreisleiter beantwortete meine an ihn gestellte Frage, weshalb ich nicht wie andere Kollegen abgesetzt worden sei, mir hätten sie leider nichts nachweisen können. Er ergänzte diese offene Antwort noch. Sie von der NSDAP seien genau informiert gewesen. Sie hätten u. a. eine Richtlinie ihrer Reichsleitung aus München gehabt, bei Wahlversammlungen in der "Kampfzeit" jedem gegen die NSDAP auftretenden Beamten Korruption usw. in seiner Behörde vorzuhalten, gegebenenfalls mit hohlen Andeutungen. Dann würde jeder Beamte schweigen, da sich in jeder Behörde im Laufe der Jahre mal irgendeine Kleinigkeit ereignet habe. Die Gauleitung Ostpreußen habe aber in einer Anmerkung streng untersagt, es bei mir zu versuchen . . . Das erinnerte mich an eine Bemerkung von Gauleiter Koch, den ich nur einmal sprach, als er im Herbst 1933 die Fahrt zum Bischofsbesuch in Frauenburg in Braunsberg unterbrach, "da habe selbst die Stadt Braunsberg einen Fehler gemacht": Die Stadt hatte die ehemalige Lederfabrik Freiberg nicht an einen Bekannten Kochs aus seiner Heimatstadt Wuppertal verkauft, wie er es gewünscht hatte, sondern an einen anderen Bewerber.

Die Besprechung im Sommer 1934 in Königsberg fällt nicht mehr in das Berichtsjahr, sie sei hier darum nur kurz angedeutet. Im Sommer 1934 ging wieder einmal das Gerücht um - von örtlichen Stellen ausgestreut? -, meine Absetzung stehe nun kurz bevor. Ich erkundigte mich bei der Bezirksregierung in Königsberg und erhielt die Auskunft, ich könne ruhig nach Braunsberg zurückfahren, vor der Saarabstimmung werde kein katholischer Bürgermeister, der noch im Amte sei, abgebaut werden. Im Januar 1935 fand die Saarabstimmung statt. Im März forderte das Innenministerium in Berlin meine Personalakte an. An einem Sonntag im Mai - ich saß in meinem Amtszimmer im Rathaus teilte mir meine Frau fernmündlich mit, sie habe soeben in der Zeitung gelesen, daß ich abgesetzt sei. Es war soweit.

Warum war man solange im Amt geblieben, warum beantragte man nicht selbst . . .? Trotz der Ahnung, später des Wissens, eines Tages doch . . .? Ich schrieb schon oben: um Schlimmeres zu verhüten. Zu häufig wurde man um Ausharren gebeten, nicht freiwillig einem Schlechteren Platz zu machen. Die Ansicht, nach wenigen Monaten habe das Nazisystem abgewirtschaftet, war anfänglich weit verbreitet. Ich will auch nicht verkennen, daß in jungen Jahren auch die Freude an der Arbeit, an den großen mir in Braunsberg gestellten Aufgaben mitspielte. Daß mit demokratischer Verhaltensweise diktatorischen, tyrannischen Praktiken nicht zu begegnen war, mußte meine Generation erst lernen. Nutzen die späteren Generationen Unsere Erfahrungen?

Mit einer Bemerkung darf ich diesen Brief beenden. Es ist in ihm nicht alles gesagt, was aus der Zeit zu sagen war. Zwei Bereiche vor allem sind in meinem Bericht bewußt ausgeklammert, obwohl gerade sie mich schon 1933 stark berührten: der Bereich Frauenburg (Bischof Maximilian Kaller und das Domkapitel) und der Bereich Staatliche Akademie in Braunsberg. Bei beiden möchte ich das Jahr 1933 nicht aus dem Zusammenhang der Jahre reißen; diese Trennung wurde schon an anderen Stellen sehr schwer.

Ich begann den Brief Ende Dezember 1973. Er veranlaßte mich, in den wenigen mir verbliebenen Papieren aus damaliger Zeit nachzuschauen. Mit welch eigenartigen Gefühlen liest man heute eigene Reden, Ansprachen vor vierzig Jahren! Der Brief reizte mich auch zum vergleichenden Blättern in Veröffentlichungen, die nach 1945 zur Zeitgeschichte geschrieben wurden. Jetzt zeigt das Kalenderblatt Mitte Februar 1974 an.

Die Niederschrift des Briefes wurde durch Spaziergänge zum Aasee unterbrochen, mit dem Blick auf die Domtürme, zu deren Füßen Prälat Kather ausruht. So wie ich einstmals zu den zwölf Aposteln an der Passarge wanderte. Beim Heimweg haftete hier der Blick auf St. Katharina und dem Rathaustürmchen. Ein Aquarell in meiner Wohnung erinnert mich täglich daran.

Es bleibt mir zu danken dem Herrn, der Seine schützende Hand hielt, meiner lieben Frau, vielen freundlichen, lieben Menschen aus jenen Jahren.

Es grüßt Sie in ermländischer Verbundenheit

Ihr

Ludwig Kayser

Mehr zur Geschichte Braunsbergs siehe "Braunsberg im Wandel der Jahrhunderte" von Franz Buchholz.


www.braunsberg-ostpreussen.de